W&F 2020/4

Palästinas Weg zu Freiheit und Frieden

von Mustafa Barghouti

Die schlimmste Form der Unterdrückung ist die geleugnete Unterdrückung. Die schlimmste Form der Unterdrückung verweigert den Unterdrückten das Recht auf Widerstand. Das ist heute die Situation der Palästinenser*innen.

Israel und die US-Regierung leugnen die militärische Besatzung durch Israel, mittlerweile die längste in der Geschichte der Neuzeit.

Der palästinensische Widerstand wird von Israel und den USA fälschlich als Terror, Gewalt oder Aufwiegelung eingestuft. Solidarität mit den Palästinenser*innen wird häufig als Antisemitismus dargestellt, und verantwortungsbewusste Jüd*innen, die sich für Rechte der Palästinenser*innen einsetzen, werden als »selbsthassende Jüd*innen« bezeichnet.

Obwohl die Palästinenser*innen den höchsten Bildungsgrad und die niedrigste Analphabetenrate in der arabischen Welt aufweisen, haben sie aufgrund der israelischen Beschränkungen des Zugangs zu ihrem Land und Wasser, zu ihren natürlichen Ressourcen und Grenzen eine der höchsten Arbeitslosenquoten unter gebildeten jungen Menschen weltweit.

Die wenigsten wissen, dass ein*e Palästinenser*in im Durchschnitt nur 50 Kubikmeter Wasser im Jahr verbrauchen darf, während israelische Siedler*innen in den völkerrechtswidrigen Siedlungen pro Person 2.400 Kubikmeter im Jahr zur Verfügung haben – Wasser aus den palästinensischen Wasservorkommen in der West Bank.

Viele wissen nicht, dass die meisten großen Verbindungsstraßen, die die besetzte West Bank kreuz und quer durchziehen, nur von Israelis benutzt werden dürfen. Fährt ein*e Palästinenser*in auf diesen Schnellstraßen, so kann sie*er mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden.

Die Palästinenser*innen haben schon alle Formen des Widerstands ausprobiert, vom militärischem Widerstand über friedliche Demonstrationen bis hin zu Diplomatie und Verhandlungen.

Auch nach 72 Jahren besetzt Israel Land mit militärischer Gewalt, baut seine illegalen Siedlungen aus und bereitet die Annexion großer Teile der Fläche vor, die in den Friedensabkommen im Rahmen einer Zweistaatenlösung als Territorium eines palästinensischen Staates ausgewiesen war.

Gleichzeitig drängt die US-Regierung unter Preisgabe der Rechte der Palästinenser*innen auf die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten. Dabei wird versucht, das Kernproblem der Konflikte im Nahen Osten zu marginalisieren: die palästinensische Frage.

Die Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain untergraben die arabische Friedensinitiative, die jegliche Normalisierung mit Israel an die Beendigung der Besatzung und die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates geknüpft hat.

Die Palästinenser*innen wissen um die Machtasymmetrie zwischen ihnen und der rechtspopulistischen israelischen Regierung. Aber sie wissen auch, dass es keine Option ist, vor der Besatzung und einem System der Occupartheid zu kapitulieren. Die palästinensische Jugend wird sich einem System der Unterdrückung und Diskriminierung niemals unterwerfen.

Wir haben aus früheren Erfahrungen gelernt und verstehen die Bedingungen, unter denen wir heute leben. Daher haben sich die Mehrheit der Palästinenser*innen und die meisten politischen Parteien entschieden, auf gewaltfreien Widerstand zu setzen. Hier folgen sie dem Beispiel Martin Luther Kings und Gandhis und ihren Befreiungskämpfen.

Die Palästinenser*innen sind verzweifelt ob der Vielzahl an Fakten, mit denen Israel die Option auf einen unabhängigen palästinensischen Staates zunichte machen will, aber sie geben nicht auf. Vielmehr sind viele Palästinenser*innen umso überzeugter, dass ihre Freiheit entweder in einem unabhängigen Staat, der die West Bank, Ostjerusalem und den Gazastreifen umfasst, oder auf dem Boden des historischen Palästina und unter der Bedingung vollständiger nationaler und rechtlicher Gleichstellung erreicht werden muss. Solange sie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit garantieren, sind für die meisten Palästinenser*innen beide Lösungen akzeptabel.

Es hängt von Israel ab, welche Variante umgesetzt wird. Dazu müssen aber alle Israelis verstehen, dass rassistische Diskriminierung von Palästinenser*innen weder heute noch in Zukunft akzeptabel ist. Darum ist gewaltfreier Volkswiderstand heute so wichtig für die Palästinenser*innen: um Frieden und eine bessere Zukunft für Palästinenser*innen wie für Israelis zu schaffen.

Mustafa Barghouti ist Arzt, Menschenrechtsaktivist und Kämpfer für die Demokratie. Er ist Gründer und Vorsitzender der »Palestinian National Initiative« und gewähltes Mitglied des Palästinensischen Legislativrats.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/4 Umwelt, Klima, Konflikt – Krieg oder Frieden mit der Natur?, Seite 5