Opium fürs Volk?
26. Wissenschaftliche Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie, 28.-30.6.2013, Bremen
von Klaus Boehnke und Judith I. Heptner
Am letzten Juniwochenende fand in Bremen zum 26. Mal die wissenschaftliche Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie e.V. (FFP) statt. Als Mitveranstalter fungierte die Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS). Unterstützt wurde die Tagung auch durch einen Zuschuss der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (dgvt).
Die seit 1988 jährlich durchgeführte Fachtagung fand diesmal unter dem Motto »Opium fürs Volk oder Hort sicherer Bindung: Zur Rolle von Religion in internationalen und innergesellschaftlichen Konflikten« statt. Sie wurde im Interesse einer vollständigen Einbindung internationaler Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Gänze in englischer Sprache durchgeführt.
Die Auswahl des Themas hatte ihren Ursprung in der sehr lebhaften und kontroversen Rezeption der Studie »Lebenswelten junger Muslime in Deutschland«, an deren Erstellung langjährige Mitglieder des FFP [Frindte (Federführung) und Boehnke] maßgeblich beteiligt waren. Das Motto der Tagung und die Verknüpfung sowohl mit der erwähnten Studie als auch mit dem Forschungsprogramm der BIGSSS ließ es naheliegend erscheinen, Schlüsselreferate nicht nur aus dem engeren Kreis der Friedenspsychologie einzuladen: »Keynotes« wurden gehalten von Dr. Naika Foroutan, Humboldt-Universität zu Berlin, »Muslims in Europe – Changing and Challenging European Identity«; Prof. Dr. Shiva Khalili, Universität Teheran, »Enhancing Compassion and Morality in the 21st Century«; Dr. Riem Spielhaus, Universität Erlangen-Nürnberg, »Quantifications of Muslims as a Tool of Modern State Administration« und Prof. Dr. Stefan Huber, Universität Bern, »Opium, secure attachment, and much more: The opposing roles of religion in the perspective of a psychological model of religiosity«.
Stefan Huber stellte eine umfassende, psychologische und soziologische Dimensionen integrierende Konzeptualisierung von Religiosität vor, deren Nützlichkeit er anschließend auf der Basis von Daten des Religionsmonitors demonstrierte. Verschiedene religiöse Orientierungen der schweizer Bevölkerung ließen sich in ganz unterschiedlichen Wertepräferenzen verankern, die von Konservatismuswerten (Tradition, Konformität) bis zu Offenheitswerten (Selbstbestimmung, Stimulation) reichten.
Der Vortrag von Riem Spielhaus beschäftigte sich u.a. mit der Frage, inwieweit eine quantitative Erfassung der Verbreitung des Islams in Westeuropa zur Isolierung und Diskriminierung von MigrantInnen beiträgt. Sie plädierte dafür, religiöse Kategorien in vergleichenden Studien ausschließlich dann zu nutzen, wenn es um den Vergleich von Religionen (Muslime, Hindus, Christen, Buddhisten, etc.) geht, nicht aber, wenn Migrantinnen und Migranten im Mittelpunkt der Forschung stehen, bei denen die religiöse Orientierung nur eines von vielen Merkmalen ist.
Shiva Khalili gab einen menschheitsgeschichtlichen, evolutionstheoretisch angelegten Überblick über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion und wies der Religion im Wesentlichen die Rolle zu, für bis zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt wissenschaftlich nicht Erklärbares eine Deutung zu anzubieten und auf diese Weise das Furchtpotential der Natur und des Unerklärlichen für Menschen zu reduzieren.
Naika Foroutan beschäftigte sich mit der Frage, in welcher Weise die Tatsache, dass in Europa seit einigen Jahrzehnten eine stabil hohe Anzahl von Muslimen lebt (aktuell gut 40 Millionen, um 2030 wohl knapp 60 Millionen) die Identität Europas verändert und sowohl bei Muslimen als auch bei der autochthonen Bevölkerung zu Hybrididentitäten führt.
Insgesamt nahmen an der Jahrestagung knapp 60 Interessierte teil. Das Programm umfasste neben den eingeladenen Vorträgen insgesamt 24 Beiträge von Referentinnen und Referenten aus zehn Ländern. Präsentationen mit unmittelbarem Bezug zum Motto der Jahrestagung beschäftigten sich mit Fragen der Bedeutung von Religion in den Bereichen Fertilität, Gerechtigkeit am Arbeitsplatz, politisch motivierte Gewalt, islamistische Radikalisierung, Akkulturation, Homosexualität, Bedrohungswahrnehmung, Vorurteile, Identitätsentwicklung und – besonders prominent – im Kontext der Messung (und Verbreitung) von religiösem Fundamentalismus. Medienanalysen aus der oben erwähnten Lebenswelten-Studie und zu deren Rezeption wurden ebenfalls vorgestellt. Neuropsychologische Erkenntnissen zur etwaigen Lokalisation des »Bösen« waren ebenso ein Thema wie sozialtheologische Überlegungen und ein klinisch-psychologischer Bericht aus der Trauma-Arbeit im Kosovo.
Jenseits des Mottos der Tagung gab es weitere freie Vorträge zum palästinensisch-israelischen Konflikt, zu Besatzungskindern in Deutschland und zur Entwicklung nationaler Identität im Kulturvergleich.
Ein besonderer Höhepunkt der Tagung waren die Verleihung des diesjährigen Gert-Sommer-Preises (GSP) für friedenspsychologische akademische Abschlussarbeiten und der Vortrag der Preisträgerin. Der Preis ging an Dr. Mariska U. Kappmeier von der University of Massachusetts, Boston, die den Preis für ihre an der Universität Hamburg verteidigte Dissertation zum Thema »Where is the Trust? – Conflict and Trust Assessment between Large-Group Conflict Parties for 3rd Parties Conflict Intervention« erhielt, die den Konflikt Moldova/Transnistrien thematisiert.
Anlässlich der Jahrestagung wählte das Forum Friedenspsychologie einen neuen Vorstand, dem nunmehr neben dem Ehrenvorsitzenden Gert Sommer J. Christopher Cohrs (1. Vorsitzender), Miriam Schroer-Hippel (2. Vorsitzende), Karl-Günther Theobald (Kassierer), Jost Stellmacher und Monika Lauer-Perez (die für den nicht mehr kandidierenden bisherigen Vorsitzenden Klaus Boehnke nachrückte) angehören.
Schon zum zweiten Mal (nach der 24. Jahrestagung in Bielefeld) fand anlässlich der Wissenschaftlichen Jahrestagung ein offenes Mitgliedstreffen des International Network of Psychologists for Social Responsibility (InPsySR) statt, zu dem Miriam Schroer-Hippel (FFP) und Jancis Long (PsySR-USA) einluden. Es wurden zwei neue Mitgliedsorganisationen aus Pakistan und Dänemark in das Netzwerk aufgenommen. Diskutiert wurden zukünftige Möglichkeiten der Vernetzung zwischen den Mitgliedern durch einen Newsletter, die Weiterentwicklung der Website und die Vergabe von Praktika.
Die 27. Wissenschaftliche Jahrestagung wird 2014 in Jena zum Thema Rechtsextremismus/NSU stattfinden.
Klaus Boehnke und Judith I. Heptner, FFP