W&F 2009/3

Peter-Becker-Preis 2009

Laudatio von Dieter Senghaas

von Dieter Senghaas

Im Rahmen der diesjährigen Verleihung des Peter-Becker-Preises am 29. Mai 2009 in Marburg hielt Prof. Dr. Dieter Senghaas die Laudatio auf den Preisträger, das Projekt »Peace Counts on Tour«. Wir veröffentlichen Auszüge.

I.

In der in den meisten deutschen Apotheken monatlich neu ausliegenden Zeitschrift für die älteren Menschen unter uns, dem »Senioren-Ratgeber«, findet sich im April 2009 ein Interview mit dem allenthalben bekannten Schauspieler Mario Adorf, der im kommenden Jahr 2010 seinen 80. Geburtstag feiern kann. An einer Stelle bemerkt der Interviewer folgendes: „Ihren Durchbruch hatten Sie in der Rolle eines psychopathischen Frauenmörders. Danach waren Sie lange auf Bösewichter festgelegt…“ Daraufhin Mario Adorf: „Das stimmt nicht. Schon diese Rolle hatte ich nur unter der Bedingung gespielt, dass ich in der nächsten Produktion einen guten Charakter spiele. Und so habe ich das eigentlich immer gemacht. Gut, durch den Karl-May-Film Winnetou I war ich dann etwas auf die Schurken festgelegt. Aber auch danach habe ich immer wieder andere Charaktere gespielt.“ Dann aber setzt der Interviewer nach und stellt fest: „Aber die Schurkenrollen sind die, die beim Publikum hängenbleiben.“ Woraufhin Mario Adorf antwortet: „Ja, das ist auch im Theater so. Die Bösen sind die erfolgreicheren Rollen.“

Ich war an dieses Interview erinnert, als ich Michael Gleichs Klage über die Kriegs- und Gewaltlastigkeit der journalistischen Berichterstattung über das Weltgeschehen im großen und im kleinen las: seine Klage über die inhaltliche Orientierung der Massenmedien – über eine Berichterstattung, die gewissermaßen unter dem Motto steht: »If it bleeds, it leads.« – frei übersetzt: »Wo Blut fließt, da sind die Schlagzeilen sicher.« Oder anders formuliert: »Good news, no news!«

Was Michael Gleich und seine Kollegen von »Peace Counts« im Hinblick auf Journalismus diagnostiziert haben – die Ferne des Friedens –, das zeigt sich auch in anderen Bereichen. So haben vor wenigen Jahren Kollegen und Kolleginnen aus der Geschichts- und Kulturwissenschaft, die sich mit der Darstellung des Friedens in der bildenden Kunst, also der Ikonographie des Friedens, beschäftigten, einen „Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne“ diagnostiziert. Und in der Tat, zeitgenössische Darstellungen des Friedens à la Picasso, so seine eindrucksvolle Ausgestaltung einer Kapelle aus dem 14. Jahrhundert in der Stadt Vallauris als »Temple de la Paix«, sind eine Seltenheit.

Auch erinnere ich mich selbst an eine Rundfunksendung, in der ich mit Musikbeispielen die Friedensproblematik in aller Breite erläuterte und hörbar werden lassen wollte. Damals war in den USA gerade ein Buch von Robert Kagan, einem Stichwortgeber für die Bush-Administration, erschienen. In diesem Buch charakterisierte er die USA als marshaft und Europa als venushaft. Mars: das war die Identifikation einer Weltpolitik mit militärisch abgesicherten Machtmitteln (realistisch!), und Venus, das war der Inbegriff für die verweichlichten Europäer, die unfähig seien, sich auf der Höhe weltpolitischer Realitäten zu bewegen. Diese Kontrastfolie, von Kagan bitter ernst gemeint, konnte nun in der Musik illustriert werden mit Hilfe der ersten beiden Sätze aus Gustav Holsts »The Planets«: Satz 1 ist überschrieben: »Mars, The Bringer of War« – ein Satz mit den typischen martialischen Instrumenten wie Trompeten, Posaunen und einer dröhnenden Percussion; ein Satz, der markig, holzschnitthaft, ostinat-hämmernd und konturenscharf verfährt. Demgegenüber ist der zweite Satz: »Venus, The Bringer of Peace« durch ein lyrisch helles, feinsinnig-vielgliedriges, überdies ausladend-episches und dialogisches Klangbild charakterisiert, wobei nunmehr Holzbläser, Hörner, Harfen, das Glockenspiel und die Solovioline den Ton angeben.

Am Ende der kurzen kontrastierenden Einspielungen bemerkte danach die Moderatorin, Friedensmusik sei doch eigentlich langweilig; die wirkliche Virtuosität von Komponisten und Komponistinnen käme in deren Darstellungen von Kampf und Streit, von Konflikt und Antagonismen, auch von Krieg zum Ausdruck.

II.

Nun lese ich in einer die eigenen Aktivitäten erklärenden Broschüre des Journalistennetzwerkes »Peace Counts Project« folgendes: „‘Frieden ist doch langweilig‘. Diesen Satz hörten wir zu Beginn des Projekts Peace Counts immer wieder. Redakteure sagten ihn, denen wir Themenvorschläge gemacht hatten, in der Hoffnung, sie würden unsere Reportagen über Friedensmacher in ihren Magazinen veröffentlichen. Wir ließen uns nicht entmutigen. Peace Counts-Reporter und -Fotographen reisten dennoch in die Krisenregionen der Welt, immer auf der Suche nach Menschen, die erfolgreich Konflikte mit friedlichen Mitteln lösen.“ »Peace Counts Project« war und ist somit der Versuch, Fälle gelingenden Friedens aufzuspüren und zu dokumentieren, wobei nicht die sogenannte große Politik im Vordergrund steht, sondern ein vielfältiger Mikrokosmos der Friedensmacher in vielen Teilen der Welt. (…)

Ja, die Prozesse, die in den Materialien von »Peace Counts Project« dokumentiert sind, sind in der Tat langwierig und mühsam. Dabei zeigt sich, dass Umsicht, Klugheit, insbesondere Einfühlungsvermögen, aber auch Zielgerichtetheit unerlässliche Aktivposten derjenigen sind, die sich als Friedensmacher bewährt haben. Ihre Aktivität könnte man als »therapeutische Konfliktintervention« beschreiben: Hermeneutische Fähigkeiten sind dabei besonders gefragt, im übrigen auch die Ausrichtung solcher umsichtiger Intervention auf die Sicherung und Entfaltung einiger zentraler Grundbedürfnisse von Menschen wie Sicherheit, Anerkennung, Fairness, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung – d.h. von Bedürfnissen, deren dramatische Missachtung in aller Regel die Ursache für Konflikte und ihre Eskalation ist.

»Peace Counts« hat auf der Grundlage von 25 Dokumentationen, z.B. über Szenen der Straßengewalt zwischen Jugendlichen und der Polizei in Brasilien, über den Konflikt zwischen christlichen Regierungstruppen und der islamischen Befreiungsfront auf Mindanao, über die Auseinandersetzung zwischen Nomadenvölkern (Clans) um Wasserrechte und andere Fälle, induktiv Kenntnisse über Konfliktursachen, Konflikteskalationen, aber vor allem auch über Wege und Modalitäten einer konstruktiven Konflikttransformation erarbeitet. Für den Erfahrungswissenschaftler sind diese mikroanalytisch gewonnenen Kenntnisse von Interesse, selbst dann, wenn sie nicht umstürzend neu sind, sondern bewährte, auf anderen Ebenen und mit anderen methodischen Zugängen gewonnene Erkenntnisse bestätigen.

So sehen sich Friedensmacher nach Michael Gleich in der Regel mit politisch virulenten Situationen konfrontiert, die er auf eine 6-P-Formel bringt: Profitgier, Panik, Profilierung, Propaganda, Politkalkül, Primitivität. (…) Und natürlich sind den Friedensmachern auch die tieferliegenden Ursachen militant werdender sozialer Konflikte wohlvertraut: die Missachtung von Grundbedürfnissen, die Zementierung von krasser sozialer Ungleichheit sowie der Ausschluss von politischer Teilhabe: Sachverhalte, die in einer alltäglich als sozial ungerecht erlebten Diskriminierung bewusst werden. Solche Erfahrung initiiert im Laufe der Zeit meist unausweichlich die Eskalation eines Konfliktes, wenn keine Aussicht auf eine konstruktive Konfliktbearbeitung besteht, also kein Licht am Ende des Tunnels aufscheint. (…)

Ein- bzw. zweipolige Autismen nicht entstehen zu lassen, der Gefahr einer »Verbiesterung« des Konfliktes frühzeitig entgegenzuwirken, dazu beizutragen, dass frühzeitig Selbsterkenntnis Raum gewinnt und eine nicht projektive, sondern wirklichkeitsnahe Realitätsprüfung stattfindet und Gravamina offengelegt werden, um Konfliktstreitpunkte potentiell handhabbar zu machen – diese und andere Bemühungen in ganz unterschiedlichen Kontexten zeichnen Friedensmacher aus, motiviert durch eine jeweils auf die Ortsumstände ausgerichtete Vision, dass hic et nunc Frieden möglich ist. Dazu gehören offensichtlich, wie in den dokumentierten Beispielen in Wort und Bild erläutert, ein gewisses Charisma der Akteure, die intellektuelle Fähigkeit, die jeweiligen spezifischen Konflikthintergründe zu verstehen, eine Einfühlungsgabe und nicht zuletzt die Fähigkeit, situationsangemessen zu handeln, auch die Fähigkeit, die Macht des Wortes ins Spiel zu bringen, also ein Redetalent. (…) Solche Fähigkeiten in einer von Dialektik durchsetzten Konstellation sind auch erforderlich, um das zu schmieden, was in der neueren Diskussion unter dem Stichwort Friedensallianzen avisiert wird: also der Aufbau von Netzwerken, in denen sich ganz unterschiedliche Akteure zusammenfinden: frühere Kombattanten, Friedensbewegte, Entwicklungshelfer, Unternehmer, Nichtregierungsorganisationen, lokale Behörden, Regierungsmitglieder, auch multinationale Organisationen. Die Idee dabei ist, Wege aus den potentiellen und akuten Sackgassen eines pathologischen, d.h. eines zur »Verschlimmbesserung« beitragenden Lernens zu finden und entsprechende »Gehversuche« nachhaltig zu stabilisieren.

III.

Dies waren einige Schlaglichter auf »Peace Counts«, ohne die »Peace Counts on Tour« – der eigentliche Preisträger des Peter-Becker-Preises 2008 – nicht zu verstehen ist. Der Übergang von »Peace Counts« zu »Peace Counts on Tour« war und ist folgerichtig: Wenn man in 25 Fällen je einzeln und für sich genommen beobachten konnte, warum trotz abträglicher örtlicher Bedingungen aufgrund der Aktivitäten der jeweiligen Friedensmacher die drohende bzw. tatsächliche Gewaltszenerie mehr oder minder überwunden werden konnte, also ein Weg zu einer konstruktiven Konfliktbearbeitung, ggf. zu friedlichem Ausgleich tatsächlich gelungen ist, der gelungene Friede also nicht nur ein Stück Utopie, sondern im jeweiligen Umfeld Realität wurde, da liegt es nahe, diese je spezifischen Erkenntnisse systematisch auszuwerten, zu dokumentieren und sie multimedial zu visualisieren, um sie andernorts in immer noch gewaltgeneigten oder durch Gewalt gekennzeichneten Problemsituationen als Quelle der Inspiration zu nutzen. (…)»Peace Counts on Tour« wuchert mit dem lehrreichen, dem guten Beispiel, also mit bewährten Fällen gelungenen Friedens, um an n-ter Stelle zu einer Deeskalation der Affekte als unerlässliche Grundlage einer sich aktivierenden Nachdenklichkeit beizutragen bzw. um über wissbare positive Beispiele den gewaltgeneigten Affekten entgegenzuwirken.

Um eine solche Wirkung zu erreichen, hat sich »Peace Counts on Tour« ein vielfältiges Instrumentarium ausgedacht: Ausstellungen, die gelungene Fälle von Friedenmachen dokumentieren, Diskussionsrunden unter Nutzung der aus solchen Fällen aufbereiteten Materialien, Lernzirkel; besonders wichtig: Seminare mit Journalisten, die in einem Konfliktgebiet aktiv sind; weiterhin: die Nutzung von CD-ROMs und anderen modernen Medien, die nach einer Ausstellung sowie nach den Lernzirkeln und Seminaren eine Weiterarbeit vor Ort ermöglichen. Von besonderer Bedeutung ist natürlich die Inszenierung von Friedensallianzen, anknüpfend an ggf. vor Ort bereits vorhandene institutionelle Knotenpunkte entsprechender Aktivitäten, d.h. von bestehenden oder im Aufbau befindlichen, möglicherweise sich selbst schon locker vernetzenden lokalen Partnern.

IV.

Man hat einmal gesagt, der Vergleich sei der Königsweg der Sozialwissenschaften, und angesichts der Heterogenität der Welt ist eine solche Aussage nur nachdrücklich zu unterstreichen. In unserem Zusammenhang hier zeigt sich nun, dass der Vergleich, in diesem Fall: die sogenannte best practice-Orientierung, zum Ausgangspunkt friedenspolitischer Hebammendienste, nicht also von benchmarking!, wird – benchmarking: das wäre technokratisch-abwegig. Dass »Peace Counts on Tour« die Aktivitäten von »Peace Counts« mit Erfolg in diese Richtung erweitern konnte, verdankt sich nicht zuletzt der nunmehr über knapp vier Jahrzehnte akkumulierten friedenspädagogischen Expertise des Tübinger Instituts für Friedenspädagogik, dessen Beginn, Wachstum und einen nicht enden wollenden Reifeprozess ich als Mitglied im Stiftungsrat der Berghof Stiftung für Konfliktforschung seit mehr als dreißig Jahren mit wachsender Bewunderung begleiten durfte. (…) Die Tatsache, dass das Tübinger Institut friedenspädagogisch für Schulen und in Schulen gearbeitet hat, dass es Erfahrung in der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung kumuliert hat, dass es der Friedensarbeit sehr frühzeitig multimediale didaktische Angebote verfügbar gemacht hat, garantiert, dass auch die Erweiterung der eigenen Tübinger Aktivitäten im Kontext von »Peace Counts on Tour«, wenn ich so sagen darf, erdverhaftet bleibt, so wie die in Sri Lanka, der Elfenbeinküste, in Mindanao auf den Philippinen oder jüngst in Kaliningrad gemachten Erfahrungen in bisher fremdem Umfeld den in diesem Institut nimmermüden, gewissermaßen mit schwäbischer Beharrlichkeit verfolgten Lernprozess selbst noch einmal inspirieren. (…)

V.

Nachhaltigkeit ist ein Stichwort unserer Zeit – und dies völlig zu Recht. Auch das Projekt, das hier zu würdigen ist, bemüht sich um eine solche Orientierung: um dauerhaften Frieden – eine Orientierung, die sich weder von selbst einstellt, noch in jedem Einzelfall wirklich garantiert werden kann. Dabei stellen sich immer einige Kernfragen: Lassen sich vor Ort in Problemgebieten Menschen finden, die die Fähigkeit haben, Friedensmacher zu werden? Gibt es Ansatzpunkte, aus schon bestehenden punktuellen Initiativen verlässliche Friedensallianzen zu schmieden? Finden sich wirklich Journalisten, die die Friedensberichterstattung zu einer Herzensangelegenheit machen und dennoch einen Zugang zu den Medien vor Ort und im weiteren Umkreis haben? Gibt es Freiräume in Schulen und andernorts, um die multimedial aufbereiteten Materialien mit nachhaltiger Wirkung erfolgreich einsetzen zu können? Und letztlich die schwierigste Problematik: Gibt es über den Mikrobereich des jeweiligen Projektes hinaus ein politisches Umfeld, das zumindest Projekte dieser Art toleriert, möglicherweise fördert und weiterträgt, wenigstens solche Projekte nicht konterkariert oder gar regelrecht bekämpft? (…) Den Frieden denken und schon gar Frieden machen – ernsthaft und das heißt nicht schmalspurig verfolgt – glich immer schon einem denkerisch und praxeologisch schwer einlösbaren Komplexprogramm, gleichgültig, ob man sich »top down« oder »bottom up« dieser politischen Herausforderung stellt.

Dabei ist folgendes zu bedenken: Reine »top down«-Strategien, vor allem, wenn sie mit militärisch abgestützter, jakobinisch inspirierter Assimilationspolitik durchzusetzen versucht werden, sind heutzutage in aller Regel zum Scheitern verurteilt, selbst wenn sie, vordergründig betrachtet, kurzfristig erfolgreich zu sein scheinen. Die Gesellschaften dieser Welt sind zu politisiert und nicht mehr wie z.B. zu Zeiten des Imperialismus eine leichte und kostengünstige Beute solcher Politik. In welch katastrophale Situation eine solche Politik führt, wo sie dennoch versucht wird, das zeigt geradezu paradigmatisch die Entwicklung in Sri Lanka in den vergangenen Wochen. (…)

Als glücklich sind demgegenüber jene Fälle zu bezeichnen, in denen das Neue aus freiwilliger Einsicht als Resultat eines sich allmählich ausbreitenden und sich durchsetzenden aufgeklärten Selbstinteresses »top down«und »bottom up« zustande kommt. Heute ist es die Aufgabe von international orientierter Friedenspolitik, durch umsichtiges Einwirken in Konfliktgebieten das Entstehen einer derartigen politischen Konstellation zu fördern – einer Konstellation, in der sich auf allen Ebenen ein solches Umfeld für eine konstruktive Konfliktbearbeitung entwickelt. »Peace Counts on Tour« mobilisiert hierfür seinen Beitrag in einem diesem Projekt jeweils kongenial erscheinenden Umfeld. Andere haben in vielen Fällen ihren Beitrag erst noch auf den Weg zu bringen. Lassen Sie mich abschließend die Jury zur diesjährigen Wahl des Preisträgers beglückwünschen: Ich freue mich, dass »Peace Counts on Tour« als dritter Preisträger den Peter-Becker-Preis erhält. Dieser Preis ist eine Ermutigung. Und ich bin sicher, dass mit dem Preisgeld eine weitere friedenspolitische Aktivität dieses ungewöhnlichen Unternehmens – der nicht alltäglichen Zusammenarbeit von Friedensjournalismus, Friedensfotographie, Friedenspädagogik und Friedenswissenschaft – ermöglicht wird.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2009/3 Okkupation des Zivilen, Seite