W&F 1995/1

Pazifismus im Zeichen neuer Gewalt. Zehn Thesen

von Karlheinz Koppe

(1) Radikalpazifistisches Verhalten ist die eindeutigste Alternative zu militärischer Gewalt. Da in der Regel solches Verhalten nur die Einzelperson in ihrem Gewissen verpflichten kann (religiös oder humanistisch motivierte Ethik), bedarf pazifistisches Verhalten, um politisch relevant zu werden, zusätzlicher rationaler Begründung und pragmatischer, auf den Einzelfall bezogener Handhabung. In jedem Fall bedeutet pazifistisches Verhalten die Ablehnung einer Doppelmoral, die individuelles Töten unter Strafe stellt, kollektives Töten im Kriege dagegen rechtfertigt.

(2) Zum Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts ist pazifistisches Verhalten in besonderer Weise geboten, weil durch die anhaltende Fortentwicklung von Massenvernichtungswaffen – auch nach Beendigung der Ost-West-Konfrontation – Technologien und Fähigkeiten des Menschen, die gesamte Zivilisation vernichten zu können, weiterhin zunehmen. Hinzu kommt, daß durch die Zunahme der Weltbevölkerung Nischen, in die sich früher Menschen in Kriegs- oder Notzeiten zurückziehen konnten, kaum noch vorhanden sind.

(3) Wer für pazifistisches Verhalten eintritt, muß den Faktor »menschliches Versagen« und die Existenz aggressiver Staaten in Rechnung stellen. Es wird immer ein gewisses Ausmaß an individueller und kollektiver Gewalt geben, mit der gewaltarm umzugehen wir lernen müssen. PazifistInnen sind nicht gegen strafrechtliche Verfolgung von Delikten, die gegen andere Personen oder ganze Personengruppen begangen werden, und folglich auch nicht gegen rechtsstaatliche »Ordnungskräfte« (Polizei).

(4) PazifistInnen setzen sich deshalb vorrangig für Friedenswahrung durch staatliche und internationale Rechtsordnungen ein, die auf einen gerechten Ausgleich von Lasten und Pflichten gegründet sein müssen. Gewalt eindämmen zu wollen, ohne die Ursachen von Gewalt anzugehen, ist illusionär und zynisch. Demokratie allein macht nicht satt. Menschen brauchen und erwarten Nahrung, Wohnung, Kleidung, Arbeit und vor allem Lebensperspektiven.

(5) Aus pazifistischer Sicht ist Militär ungeeignet, gewaltsame Konflikte beizulegen, auch nicht kurzfristig oder als sogenannte ultima ratio. Militärische Gewalt erweist sich in der Regel nicht als das geringere, sondern als das größere Übel. Allein schon das Denken in militärischen Kategorien beeinträchtigt – oder verhindert sogar – nichtmilitärische, politische, zivile Chancen des Konfliktaustrags.

(6) PazifistInnen können darauf verweisen, daß Krieg inzwischen geächtet ist. Was heute als »Kriege« bezeichnet wird, sind in Wirklichkeit ethnonational aufgeheizte soziale Gewalteruptionen in politischen Umbruch- und/oder wirtschaftlichen bzw. ökologischen Elendsregionen. Militärische Interventionen sind sinnlos, weil sie die Ursachen dieser Gewalteruptionen nicht beheben. Abhilfe können nur wirtschaftliche und soziale Maßnahmen zur Selbsthilfe schaffen.

(7) Pazifistisches Verhalten ist auch gerechtfertigt, weil Militär in der Regel politisch überholte Ordnungen verteidigt. »Patriotismus« hat die gleiche Wurzel wie »Patriarchat«. Die damit verbundenen Herrschafts- und Machtansprüche werden durch Militär – unabhängig von jedem »Verteidigungsauftrag« – gestützt. Überdies fröhnt Militär wie jede Großorganisation einem ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Dieses traditionelle Strukturmuster bremst oder verhindert Reformen und kreativ-kritisches BürgerInnenverhalten. Stattdessen sind Zivilcourage und – im Grenzfall – ziviler (staatsbürgerlicher) Ungehorsam gefragt.

(8) Pazifistisches Handeln kann sich auf die friedfertige Gesinnung großer Mehrheiten der Bevölkerungen stützen. Diese werden in Krisensituationen oft von nur wenigen machtbesessenen und korrupten Akteuren manipuliert, instrumentalisiert und von aufgabenlosen Soldatesken terrorisiert. PazifistInnen sind darum bemüht zu untersuchen, was Frieden bewirkt, um mittels solcher Erkenntnisse zu verhindern, daß Friedfertigkeit in Aggressivität umschlägt, und um Wege zu finden, gewalttätige Minderheiten in ihre Schranken zu weisen. Prinzipien der sozialen Verteidigung können dabei hilfreich sein.

(9) Instrumente pazifistischen Handelns sind präventive Maßnahmen und Vermittlung in konkreten Konfliktfällen (Mediation). Die dazu bereiten Personen, Institutionen und humanitären Organisationen haben Anspruch auf Schutz, den zu gewährleisten Aufgabe internationaler Polizeikräfte ist, die dazu besonderer Ausbildung bedürfen (Sprache, Konfliktkenntnis, Konfliktverhalten, administrative Fähigkeiten usw.). Das Konzept der Blauhelme ist spätestens seit der Militärintervention in Somalia diskreditiert. In den Fällen, in denen Blauhelme erfolgreich waren, hätte ein Erfolg ebenso durch internationale Polizei, Beobachtermissionen und zivile Friedensdienst, erzielt werden können; in den Fällen, in denen sie nicht erfolgreich waren, hat ihnen ihr militärisches Potential nichts genutzt.

(10) Pazifistisches Handeln setzt ein hohes Maß an Erziehung zum Frieden voraus. Diese darf sich nicht allein am Gewaltverzicht orientieren; sie muß auch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gerechtigkeit einbeziehen, die durch Wahlen oder Marktwirtschaft allein nicht verwirklicht werden. Kein Frieden ohne Recht und Gerechtigkeit!

Zur Verabschiedung von Karlheinz Koppe

Im Dezember des vergangenen Jahres verabschiedete sich Karlheinz Koppe als Leiter der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn. Wohl keine/-r seiner Kolleginnen und Kollegen, die mit ihm im Laufe der Jahre zu tun hatten, werden davon sprechen wollen, daß er in den »wohlverdienten Ruhestand« ging. Er selbst sicherlich auch nicht, denn allein schon seine Wahl – justamente – als Generalsekretär der International Peace Research Association (IPRA) signalisiert, daß er andere Aufgaben, aber nicht unbedingt die (sicherlich wohlverdiente) Ruhe sucht.

Schon das aus dem Anlaß seiner Verabschiedung von der HSFK am 16. Dezember in Bonn veranstaltete Kolloquium machte deutlich, daß nicht nur Karlheinz Koppe nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben seiner Berufung als Friedenswissenschaftler weiterhin verpflichtet ist, sondern auch, daß seine ihn tragende und oft von ihm vorgetragene und vertretene Idee und Überzeugung des Pazifismus trotz aller Unkenrufe auch heute noch (oder gerade heute wieder) von großer Bedeutung für die Friedenspolitik sind, bzw. sein könnten.

Um dies deutlich zu machen und aus Anlaß seiner Verabschiedung, drucken wir hier die „Zehn Thesen zum Pazifismus im Zeichen neuer Gewalt“ von Karlheinz Koppe ab. Entnommen sind sie der Festschrift für ihn „Dem Humanismus verpflichtet. Zur Aktualität pazifistischen Engagements“ (hrsg. von Thomas Dominikowski und Regine Mehl, agenda Verlag, Münster 1994).

Karlheinz Koppe

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/1 Atomwaffen abschaffen, Seite