W&F 2014/3

Physiker im Ersten Weltkrieg

Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militär

von Götz Neuneck

Der Erste Weltkrieg 1914-1918 war der erste große »industrialisierte Krieg«. Er wurde nicht nur mit Massenarmeen geführt, sondern auch mit den Mitteln der damaligen Wissenschaft. Nobelpreisträger und Wissenschaftler beider Seiten wurden mobilisiert oder meldeten sich freiwillig, um ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Daher wird der Erste Weltkrieg als »Krieg der Ingenieure und Chemiker« bezeichnet, aber auch Physiker und andere Naturwissenschaftler nahmen teilweise aktiv an dem Geschehen teil. Was taten sie insbesondere in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA vor und während des Krieges, welche Beiträge haben sie geleistet?

Der Beginn des 20. Jahrhunderts war von großem Fortschrittsoptimismus, industriellem Aufbruch und einem fundamentalen Umbruch des physikalischen Weltbildes gekennzeichnet. Die klassische Physik wurde zwischen 1895 und 1914 revolutioniert: 1895 entdeckte W.C. Röntgen die X-Strahlung, M. Planck führte 1900 das Quantenkonzept ein, E. Rutherford präsentierte 1911 das Planetenmodell des Atoms, und A. Einstein veröffentlichte 1905 seine spezielle Relativitätstheorie. Die Industrie entwickelte neue Transportmittel, Automobile, Eisenbahnen und Flugzeuge. Telegraphie und Transatlantikkabel sorgten für weltweite Kommunikation. Vor dem Ersten Weltkrieg fand parallel auch ein Wettrüsten zwischen der Entente und den Mittelmächten statt, das später von L.F. Richardson, Quäker und Vater der quantitativen Friedensforschung, mathematisch beschrieben wurde.

Die Gruppe der Naturforscher und -wissenschaftler war zu der Zeit nicht groß und kooperierte kollegial wie international. Der Physiologe E. du Bois-Reymond sagte 1878 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften anlässlich des Geburtstags des Kaisers: „Allein die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach weltbürgerlich […] Am Ausbau der Wissenschaft beteiligen sich alle Kulturvölker in dem Maße wie sie diesen Namen verdienen.“ (zit. nach Wolff 2001, S.4) Die Wissenschaft wurde in diesem »Zeitalter der Extreme« aber auch ein Instrument im Wettstreit der Nationen. Bis heute werden die Nobelpreise den jeweiligen Ursprungsländern zugeordnet. Es ist kaum verwunderlich, dass der Geist von Kooperation, Freundschaft und Internationalität mit Beginn des Ersten Weltkrieges abrupt endete.

Die Mobilisierung der Wissenschaft kann grob in vier Phasen eingeteilt werden (MacLeod 2009, S.39ff): Zwischen 1914 und 1915 führt das von 93 deutschen Intellektuellen verfasste nationalistische Manifest »An die Kulturwelt« zum Bruch zwischen deutschen und alliierten Wissenschaftlern. Ab Frühling 1915 werden Wissenschaftler für kriegswichtige Arbeiten mobilisiert oder melden sich freiwillig, um ihre Kenntnisse einzubringen. Ab 1917 beginnen auch US-Wissenschaftler, mit Kollegen anderer alliierter Länder zusammenzuarbeiten. Und nach Kriegsende schließlich werden deutsche Wissenschaftler fast zehn Jahre von internationalen wissenschaftlichen Organisationen ausgeschlossen bleiben (MacLeod 2009, S.39ff).

Der »Krieg der Geister« und das Ende des »Goldenen Zeitalters«

Noch am 1. August 1914 veröffentlichten neun englische Professoren, darunter der Physiker J.J. Thomson und der Chemiker W. Ramsey, eine Erklärung, in der sie vor einem Kriegseintritt Großbritanniens warnten. Sie hoben dabei „Deutschlands Führungsrolle in Kunst und Wissenschaft“ hervor (Wollff 2001, S.6). Als das Kaiserreich völkerrechtswidrig die territoriale Integrität Belgiens verletzte und England am 4. August in den Krieg eintrat, zerfiel die Welt der befreundeten Wissenschaftler schnell in verfeindete Lager. Angesichts der nationalen Kriegsaufwallungen vergaßen viele Wissenschaftler ihre Bekenntnisse zu Internationalität und Zusammenarbeit. Mit Kriegseintritt Englands gaben einige deutsche Wissenschaftler sogar ihre englischen Auszeichnungen zurück.

Mit nahezu religiöser Inbrunst wurden zu Kriegsbeginn an vielen deutschen Universitäten Kundgebungen organisiert, und Professoren wurden zu Kriegstreibern. Es gab aber auch Ausnahmen. A. Einstein war im Frühjahr 1914 nach Berlin gekommen und schrieb angesichts der Kriegsbegeisterung in Berlin am 1. August an H.A. Lorentz: „Wenn ein Haufen Menschen an einem Kollektivwahn erkrankt ist, so soll man diese Menschen jeglichen Einflusses berauben; aber Hass und Erbitterung können große und sehende Menschen für die Dauer nicht beherrschen, sie seien denn selbst krank.“ (Pais 1995, S.218) Seinem Freund P. Ehrenfest schrieb er: „Unglaubliches hat nun in Europa in seinem Wahn begonnen. In solcher Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört.“ (Nathan/Norden 2004, S.20) Der Erste Weltkrieg bestärkte Einstein in seiner Ablehnung des Kriegs – seine wissenschaftlich fruchtbarsten Jahre hatte er aber in seiner Berliner Zeit.

In der sonstigen Wissenschaftswelt verschärften sich die Spannungen, als am 4. Oktober 1914 der Aufruf »An die Kulturwelt« 93 führender deutscher Gelehrter und Künstler veröffentlicht wurde, darunter 15 Naturwissenschaftler, sechs gar Nobelpreisträger: M. Planck, W.C. Röntgen, W. Ostwald, W. Wien, E. Fischer und A. von Baeyer. Die »Erklärung der 93« war, obwohl als „Protest gegen die Lügen und Verleumdungen“ von „Deutschlands Feinden“ gedacht, ein Schlüsseldokument arroganter deutscher Überheblichkeit (Rüdiger vom Bruch 2005).Die Unterzeichner, von denen einige nicht einmal den genauen Text kannten, handelten nicht nur außerordentlich pathetisch, sondern politisch naiv, uninformiert und offensiv. Im Wesentlichen übernahm das Manifest die Position des deutschen Militärs und sprach von einem Defensivkrieg, einem „aufgezwungenen, schweren Daseinskampf“.

Die Wirkung im Ausland war verheerend und kontraproduktiv. Insbesondere kleine und neutrale Staaten waren nach der Völkerrechtsverletzung aufgrund des deutschen Einmarschs ins neutrale Belgien und der Zerstörung der Bibliothek der alten Universitätsstadt Leiden durch deutsche Truppen alarmiert. 117 englische Gelehrte, darunter W.H. Bragg, Lord Raleigh und J.J. Thomson, reagierten am 21. Oktober mit einer Gegenerklärung, die den Kampf gegen das „militaristische Deutschland“ nun als notwendig und den englischen Kriegseintritt als „Verteidigungskrieg, ein Krieg für Freiheit und Frieden“ deklarierte. Während einige Physiker, wie J. Stark, dankbar gegen England polemisierten („überflüssige Engländerei“), versuchte M. Planck mit den englischen Kollegen Kontakt zu halten und auszugleichen (Wolff 2001, S.15). Der Physiker W. Wien hingegen entwarf eine „Aufforderung“ an 21 prominente Kollegen, meist Lehrstuhlinhaber, das Zitieren englischer Kollegen einzuschränken, nicht in englischen Zeitschriften und nur in deutscher Sprache zu publizieren (Wolff 2001, S.17).

Nun ging es auch um die Vorherrschaft in der Wissenschaft. Der Historiker S. Wolff folgerte: „Im einzelnen ging es darum, den deutschen Physikern im Wettbewerb mit England Prestige und gesellschaftliche Anerkennung zu sichern.“ (Wolff 2001, S.34) Die wissenschaftliche Gemeinschaft zerfiel in kurzer Zeit in verfeindete Lager. Der US-Physiker M. Pupin schrieb an den Astronomen G.E. Hale: „Wissenschaft ist der höchste Ausdruck einer Zivilisation. Die Wissenschaft der Alliierten unterscheidet sich daher grundlegend von der Wissenschaft der Teutonen.“ (Cornwell 2003, S.59) Die anderen Kriegsmächte standen der deutschen Polemik und Hetze kaum nach. Die französischen Akademien machten ebenso mobil wie die Royal Society. Der Philosoph H. Bergson sagte bereits am 8. August 1914 auf der Sitzung der Académie des Sciences Morales et Politique: „Der engagierte Kampf gegen Deutschland ist gleichermaßen ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.“ (von Ungern-Sternberg 1996, S.55) Nach dem ersten deutschen Giftgasangriff im April 1915 schlossen die französischen und belgischen Akademien deutsche Mitglieder aus. Die Berliner Akademie stimmte mit knapper Stimmenmehrheit gegen eine Vergeltung. Auch in der Royal Society konnten sich die Scharfmacher nicht durchsetzen. Hermann Hesse kommentierte dennoch scharfsichtig, dass nun „der Krieg in die Studierstuben“ getragen worden sei. Die Wissenschaftler begannen, ihr Wissen dem Militär aktiv zur Verfügung zu stellen: „Der Krieg wurde nun zu einem Wettstreit der Köpfe genauso wie der Maschinen.“ (MacLeod 2014) Die Royal Society in London und die Académie des Sciences in Paris gründeten in verschiedenen Fachbereichen »War Committees«, um symbolisch ihre Unterstützung zu zeigen und die Kriegsforschung aufzunehmen.

»Soldaten der Wissenschaft« und »kriegsphysikalische Arbeiten«

Das kaiserliche Deutschland setzte nach Kriegsbeginn zunächst auf seine industrielle Stärke und gab der Kriegsproduktion den Vorrang. In der Folge wurden zunehmend Ingenieure und Chemiker in die industrielle Kriegsproduktion einbezogen. Aber auch zahlreiche Physiker beteiligten sich aktiv an konkreten Projekten. Insbesondere der erstarrte Stellungskrieg veranlasste manche berühmte Köpfe, dem Militär neue Ideen und Technologien zu präsentieren. Ein bekanntes Beispiel ist F. Haber, der zunächst mit dem Haber-Bosch-Verfahren die Herstellung von Ammoniak für Kunstdünger und Sprengstoff ermöglichte und schließlich mit der Herstellung und dem Einsatz der tödlichen Kampfgase Phosgen und Chlor im Jahre 1915 den Gaskrieg etablierte (Walker 2014). Haber (privat ein enger Freund des Pazifisten Einstein) machte aus seiner patriotischen Gesinnung keinen Hehl: „Der Gelehrte gehört im Kriege wie jedermann dem Vaterland, im Frieden aber gehört er der Menschheit.“ (Kammasch 2009, S.1).

Fritz Habers Gruppe war direkt am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Berlin angesiedelt, das zu einer „Gaskampfforschungsanstalt“ umfunktioniert wurde (Rasch 1991). Dort wurden u.a. Giftgas und Gasmasken entwickelt und getestet. Beim Chlorgaseinsatz in Ypern waren neben Haber auch die jungen Wissenschaftler O. Hahn und J. Franck beteiligt. Zu den Berliner Wissenschaftlern gehörten auch G. Hertz, H. Geiger und W. Westphal. Lise Meitner war als Röntgenschwester im Kriegseinsatz.

Der Physikochemiker W. Nernst, Initiator der bis heute durchgeführten Solvay-Konferenzen für Physik und Chemie, posierte noch 1913 mit E. Rutherford und J.J. Thomson für ein gemeinsames Photo. Nach Kriegsbeginn stellte er begeistert sein Automobil zu Verfügung, meldete sich als 50-Jähriger freiwillig zum Kriegsdienst (Bartel 2014) und nahm als Meldefahrer des Kaiserlichen Freiwilligen Automobil-Corps am Vormarsch auf Paris und an der Marne-Schlacht teil. Der preußische Kriegsminister von Falkenhayn hatte angesichts des Stellungskriegs neue offensive Chemiewaffen und Reizstoffe gefordert, um den Gegner kampfunfähig zu machen. Zur Lösung des Problems wurde Nernst im Oktober1914 der Artillerieprüfkommission und später dem Minenwerfer-Bataillon I zugeordnet. Nernst stellte den Kontakt zu C. Duisberg her, dem Generaldirektor der F. Bayer & Co. aus Leverkusen, und unternahm Schießversuche in Köln-Wahn. Das Ergebnis der »Nernst-Duisberg-Kommission« war eine Granate mit einer so genannten Ni-Pulvermischung, die Augen und Atemwege reizte. Sie wurde am 27. Oktober 1914 in Neuve-Chapelle eingesetzt (Details siehe Bartel 2014). Aufgrund des ausbleibenden Erfolges wurden die Chemiker E. Fischer und F. Haber einbezogen, und Falkenhayn forderte Chemiewaffen mit anhaltender und tödlicher Wirkung. Nernst arbeitete nun an der Prüfung von ballistischen Geschossen, Gasgranaten und pneumatischen Minenwerfern und nahm am Gaskrieg in leitender Stellung teil. Ab 1916 bemühte er sich erfolglos um eine Kriegsbeendigung. Er verlor zwei seiner Söhne im Krieg. Einstein attestierte in seinem Nachruf, Nernst sei weder ein Nationalist noch ein Militarist gewesen (Bartel 2014:53).

R. Ladenburg machte im Rahmen der Artillerieprüfkommission den Vorschlag, in Berlin eine Gruppe von Physikern zur Schallortung gegnerischer Artillerie einzurichten, zu der später M. Born, A. Landé, F. Reiche und E. Madelung stießen. Mittels optischer, akustischer und seismischer Messungen sollte die Position eines feuernden Geschützes bestimmt werden (Details siehe Schirrmacher 2014, S.44).

In Göttingen wurde der Physiker L. Prandtl bereits 1909 Leiter der Aerodynamischen Versuchsanstalt, die sich mit Strömungsforschung beschäftigte. Sie wurde zum »Forschungsinstitut für Heer und Marine« umgewandelt und beschäftigte sich neben ballistischen Experimenten u.a. mit dem Abwurf von Bomben aus Flugzeugen. Für Studenten und Wissenschaftler war hier die Möglichkeit gegeben, dem Fronteinsatz zu entkommen und weiter Wissenschaft zu betreiben (Schirrmacher 2014, S.45). Einige Wissenschaftler habilitierten sich während der Kriegszeit. M. Born wird die Aussage zugeschrieben, dass „die Physik nicht für den Krieg arbeiten muss, sondern der Krieg muss für die Physik arbeiten“. Zusätzliche Gelder und Unterstützung für die Physik waren also willkommen.

Um eine zentrale Instanz für die deutsche Kriegsforschung zu etablieren, wurde bereits 1911 die Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft gegründet, die mit einer Privatspende des jüdischen Bankiers L. Koppel zustande kam (Details Rasch 1991) Die Gemeinschaftsinitiative der chemischen Industrie, einiger Bürokraten, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Fritz Habers etablierte Ende 1916 sechs Fachausschüsse mit prominenten Leitern aus den Naturwissenschaften: E. Fischer (Rohstoffe), W. Nernst (Ballistik, Telegraphie), F. Haber (Spreng- und Kampfstoffe). Drei weitere technische Ausschüsse widmeten sich dem „Landverkehr, der Luftfahrt und dem Metall“. A. Sommerfeld arbeitete u.a. an der Kreiseltheorie und „günstigen Antennenformen“, A. Wehnelt an „drahtloser Verständigung in Schützengräben“ (Schirrmacher 2014).

Physiker an der Front: Erdtelegraphie, Schallortung im Schützengraben und der Tod

Die anfängliche Kriegsbegeisterung erfasste auch junge Studenten und Professoren. M. Born, der bei J.J. Thomson studiert hatte und gerade eine Professur an der Berliner Universität erhalten hatte, schrieb im November 1914 an seinen Freund R. Ladenburg: „Wie jämmerlich komme ich mir vor, der ich noch immer zu Hause sitze. Ich denke mir, es muss doch noch ein anderes, stolzes Gefühl sein, als wissenschaftliche Entdeckungen zu machen, wenn man durch einen kühnen Ritt der Armee einen Dienst leistet.“ (Schirrmacher 2014, S.43) Der »Physikerrekrut« Born war als Asthmatiker nicht fronttauglich und stieß zur Gruppe von M. Wien, einem Spezialisten für Hochfrequenztechnik. W. Gerlach, der im April 1916 habilitiert wurde, kam ebenfalls zu den Funktruppen und entwickelte zusammen mit dem im Krieg verwundeten G. Hertz Funk- und Radiogeräte. Er kämpfte in Flandern, im Artois und in der Champagne. Der Göttinger Mathematiker R. Courant kämpfte in Belgien. Die Hälfte seiner Kameraden starben bei einem Angriff der Engländer, als die Funkverbindung zum Hinterland abbrach – es wird angenommen, dass rund 20 Prozent des deutschen Physikernachwuchses im Krieg an der Front starben. Nach einer Verwundung aus dem Kriegsdienst entlassen, begann Courant in Göttingen an der so genannten Erdtelegraphie zu arbeiten. Er rekrutierte C. Runge, P. Debye und P. Scherer, die das Verfahren an der Front ausprobierten. Es kam bei der Schlacht an der Somme zum Einsatz.

In Frankreich, das durch den deutschen Angriff wichtige Industrieanlagen verloren hatte, begannen die Pariser Laboratorien ihre Kriegsarbeiten zu koordinieren. Ab 1915 wurden Absolventen der naturwissenschaftlichen Studiengänge von der Front abgezogen und in der Munitionsproduktion beschäftigt (MacLeod 2009). Schon der Untergang der Titanic 1912 hatte Wissenschaftler weltweit animiert, an der Seekommunikation und der Unterwasserortung zu arbeiten. M. de Broglie arbeitete für die Marine an drahtloser Nachrichtenübertragung und sein Bruder L. als Nachrichtenoffizier in der telegraphischen Station auf dem Eiffelturm. Insbesondere das Aufkommen der U-Boote ab 1905 machte diese Verfahren auch attraktiv für die Seekriegführung. Der französische Physiker P. Langevin entwickelte mit C. Chilowsky 1916 das erste Echolot für die französische Marine, fußend auf der Pieoelektrizität. Der Mathematiker P. Painlevé, der dem Kabinett Briand angehörte, gründete in Toulon die »Direction des inventions«, die von J. Perrin geleitet wurde. In der Folge entwickelte man Hydrophone zur Unterwasserortung (Juhel 2005).

Dabei kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit mit den englischen Alliierten. Anders als Deutschland präferierte die britische Regierung von Kriegsbeginn an die Einbindung der Wissenschaft in die Kriegsforschung. Die Admiralität gründete das Board of Inventions and Research, das von W. Bragg geleitet wurde und dem auch E. Rutherford angehörte. 1916 wurde für die naturwissenschaftliche Grundlagen- und Industrieforschung das Department of Scientific and Industrial Research geschaffen. Premier Llyod George leitete die Gründung des Allied Submarine Detection Investigation Committee ein (Juhel 2005).Das War Office vergab Verträge auch an britische Universitäten. Nach MacLeod (2009, S.42) arbeitete die Hälfte aller zivil beschäftigten britischen Wissenschaftler an kriegsrelevanten Projekten, und er folgert: „Großbritannien wurde zu einem gigantischen militärisch-akademisch-industriellen Komplex.“ 1918 hob der Munitionsminister Winston Churchill ausdrücklich den Beitrag der Wissenschaftler hervor. Er sollte dies im Zweiten Weltkrieg erneut aufgreifen.

Obgleich die Vereinigten Staaten erst am 6. April 1917 offiziell in den Krieg eintraten, wurde die US-Wissenschaft aufgrund des U-Boot Krieges schon frühzeitig für Kriegszwecke mobilisiert. Es wurden das War Industries Board und der National Research Council geschaffen. Als der britische Passagierdampfer Lusitania im Mai 1915 durch ein U-Boot der kaiserlichen Marine versenkt wurde, beauftragte Marineminister Daniels den berühmten Th. Edison, die „schärfsten und einfallsreichsten Köpfe“ zusammenzubringen, um eine Verteidigungsmöglichkeit gegen U-Boote auszuarbeiten. Der Astrophysiker G.E. Hale bot US-Präsident Wilson die Hilfe der National Academy of Science an. Ihm ging es im Wesentlichen darum, die seiner Ansicht nach in den USA recht unterentwickelte physikalische Forschung zu beschleunigen. Berühmte Wissenschaftler wie K. Compton, J. Conant und A. Trowbridge forcierten mit eigenen Beiträgen die alliierte Zusammenarbeit. Bemerkenswert ist die Reise einer Gruppe von US-Wissenschaftlern in das kriegsgeschüttelte Europa. Sie trafen nicht nur alliierte Kollegen, sondern besuchten auch die Front. Der Physiker J. Ames hebt in seinem Bericht »Science at the Front« hervor, es gäbe keinen Bereich der Wissenschaft, der nicht für den Krieg nutzbar gemacht wurde (Ames 1918, S.93). Kevles zufolge erbrachten diese Arbeiten erstmalig eine „beispiellose und fruchtbare Zusammenarbeit“ zwischen Wissenschaftlern aus Universitäten und der amerikanischen Industrie mit dem Militär. Er resümiert: „Die Wissenschaftler des Rates entwickelten unzählige Waffen, Geräte und Technologien für das Militär.“ (Kevles 1968, S.431) Der Waffenstillstand 1918 enttäuschte die Wissenschaftler fast etwas, denn so konnten sie nicht mehr zeigen, wie wichtig die US-Wissenschaft für den Krieg sein könnte.

Nach Kriegsende wurden deutsche Wissenschaftler zehn Jahre lang von internationalen Tagungen ausgeschlossen. Auf englisches und französisches Betreiben wurden die deutschen Akademien für mehrere Jahre boykottiert (von Ungern-Sternberg 1996, S.97). Die Wissenschaftssprache Deutsch wurde durch das Englische ersetzt. Damit gehörte die deutsche Wissenschaft ebenfalls zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs.

Die Wissenschaft nach dem Krieg: Ächtung – und Fortsetzung folgt

Der »Große Krieg« brachte eine bisher nicht gekannte Mobilisierung und damit Militarisierung der gerade entstehenden modernen Wissenschaft mit sich. Die Wissenschaftler hatten vielfältige Motive, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen: Patriotismus und Nationalismus, das Einbringen eigener Fähigkeiten in den Krieg oder die Flucht vor dem Einsatz an der Front, politische Naivität und der Versuch, zusätzliche Forschungsmittel zu bekommen. Bemerkenswert ist, dass manche Initiativen im Rahmen patriotischer Pflichterfüllung von Wissenschaftlern selbst ausgegangen sind, denn das Militär war zunächst an den Wissenschaftlern nicht sehr interessiert.

Der Erste Weltkrieg gilt als erster moderner industrieller Krieg, in dem Grundlagen- und angewandte Forschung eine größere Rolle spielten als je zuvor. Insbesondere bei der Kommunikation, der Schallortung, der Ballistik, aber auch bei der Munition, der medizinischen Versorgung und der Industrieproduktion kamen neue Erkenntnisse zur Anwendung. Die Nutzung der Kenntnisse ziviler Wissenschaftler für den Krieg hat die Kriegsführung verändert, den Krieg aber eher verlängert und fürchterlicher gemacht (MacLeod 2014, S.3). Herfried Münkler resümiert: „Der Erste Weltkrieg war der Brutkasten, in dem fast alle Technologien, Strategien und Ideologien entwickelt wurden, die sich seitdem im Arsenal politischer Akteure befinden.“ (Münkler 1913, S.9)

Damit wurde insbesondere in den USA, Großbritannien und Deutschland die Grundlage für die weitere Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Militär gelegt, der im Zweiten Weltkrieg in Form von Großprojekten (Atomwaffenentwicklung im Manhattan-Projekt, Raketenentwicklung in Peenemünde, Kryptographie etc.) eine noch weitaus größere Bedeutung zukommen sollte. Der Erste Weltkrieg wird daher auch als Präludium zum Zweiten Weltkrieg gesehen, der das Ausmaß an Zerstörung und Leid ins Unermeßliche steigern sollte. Wissenschaft und Technik, insbesondere die Physik, sollten daran entscheidenden Anteil haben. (Neuneck 2011)

Literatur

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Hans-Georg Bartel: Ein Geheimrat im Militärdienst. Walther Nernst im Spannungsfeld von Kriegsforschung und Friedensbemühungen – aus Anlass seines 150. Geburtstags am 25. Juni 2014. Physik Journal 13 (2014), Nr.7, S.49.

John Cornwell (2003): Hitler’s Scientists. Science, War, and the Devil’s Pact. New York: Viking.

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Pierre Juhel (2005): Histoire de L’Acoustique Sous-Marine. Paris: Vuibert.

Daniel J. Kevles (1977): The Physicists. The History of a Scientific Community in Modern America: Cambridge/Mass.: Harvard University Press.

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Roy MacLeod: The Scientists Go to War. Revisiting Precept and Practice, 1914-1919. Journal of War and Culture Studies, 2(1), 2009, S.37-51.

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Herfried Münkler (2013): Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918. Berlin: Rowohlt.

Otto Nathan, Heinz Norden (Hrsg.) (2004): Frieden – Weltordnung oder Weltuntergang. Dokumentation aller erreichbaren und erhalten gebliebenen Schriften Einsteins zum Thema Frieden und Abschaffung des Krieges. Köln: Parkland Verlag.

Götz Neuneck: Frieden und Naturwissenschaft. In: Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke (Hrsg.) (2011): Handbuch Frieden. Wiesbaden:VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.459-474.

Manfred Rasch: Wissenschaft und Militär. Die Kaiser Wilhelm Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen Nr.49, 1991, Militärgeschichtliches Forschungsamt, S.73-120.

Arne Schirrmacher: Die Physik im Großen Krieg. Physik Journal 13 (2014) Nr. 7, S.43.

Rüdiger vom Bruch (2006): Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt. In: Clio Online – Themenportal Europäische Geschichte.

Rüdiger vom Bruch: Professoren als Kriegstreiber. Der Tagespiegel, 4. Juni 2014.

Jürgen von Ungern-Sternberg und Wolfgang von Ungern-Sternberg (1996): Der Aufruf an die Kulturwelt! Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Franz-Steiner Verlag, Historische Mitteilungen – Beiheft Bd. 18.

Paul F. Walker: Chemiewaffen – Vom Ersten Weltkrieg zur weltweiten Abschaffung. W&F 1-2013, S.30-32.

Stefan L. Wolff (2001): Physiker im »Krieg der Geister«. München: Deutsches Museum, Arbeitspapier, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/3 Die Kraft der Künste, Seite 41–45