Opfer und Täter von Hiroshima
Was ist 50 Jahre danach aus ihnen geworden?
von Sven Sohr
Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben. (Anders, 1982, S.66)
Gib die Menschen wieder.
Gib meinen Vater wieder und meine Mutter.
Gib meine Geschwister zurück.
Gib mir meine Söhne und Töchter.
Gib mir mich selbst zurück. Gib die Menschheit wieder.
Solange dieses Leben dauert, dieses Leben,
gib den Frieden wieder, der nie mehr endet.
Sankichi Toge
So leben wir also im Jahr 50! Runde Geburtstage pflegt man gewöhnlich zu feiern. Was werden wir tun? Werden wir uns erinnern? Kurz nachdem der Autor dieses Artikels angefragt wurde, ob er einen Überblicksbeitrag psycholgischer Forschung zu den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schreiben könne, fand er eine kleine Randnotiz in seiner Tageszeitung, überschrieben mit den Worten: „Japan gegen US-Atombomben-Briefmarke“ (Tagesspiegel, 4.12.1994, S. 32). Berichtet wird von einer dem US-Außenministerium übergebenen Note der japanischen Botschaft, in der Japan die USA auffordert, die Einführung einer Briefmarke mit einem Atombombenpilz zu überdenken. Das Bild des Atombombenpilzes ist unterschrieben mit „Atombomben beschleunigen Beendigung des Krieges, August 1945“. Dieser Vorfall, der an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten ist, verletzt nicht nur die tiefen Gefühle der japanischen Bevölkerung, er ist auch sachlich zumindest zu bezweifeln. – Aber wie so oft im Leben gerade dann am meisten in Bewegung gerät, wenn Menschen sich »betroffen« fühlen, wurde diese kleine Zeitungsnotiz zum emotionalen Anlaß des vorliegenden Versuchs, der Frage nach den Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki wissenschaftlich nachzugehen.
Im Zentrum des ersten Teils der folgenden »Erinnerung« stehen die Opfer, unter anderem die Untersuchungen des Psychiaters Robert Lifton über das Phänomen der »psychischen Taubheit« bei den Überlebenden. Psychologisch ebenso interessant, wenn es auch zynisch klingen mag, ist das »Schicksal« der Täter, um die es im zweiten Teil des Aufsatzes geht. Exemplarisch werden dabei ganz unterschiedliche Wege der »Verarbeitung« anhand zweier Hiroshima-Piloten beschrieben: Zum einen Paul Tibbets, der auch heute noch »absolut nichts« bedauert, zum anderen Claude Eatherly, der in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, um seine »Gewissensbisse« zu kurieren. Es ist das Verdienst des Philosophen Günther Anders, durch einen jahrelangen Briefwechsel mit Claude Eatherly auf dessen »Problem« aufmerksam gemacht zu haben. Da Günther Anders einer der ersten war, die sich wissenschaftlich mit den Folgen von Hiroshima auseinandersetzten und darauf reagierten, wird seinen Überlegungen zu den Konsequenzen der Katastrophe besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der letzte Abschnitt des Artikels mündet schließlich in der Frage, ob und inwiefern uns das Thema heute betrifft.
„Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt.“
In der Nacht zum 6. August 1945 starteten auf Tinian im Beisein von 100 Reportern sieben B 29-Bomber. Die ersten drei sollten eine Stunde vor der Hauptgruppe Japan erreichen und das Wetter über Hiroshima, Kokura und Nagasaki erkunden. Die fünf Tonnen wiegende Atombombe, von den Militärs »Little Boy« genannt, wurde in der von Oberst Tibbets befehligten und zu diesem Zweck extra umgerüsteten Maschine »Enola Gay« befördert. Zwei Bomber sollten diese Maschine begleiten; einer hatte den Auftrag, über dem »Objekt« Apparate zur Feststellung der Explosionsstärke abzuwerfen, und der andere sollte Foto- und Filmaufnahmen machen. Der siebente Bomber sollte nach Iwoshima fliegen, einer Insel auf dem halben Weg nach Japan, um einzuspringen, falls die Maschine Tibbets eine Panne haben sollte. Um 7.09 Uhr meldeten die Aufklärungsflüge, daß der Himmel über Hiroshima und Nagasaki wolkenlos sei. Von dem Flugzeug, das Kokura überflogen hatte, war die gleiche Meldung gekommen. Oberst Tibbets in der »Enola Gay« erhielt das chiffrierte Telegramm: „Empfehlung: erstes Objekt“. Um 8.13 Uhr erschienen über dem Himmel von Hiroshima die drei Flugzeuge. Um 8.14 Uhr öffnete sich die Bombenluke. Am wolkenlosen Himmel zeigte sich ein Fallschirm, an dem die fünf Tonnen schwere Atombombe rasch abwärts glitt. Um 8.15 Uhr, als die Bombe 580 Meter von der Erde entfernt war, schaltete der Zündmechanismus. Über Hiroshima blitzte eine zweite Sonne auf: eine Todessonne. Diejenigen, die Hiroshima überlebt haben, sprechen von einem tödlichen Licht, grell, stark, sich ständig verändernd. In Sekunden wurden ungefähr 80.000 Menschen vernichtet, von denen Überreste auffindbar waren. Weitere 14.000 Menschen verschwanden spurlos. Über 100.000 Menschen starben in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren.
Ein Mitglied der Besatzung der »Enola Gay« schreibt in seinen Erinnerungen: „Erst blitzte grell die Detonation, dann ein blendendes Licht, in dem die anrollende Explosionswelle zu sehen war, dann eine pilzförmige Wolke. Es sah aus, als ob über der Stadt ein Meer siedenden Teers brodelte.“ (vgl. Greune & Mannhardt 1982, S. 17f.). Die erste auf eine Stadt abgeworfene Atombombe war um ein Vielfaches vernichtender, als ihre Väter es vorausgesagt hatten. Eine Viertelstunde nach der Explosion ging von der »Enola Gay« ein Funkspruch zur Insel Tinian ab: „Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt. Empfehle sofort Vorbereitung der nächsten Aktion. Nach Bombenabwurf an Bord alles normal. Kehren zum Stützpunkt zurück.“ Kurze Zeit später ging die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas an den Panzerkreuzer »Augusta« weiter, auf dem der US-Präsident Truman von der Potsdamer Konferenz heimreiste. In seinen Erinnerungen schildert Truman diesen Moment so: „Am 6. August (…) kam die Nachricht, die die Welt erschütterte. Ich saß (…) beim Lunch, da brachte mir Hauptmann Frank Graham folgende Nachricht: 'An den Präsidenten vom Kriegsminister. Große Bombe abgeworfen (…) Erste Meldungen besagen: voller Erfolg, sogar noch größer als bei früherem Test`.“ Truman ließ Sekt bringen, hob sein Glas und sagte: „Gentlemen, wir haben soeben auf Japan eine Bombe abgeworfen, die die Sprengkraft von 20|000 Tonnen TNT hatte. Sie heißt Atombombe.“ Drei Tage später, am 9. August 1945, sollte sich in Nagasaki alles noch einmal wiederholen.
Medizinische Akut- und Spätfolgen der Atombombenopfer
Die medizinischen Akut- und Spätfolgen beschreibt Ohkita (1985). Die von den Atomwaffen hervorgerufenen akuten Verletzungen werden in thermische, mechanische und Strahlenverletzungen unterteilt. Am häufigsten waren allerdings Kombinationsverletzungen. Viele Menschen starben praktisch sofort an den Auswirkungen der Druckwelle und der Hitze, aber häufig erlagen die Menschen auch ihren Verletzungen, bevor sich die Strahlenkrankheit entwickeln konnte. Fast alle Menschen, die innerhalb von 10 Wochen starben, ließen Strahlenschäden erkennen.
Thermische Verletzungen (Verbrennungen): Auf dem Erdboden wurden bei den Atombombenexplosionen in Japan nach Schätzungen 3000-4000 Grad Celsius erreicht. Diese Hitze dauerte zwar nur ungefähr eine Sekunde an, dennoch betrug die Temperatur in jeweils über 1 km Entfernung der beiden Städte noch mehr als 573 Grad Celsius. So erlitten auch Menschen, die mehrere Kilometer vom Zentrum entfernt waren, tödliche Verbrennungen.
Strahlenwirkungen: Obwohl die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal dazu Gelegenheit gaben, die Auswirkungen einer massiven Bestrahlung bei Menschen zu beobachten, ist nur wenig über schwere Strahlenverletzungen bekannt, die sofort zum Tode führten, da diese Fälle nicht obduziert wurden. Zusätzlich verhinderte die große Zahl der Todesfälle und der Verletzungen in den ersten Tagen nach den Explosionen eine genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkungen. Als ein verläßliches Zeichen einer Strahlenverletzung wird Haarausfall angesehen. Das Haar fiel beim Kämmen in dichten Büscheln aus.
Bis heute konnte die genaue Anzahl der Opfer, die durch die Bomben getötet wurden, nicht ganz geklärt werden. Die Anzahl der Personen unter den Überlebenden, die durch Verbrennung, mechanische Traumen, Strahlen oder durch eine Kombination dieser Schädigungen verletzt wurden, sind ebenfalls geschätzt worden. In Hiroshima geht man von 60.000 Menschen mit Verbrennungen, 78.000 mit mechanischen Verletzungen und 35.000 mit Strahlenschäden aus. In Nagasaki belaufen sich die Zahlen auf 41.000 Verbrennungen, 45.000 mechanische Verletzungen und 22.000 Strahlenschädigungen. Alle diese Verletzungen können kombiniert vorgelegen haben.
Psychologische und soziale Folgen für die Atombombenopfer
Um eine Vorstellung von der gesamten Situation nach dem Atombombenangriff zu erhalten, muß man nicht nur die ungeheure Zahl von getöteten Menschen berücksichtigen, sondern auch die Familien, die zerrissen wurden, Alte und Kranke, Frauen und Kinder, die oft hilflos zurückblieben. Einige tausend Kinder wurden zu Waisen, die durchschnittliche Zahl der Todesfälle je Familie wird mit 2/3 angenommen (Greune & Mannhardt 1982, S.65).
Die Atombombe zerstörte nicht nur Familien, sondern auch andere Formen der Gesellschaft, sie riß benachbarte Menschen auseinander und führte zum Untergang traditioneller Nachbarschaftshilfe. Jene, die mit dem nackten Leben davongekommen waren, hatten nicht nur ihre Angehörigen verloren, sondern darüber hinaus auch Nachbarn und Freunde; das Zusammenleben in seiner Gesamtheit war gestört. Sie hatten in vielen Fällen schwer verletzte Menschen zurücklassen müssen, als sie in panischer Angst flohen, sie schüttelten Freunde ab und konnten Nachbarn im Feuersturm nicht helfen. Tiefe Schuldgefühle erfaßte die Überlebenden, die oft über Monate und Jahre in apathischer Resignation verharrten.
Die besondere Lage, in der sich die Atomüberlebenden befanden und heute noch befinden, hat dazu geführt, daß eine besondere Bezeichnung für sie entstanden ist: Man nennt sie »Hibakusha« (die direkte japanische Übersetzung lautet »explosionsgeschädigte Personen«). In Japan lebten 1981 rund 400.000 Hibakusha, von denen knapp 60% krank und körperbehindert sind. Jährlich werden den Totenlisten von Hiroshima und Nagasaki mehr als 2500 Opfer hinzugefügt, gestorben an den Folgen der Atombombenabwürfe. Zur besonderen Behandlung der Hibakusha sind spezielle Atombomben-Hospitäler eingerichtet worden.
Es war vor allem der amerikanische Psychiater Robert Lifton, der sich der Tragödie der Hibakushas annahm und Untersuchungen über die psychischen Auswirkungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki vorlegte. Lifton berichtet in seinem 1966 erschienenen Buch „Death in Life: Survivors of Hiroshima“ von einem Effekt der psychischen Taubheit (»psychic numbing«). Viele Menschen konnten sich nicht mehr an ihre Wahrnehmung erinnern: Was sie wahrnahmen, hielten sie für einen Blitz oder ein plötzliches Gefühl der Hitze, gefolgt von Bewußtlosigkeit.
Ein Lehrer mittleren Alters, der sich etwa 5000 Meter vom Zentrum entfernt befand, beschreibt seine Gefühle angesichts der Zerstörung. Es wird deutlich, wie Schuldgefühle gegenüber den Toten die psychischen Abwehrmechanismen durchdringen und sich schmerzhaft bemerkbar machen: „Ich ging in die Stadt, um meine Familie zu suchen. Irgendwie wurde ich mitleidlos, weil ich sonst nicht durch die Stadt hätte gehen und über die vielen Leichen steigen können. Am beeindruckendsten war der Ausdruck in den Augen der Menschen – ihre Körper waren schwarzverfärbt – ihre Augen blickten suchend umher, nach jemandem, der kommen und ihnen helfen würde.(…) Ich suchte nach meiner Familie und schaute jeden an, den ich traf, um zu sehen, ob sie oder er ein Familienmitglied war. Doch die Augen – die Leere – der hilflose Ausdruck – dies alles werde ich nie vergessen können (…) Ich nahm die Enttäuschung in ihren Augen wahr. Sie schauten mich erwartungsvoll an und blickten durch mich hindurch. Ich konnte es kaum ertragen von ihren Augen angestarrt zu werden (…).“ Der Lehrer nahm durch die Augen der anonymen Toten und Sterbenden eine Anklage seiner Unterlassung und seiner Schuld wahr, daß er ihnen nicht half, daß er sie sterben ließ, daß er »egoistischerweise« am Leben blieb.
Die Überlebenden litten nicht nur daran, daß die Menschen, die sie umgaben, starben, sondern auch an deren Todesart: eine brutale Art schnellen körperlichen Verfalls, die mit den normalen und »würdigen« Formen des Todes nichts mehr zu tun hatte – eine Tatsache, die im übrigen auch für jüdische KZ-Opfer von großer Bedeutung war. Darüber hinaus sind die Überlebenden von Hiroshima über die allgemeine Besorgnis und die Kontroverse über die negativen genetischen Auswirkungen der Atombombenexplosion informiert, die meisten von ihnen befürchten in der Tat negative Folgen für die nachfolgenden Generationen. Dies wiegt umso schwerer gerade in der ostasiatischen Kultur, die die Ahnenreihe und die Kontinuität der Generationen als den Hauptzweck des menschlichen Lebens und – zumindest symbolisch – als Weg zur Unsterblichkeit betont.
Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß die Atombombe das Dasein der Überlebenden sowohl in ihren eigenen Augen als auch in der Wahrnehmung anderer Menschen völlig verändert hat. Durch die unmittelbare Erfahrung und durch die späteren Erlebnisse wurden die Überlebenden Mitglied einer neuen psychosozialen Gruppe. Auf die Frage an die Überlebenden, was sie mit dem Wort »hibakusha« assoziierten, und was sie dabei fühlten, drückten sie in Liftons Untersuchungen ohne Ausnahme das Gefühl aus, daß sie zur Übernahme dieser neuen Existenzform gezwungen seien und diese trotz aller Bemühungen nicht mehr ablegen könnten.
Die Überlebenden scheinen nicht nur das Ereignis erlebt zu haben, sondern es auch einschließlich seiner Schrecken, seiner Folgen und besonders seines tödlichen Charakters in ihre Existenz aufgenommen zu haben. Sie fühlen sich gezwungen, sich mit den Toten zu vereinigen. Die Identität der Hibakusha wird symbolisch zu einer Identität der Toten, die sich durch die besonders starke japanische Fähigkeit zur Identifizierung und durch die besondere Form der Schuldgefühle für das Überleben noch verstärkt. Dieses vorherrschende Gefühl wird außerdem noch durch die Wahrnehmung der Überlebenden geprägt, als Versuchskaninchen benutzt worden zu sein, da sie die Opfer des ersten »Experiments« mit Atomwaffen geworden sind. Sie leiden unter der Wahrnehmung, daß sie die schlimmste der von Menschen erzeugten Katastrophen erlebt haben, und darunter, daß zur gleichen Zeit ihre persönlichen Erfahrungen durch die fortschreitende weitere Entwicklung und Erprobung schrecklichster Waffen sinnlos erscheinen.
Was für die Opfer (nicht) getan wurde…
Unmittelbar nach den beiden Atombombenangriffen kapitulierte die japanische Regierung. Nun sprach die offizielle Propaganda von „Opfern für den Frieden“ und unterdrückte zugleich alle Nachrichten über die Lage der Hibakusha. Nach der Kapitulation Japans im September 1945 machten sich sogleich die ersten amerikanischen Untersuchungskommissionen auf den Weg nach Hiroshima. Die Siegermacht USA wollte möglichst schnell die Auswirkungen der neuen Bombe in den beiden betroffenen Städten kennenlernen. Was die Fachleute dem Oberkommando zu berichten hatten, veranlaßte die amerikanischen Militärs unverzüglich zum Handeln. Über Hiroshima und Nagasaki wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Nicht einmal Gedichte und Zeichnungen, die in den ersten Jahren nach der Explosion entstanden, passierten den amerikanischen Zensor, geschweige denn solche Erfahrungen, wie sie die »Kinder von Hiroshima« später aufgeschrieben haben. Erst als die USA und Japan 1951 den Friedensvertrag von San Francisco unterzeichnet hatten, wurde die Nachrichtensperre aufgehoben.
So makaber es klingt, aber die Leiden der Opfer, ihre Krankheiten und Schmerzen stellten für die amerikanische Atomwissenschaft ein unerschöpfliches Reservoir für Forschungen dar. Um die Untersuchungen möglichst systematisch zu betreiben, richteten die Amerikaner 1949 in Hiroshima eine Kommission für Atombombenopfer ein (»Atomic Bomb Casualty Commission«, kurz ABCC), ein Institut, das die wichtigsten Daten über die in Hiroshima in Verbindung mit der Atombombe auftretenden Krankheiten gesammelt hat. Seit Anfang der fünfziger Jahre sind japanische Ärzte und Wissenschaftler ebenfalls daran beteiligt; die gewonnenen Forschungsergebnisse werden zweisprachig veröffentlicht.
Weitgehend unerforscht bis auf den heutigen Tag sind allerdings die möglichen Folgen der Bestrahlung für die menschliche Erbmasse. Beschädigungen der Chromosomen können noch in der zweiten oder dritten Generation zu Mißbildungen führen. Mit dieser Angst müssen die 367.000 anerkannten Atombombenopfer in Japan leben, diese Angst bestimmt ihr Leben. Zu den möglichen Veränderungen der Erbmasse heißt es bei Hoffmann (1980): „Die Genetiker sind sich darüber einig, daß eine Verdoppelung der genetischen Effekte ernsthafte Folgen für die Bevölkerung eines Landes haben wird. Bereits eine addierte Strahlenzufuhr von 30 bis 80 Röntgen über die 30 Jahre einer Generation könnte diesen verheerenden Effekt hervorrufen. Hierzu ist nur eine vergleichsweise beschränkte Anzahl an Atomexplosionen in einem Nuklearkrieg nötig. Schon 750 Sprengungen von je 20 MT (Megatonnen) reichen aus, um die gesamte Menschheit genetisch zu entstellen.“
Die ABCC hatte nicht die primäre Funktion, den Überlebenden zu helfen. Auch von Seiten der japanischen Regierung aus waren die gesetzlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Hibakusha völlig ungenügend. Die meisten von ihnen sind in einen Teufelskreis aus Armut und Krankheit geraten, aus dem sie sich selbst nicht befreien können. Infolge ihres schlechten Gesundheitszustandes sind sie nur begrenzt arbeitsfähig. Im Jahre 1952 trat zwar in Japan ein Gesetz über Entschädigungen von Kriegsschäden in Kraft, schloß Hibakusha jedoch mit der Begründung aus, es handele sich hierbei um Zivilisten, die nicht unter den Verordnungen dieses Gesetzes erfaßt würden. So gründeten im gleichen Jahr die beiden Schriftsteller Toge und Tamashiro in Hiroshima eine Organisation, die 1953 zu der Entstehung eines „Hiroshima City Council“ führte.
Mit Hilfe einer landesweiten Spendenaktion und Geldern der Regierung in Tokio konnte drei Jahre später endlich ein Hospital für die Überlebenden des nuklearen Holocaust eingerichtet werden. Viele tausend Patienten erhielten seitdem von Spezialisten von Strahlenkrankheiten und anderen Fachärzten eine medizinische Behandlung. Noch mehr warteten allerdings vergeblich auf einen Platz im Atombombenkrankenhaus; die einen weil das Hospital ausgelastet war, die anderen, weil sie die Kosten für die Behandlung nicht aufbringen konnten. Im Jahre 1982 waren 150 Atombombenkranke im Hospital untergebracht. Das Durchschnittsalter der Dauerpatienten betrug 71 Jahre, der jüngste Patient war 36 Jahre alt – er wurde bereits im Mutterleib bestrahlt (Vinke 1986, S. 97).
Ein Gesetz über die Behandlung der Atombombenopfer wurde erst im Jahre 1957 beschlossen. Zwölf Jahre vergingen also, bis erste Versorgungsregelungen für die Hibakusha durchgesetzt werden konnten. Bis 1968 mußten die Überlebenden warten, um eine unentgeltliche ärztliche Betreuung zu bekommen. Trotz allem ist auch heute noch die materielle Situation der Hibakusha mehr als unbefriedigend. Alljährlich sterben viele, denen es bis heute nicht gelang, eine bescheidene Rente zu erhalten.
Um so erstaunlicher ist es, daß zahlreiche Atombombenüberlebende den Mut und die Kraft fanden, auf zahlreichen internationalen Konferenzen, u.a. schon 1955 auf der ersten Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben, Zeugnis von ihren Leiden abzulegen. Das Engagement der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki ist bis heute beispielhaft für die weltweite Mobilisierung gegen die Atomrüstung. Im Jahre 1978 reisten z.B. 500 von ihnen zur ersten Sondertagung der Vereinten Nationen zur Abrüstung nach New York und übergaben 32 Millionen Unterschriften zur Ächtung der Atombombe. Sofern es ihre Gesundheit erlaubt, bereisen sie andere Länder, um von ihrem Schicksal zu berichten und die Öffentlichkeit für atomare Abrüstung zu mobilisieren.
Über die Hiroshimapiloten Paul Tibbets und Claude Eatherly
Das vorangehende und mit „Hiroshima“ betitelte Gedicht trifft zumindest auf Oberst Tibbets zu, der sich als der Atombombenpilot, der die Bombe letztendlich »ausklicken« ließ, mehrere Male zu seinem Einsatz am 6. August 1945 geäußert hat. Zeichen von Reue, Scham oder Mitgefühl ließ Tibbets dabei nicht erkennen. Dafür ließ er sich mit Überlebenden fotographieren, als Beleg einer makaberen »Versöhnung«. Die folgenden Gesprächsauszüge sind der Zeitschrift „Metall“ vom 26. August 1981 entnommen (Vinke 1986, S. 110ff.):
“Frage: Wie denken Sie heute über die Bombardierung von Hiroshima und über Ihren Auftrag – bedauern Sie es?
Tibbets: Ich bedaure überhaupt nichts. Zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs war ich von seiner Notwendigkeit überzeugt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. (…)
Frage: Hätten Sie nicht 'nein` sagen können?
Tibbets: Das hat man mich schon oft gefragt. Aber nun frage ich Sie: Was wäre wohl geschehen, wenn jemand in der deutschen Wehrmacht zu Hitler 'nein` gesagt hätte? Ich bin als Soldat aufgewachsen, bin dazu erzogen worden, Befehle von kompetenter Autorität zu befolgen. Und damals bekam ich meine Instruktionen von allerhöchster Stelle. (…)
Frage: Seit Jahren wird am 6. August auf der ganzen Welt der Hiroshimaopfer gedacht. Haben Sie ein schlechtes Gewissen an diesem Tag?
Tibbets: Nein. Damit halte ich mich nicht auf. Darüber denke ich nicht nach. All das ist Vergangenheit. Hiroshima ist Geschichte. Es war eine Lektion, gewisse Dinge konnte man daraus lernen. Aber es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muß ich eher darüber nachdenken als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit."
Diese Worte sprechen für sich. Sie bedürfen eigentlich kaum noch einer Kommentierung – oder vielleicht doch? Wie ist das Ausbleiben jeglicher Humanität und Moral zu erklären? Oder ist sein Gehorsam nicht völlig »normal« gewesen? Diese Fragen wären einen eigenständigen Aufsatz wert<0> <>! Psychologisch sei an dieser Stelle nur an das zigfach replizierte Milgram-Experiment (1974) erinnert, bei dem weit über die Hälfte aller (männlichen<0> <>!) Versuchspersonen von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre (simulierten) Opfer mit einer tödlichen Stromstärke von 450 Volt zu bestrafen. Bei interkulturellen Vergleichsstudien war die Quote derjenigen, die bis zur vollen Bestrafung tendierten, in Deutschland übrigens am höchsten (Mantell 1971). Insofern macht die rhetorische Gegenfrage Tibbets bezüglich Nazi-Deutschland bei aller Absurdität sogar noch Sinn.
Auch Major Claude Eatherly saß im Flugzeug, das am 6. August 1945 die Bombe abwarf. Jungk schreibt zum Anblick eines Photos von Eatherly (Anders 1982, S. 196ff.): „Wer das Photo des jungen Claude Robert Eatherly betrachtet, des Kriegsfreiwilligen, der sich zur amerikanischen Luftwaffe meldete, sieht in das Gesicht des typischen amerikanischen »clean cut boy«. Es steht noch nicht viel darin geschrieben, aber das Wenige scheint alle Lesebuchtugenden wiederzugeben: Gradheit, Mut, Sauberkeit und Unschuld. Tausende und Tausende solcher Milchbärte sind damals zu den Waffen geeilt, um für »decency and democracy« gegen die Barberei des Nationalsozialismus zu kämpfen. Der Student Eatherly durfte, als er von der Lehrerbildungsanstalt in die Kaserne hinüberwechselte, noch daran glauben, daß Freiheit und Menschlichkeit sich mit Waffengewalt verteidigen ließen.“
Es wird erzählt, daß Major Eatherly nach dem erschütternden Erlebnis Hiroshima tagelang mit niemandem mehr gesprochen habe. Man nahm das jedoch auf dem Inselstützpunkt Tinian, wo der Flieger mit seiner Bombertruppe auf die Demobilisierung wartete, nicht besonders ernst. »Battle fatigue« – »Schlachtenmüdigkeit« hieß dieser Zustand. Von ihm wurde mancher befallen, und Eatherly selbst hatte schon einmal im Jahre 1943, nach 13 Monate langem, ununterbrochenem Partouilliendienst im südlichen Stillen Ozean an solcher nervlichen Erschlaffung gelitten. Damals hatte er sich schon nach vierzehntägiger Behandlung in einer New Yorker Klinik wieder erholt, und auch diesmal schien er ziemlich bald wieder zu dem Geisteszustand zurückzukehren, den man unter den Veteranen des Pazifiks als »normales Benehmen« in Ruhezeiten betrachtete: stundenlanges Pokern, unterbrochen von Flüchen, Witzen und Reminiszenzen.
Bald nach der Abmusterung, nach Hause zurückgekehrt, versuchte Eatherly – wie alle um ihn herum – zu vergessen, Geld zu verdienen, sich seinem Privatleben zu widmen. Er arbeitete als Angestellter eines Petroleumkonzerns in Houston, wo er es bis zum Verkaufsdirektor brachte. Tagsüber ging er ins Büro, abends besuchte er eine weiterbildende Schule, um Rechtswissenschaft (!) zu studieren. Seit 1943 war Eatherly verheiratet mit einer jungen Schauspielerin, die er während seiner Ausbildungszeit in Kalifornien kennengelernt hatte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sich die beiden stets nur ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen lang sehen können. Nun führten sie endlich ein etwas normaleres Leben mit Haus, Garten, Kindern und bescheidener sozialer Aufstiegschance.
Doch das war nur die eine Seite seines Lebens; in den Nächten quälten den Kampfflieger zunehmend Ängste und die Schatten von Gesichtern. Noch konnten ein paar Drinks die Depressionen und ein paar Pillen die Schlaflosigkeit verscheuchen. Doch schon bald genügten so einfache Beruhigungsmittel nicht mehr. Eatherly meinte in seinen Träumen die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima Verbrennenden zu sehen. Im Gegensatz zu Paul Tibbet litt Claude Eatherly unter der Schuld, als Mitglied der Flugzeugbesatzung mitverantwortlich einen Befehl ausgeführt zu haben, der zur Auslöschung einer Stadt und eines Großteils ihrer Bewohner führte. Sein Schuldbekenntnis mußte in einer Zeit, als man die Kriegsheimkehrer in Amerika als Helden feierte, verhindert werden. Eatherly begann an Depressionen zu leiden und versuchte 1950, sich das Leben zu nehmen, nachdem er von der Planung der Wasserstoffbombe erfahren hatte, die den Effekt der Hiroshima-Bombe noch um ein Vielfaches übertreffen sollte. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Militärhospital, der keine Veränderung seines depressiven Zustands bewirkte, beschloß er, das nationale Leitbild des Kriegshelden an Hand seiner eigenen Person zu dementieren. Er beging geringfügige Delikte, schickte gefälschte Schecks an Anti-Atom-Organisationen in Hiroshima und unternahm einen bewaffneten Raubüberfall, bei dem er das erbeutete Geld unangetastet liegenließ. Klinikaufenthalte und Gerichtsverhandlungen wechselten sich ab, bis er 1959 auf Veranlassung seines Bruders für längere Zeit eingewiesen wurde. Jungk (1961, S. 13) kommentierte den »Fall Eatherly« wie folgt: „Immerhin hat Major Eatherly etwas erreicht, das er sich vornahm. Es ist ihm schließlich doch gelungen, die Öffentlichkeit auf seinen »Fall« aufmerksam zu machen. Allerdings reagierte sie zunächst auf die Nachrichten über den »verrückten Piloten von Hiroshima« ganz anders, als Eatherly gehofft hatte. Er wollte die Menschen aufrühren, aber er rührte sie nur.“
In diese Zeit fiel der berühmt gewordene 70 Briefe umfassende Schriftwechsel mit dem Philosophen Günther Anders, der sich zu einer wahren Brieffreundschaft entwickelte, die für beide Seiten sehr wertvoll wurde. Als Eatherly die Nervenklinik verlassen hatte, verstärkte sich seine Korrespondenz mit zahlreichen Persönlichkeiten und Gruppen, die ein Ende des Rüstungswettlaufs forderten. Sein Engagement wurde von den Behörden als psychischer Defekt interpretiert und führte abermals zu einer Einweisung ins Hospital, diesmal auf eine geschlossene Abteilung. In dieser Situation durfte Eatherly auch keine Briefe mehr nach draußen schicken. Im Herbst 1960 floh er aus dem Hospital, versteckte sich bei Freunden und beschloß, nach Mexico auszuwandern. Im Dezember 1960 wurde Eatherly jedoch von einer Polizeistreife aufgegriffen, nachdem kurz zuvor eine Großfahndung ausgelöst worden war, und erneut in das Militärhospital eingewiesen. Eatherly gelang 1962 noch einmal die Flucht aus dem Hospital. Obwohl die zuständigen Behörden Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatten, reagierten sie nicht mehr. Der Briefwechsel zwischen Eatherly und Anders wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – er erschien in politisch so unterschiedlichen Ländern wie dem francistischen Spanien und der Sowjetunion.
Unter allen Teilnehmern an den beiden Atombombardements war Claude Eatherly wohl der einzige, der der Versuchung widerstand, sich als Held feiern zu lassen. Für Anders (1982, S. 359) war er „der erste, der das Kennzeichen unserer Epoche in die Sprache persönlichen Lebens übersetzt hat – der erste, dessen persönliches Leben ausschließlich von den Gegebenheiten und Ängsten des Atomzeitalters bestimmt worden ist –, der erste, der es abgelehnt hat, mit dem Verhalten konform zu gehen, das eine konformistische Gesellschaft fordert –, der sich selbst darauf beschränkt hat, zu warnen statt sich darauf zu verlegen, die Gefahr zu verharmlosen, zu übertreiben oder Nutzen aus ihr zu ziehen, wie man es von uns erwartet. (…) Der Fall Eatherly ist nicht überholt, er ist vielmehr Inbegriff und Verkörperung des Gewissens in einer Welt, deren Millionen damit eingelullt werden, daß man ihnen weismacht und sie auch selber glauben, die Folgen ihrer Handlungen seien nicht ihre Sache.“
Zur Gefahr eines Atomkrieges in den 90er Jahren
Auf längere Sicht muß man (…) erwarten, daß die Zahl der atomar bewaffneten Mächte – jetzt sind es die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China – zunimmt. Die Gefahr eines Atomkriegs und die Wahrscheinlichkeit ernsthafter Folgen für Klima und globale Ökologie würden sich dann enorm vergrößern.
Crutzen/Hahn 1985, S. 233
Am Ende dieses Artikels steht die Frage, was diese Gefahr eigentlich qualitativ für Konsequenzen nach sich zieht. Nach 1945 mußte die Welt begreifen lernen, daß tatsächlich eine neue Epoche angebrochen war. Der Physiker Albert Einstein, selbst an der Entwicklung der Bombe beteiligt, sprach bald darauf den bemerkenswerten Satz aus (vgl. Gottstein 1986, S. 51): „Im Zeitalter der Nuklearwaffen braucht die Menschheit ein substantiell neues Denken, wenn sie überleben will.“ Das neue Denken ließ jedoch auf sich warten. Seit Hiroshima und Nagasaki wurden weit mehr als 1000 Atomtestexplosionen durchgeführt, Hiroshima und Nagasaki sind millionenfach reproduzierbar und potenzierbar geworden. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, war der Philosoph Günther Anders einer der ersten, der die Bedeutung von Hiroshima und Nagasaki in ihrer ganzen Dimension erkannte. Anders begriff dieses Ereignis als »Tag Null einer neuen Zeitrechnung«, als das Ereignis, von dem aus alles anders sein würde. Denn diese Taten bewiesen, daß die Menschheit die Fähigkeit besitzt, sich selbst – und noch mehr – auszulöschen. Dieses ungeheure Vorkommnis, dessen Dimensionen erst allmählich sichtbar wurden, stellten den Auftakt der globalen Bedrohung der Menschheit dar. Dieses neue Zeitalter wurde nicht nur von Anders als »Endzeit« bezeichnet. Denn selbst wenn es gelingen sollte, diese Erde eines Tages wieder atomwaffenfrei abzurüsten, kann das Wissen, was einmal erdacht wurde, nicht wieder aus dem Gedächtnis der Menschheit verbannt werden.
An Szenarien über die Bedeutung eines Atomkrieges heutzutage mangelt es nicht. Die direkten Auswirkungen auf uns Menschen, d.h. die physischen und psychischen Folgen, sind wiederum auf erschütternde Art und Weise bei Lifton (1985, S. 283ff.) beschrieben: „Versuchen Sie sich einmal 100 Millionen oder mehr Tote und ein riesiges mit tödlicher Radioaktivität verseuchtes Gebiet vorzustellen (…).“ Die Szenen würden an das erinnern, was wir aus Science-Fiction-Filmen kennen. Das Zielgebiet, karg und verlassen, würde einer Mondlandschaft gleichen, und die wenigen Überlebenden hätten die Fähigkeit verloren, sich gegenseitig zu helfen oder zu trösten. Es gäbe niemand, um die Verwundeten zu pflegen oder sie in Krankenhäuser zu bringen, es gäbe gar keine Krankenhäuser, kein Morphium und keine Antibiotika mehr. Auch könnte niemand die Überlebenden mit dem Vertrauen in die Kontinuität des Lebens erfüllen, die gerade Katastrophenopfer so dringend benötigen. Sie würden erkennen, daß alle Menschen und alle Dinge, die ihnen jemals etwas bedeutet haben, zerstört worden sind. Und niemand der Überlebenden würde in der Lage sein, dem grundlegendsten aller menschlichen Rituale zu folgen, nämlich die eigenen Toten zu bestatten. Lifton schließt (1985, S. 288): „Die so oft gestellte Frage, ob die Überlebenden die Toten beneideten, hätte eine einfache Antwort: Nein, die Überlebenden wären solcher Gefühle gar nicht mehr fähig. Sie würden die Toten nicht so sehr beneiden als ihnen, innerlich und äußerlich, sehr ähnlich.“
Sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde (vgl. Boehnke et al. 1988, Sohr 1993) belegen, daß Ängste vor einem Atomkrieg in den 80er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sehr verbreitet waren und daß diese Bedrohungsgefühle auch in den 90er Jahren nicht aus den Köpfen völlig verschwunden sind. So hält fast jeder zweite der befragten Jugendlichen einen Atomkrieg „in der Zukunft“ für „ziemlich wahrscheinlich“. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig Widerstand sich in den letzten Jahren gegen diese negativen Zukunftsaussichten regte, insbesondere auch gegenüber den auf Jahrtausende bestehenden Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Anders (1987, S. 13f.) vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß wir Heutigen „im Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“ leben. Angesichts der Größe der uns umgebenden Gefahren gelänge es uns nicht, adäquat zu reagieren, wir seien geradezu »Analphabeten der Angst« und »apokalypseblind«. Aus diesem Grund postuliert Anders, unsere Mitmenschen „zur Angst zu erziehen“.
Als psychologisch bedeutsam scheint sich zu erweisen, was Lifton als »psychische Abstumpfung« bezeichnete (vgl. oben). Obwohl das Phänomen dem psychologischen Mechanismus der Verdrängung und im Verhalten der Apathie ähnelt, stellt diese Abstumpfung dennoch eine spezielle Reaktionsform auf eine überwältigende äußere Bedrohung dar. Die psychische Abstumpfung, die durch die Katastrophe von Hiroshima erzeugt wurde, beschränkt sich nicht nur auf die Opfer selbst, sie erstreckt sich auch auf die Menschen, die sich mit dem Ereignis beschäftigen. Unsere Unfähigkeit, uns den Tod vorzustellen, der ausgefeilte Mechanismus der Verdrängung und das tiefe innere Bedürfnis des Menschen, für sich den Anschein der Unsterblichkeit zu erwecken, sind allgegenwärtige Hindernisse beim Nachdenken über den Tod.
Dieser Artikel wurde mit der Intention geschrieben, an der Überwindung dieser Abwehrmechanismen zu arbeiten. Falls wir der Gefahr, in der wir heute schweben, überhaupt begegnen können, dann wohl nur, wenn wir bereit sind, uns die Folgen eines atomaren (und ökologischen) Infernos auch nur ansatzweise vorzustellen. Von dieser Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Widerstandes ist, hängt möglicherweise das Überleben der Menschheit ab. Wenn wir dagegen weiterhin der Verdrängung Vorschub leisten, waren alle Worte umsonst, wie Jungk mahnt (1982, S. 195): „Millionen Worte sind seit 1945 von westlichen Fachleuten über die »Effekte der Kernwaffen« geschrieben worden. Dennoch klafft in dieser umfangreichen Literatur eine ganz wesentliche Lücke. Wohl haben Sachverständige Tausende von Trümmern, Zehntausende von Überlebenden der großen Katastrophe genauestens untersucht, aber sie schlossen etwas sehr Wichtiges von ihren so gründlichen Studien aus: sich selbst.“
Literatur
Anders, G. (1982), Hiroshima ist überall. München: Beck.
Anders, G. (1987), Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck.
Boehnke, K., Meador, M., Macpherson, M.J., Petri, H. (1988), Leben unter atomarer Bedrohung – Zur Bedeutung existentieller Ängste im Jugendalter. Gruppendynamik 19 (4), 429-452.
Crutzen, P.J. & Hahn , J. (1985), Schwarzer Himmel. Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt. Frankfurt: Fischer.
Gottstein, U. (1986), 40 Jahre nach Hiroshima: Teststop – unser aller Chance. In T. Bastian, Wir warnen vor dem Atomkrieg. Dokumentation zum 5. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung des Atomkriegs in Mainz. Neckarsulm: Jungjohann.
Greune, G. & Mannhardt, K. (1982), Hiroshima und Nagasaki. Köln: Pahl-Rugenstein.
Hoffmann, H. (1980), Atomkrieg – Atomfrieden. München.
IPPNW (1985), Last Aid. Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges. Neckarsulm: Jungjohann.
Jungk, R. (1961), Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek: Rowohlt.
Komitee zur Dokumentation der Schäden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki (1988), Leben nach der Atombombe. Hiroshima und Nagasaki 1945-1985. Frankfurt/Main: Campus.
Lifton, R.J. (1966), Death in Life: Survivors of Hiroshima. New York: Basic Books.
Lifton, R.J. (1985), Psychologische Auswirkungen der Atombombenabwürfe. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 48-68). Neckarsulm: Jungjohann.
Lifton, R.J. & Erikson, K. (1985), Überlebende eines Atomkrieges: Psychologischer und sozialer Zusammenbruch. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 283-288). Neckarsulm: Jungjohann.
Mantell, D.M. (1971), Das Potential zur Gewalt in Deutschland. Eine Replikation und Erweiterung des Milgramschen Experiments. In: Der Nervenarzt 5, S. 252-57.
Milgram, S. (1974), Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek: Rowohlt.
Ohkita, T. (1985), Medizinische Auswirkungen in Hiroshima und Nagasaki. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S.69-107). Neckarsulm: Jungjohann.
Sohr, S. (1993), „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“. Seelische Gesundheit junger Menschen im Zeichen globaler Katastrophen. FU Berlin: unv. Diplomarbeit.
Vinke, H. (1986), Als die erste Atombombe fiel. Kinder aus Hiroshima berichten. Ravensburg: Otto Maier.
Sven Sohr ist Diplom-Psychologe und arbeitet zur Zeit an einer von buntstift/Regenbogen e.V. geförderten Dissertation über ökopolitisches Engagement von Kindern und Jugendlichen. Dienstanschrift: TU Chemnitz-Zwickau, Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, 09107 Chemnitz (Fax: 0371-5613925).