W&F 2016/3

Politischer Islam

Eine Geschichte der Radikalisierung

von Adrian Paukstat

In den letzten Jahren ist das Interesse der Öffentlichkeit am Thema Islam gestiegen, und die Medien greifen das Thema intensiver auf. Allerdings wird in dieser Auseinandersetzung häufig nicht oder nicht ausreichend zwischen den theologischen und den politischen Aspekten des Islam unterschieden. Islam wird kurzerhand in einen Topf gepackt mit Islamismus oder sogar mit Terrorismus, Muslime werden pauschal als (gewaltbereite) Islamisten abgewertet. Adrian Paukstat beschreibt in seinem Artikel die Denkrichtung der Salafiyya als ideengeschichtliche Grundlage des politischen Islam, entstanden sowohl als Reaktion auf den westlichen Kolonialismus als auch aus einem Modernisierungsbestreben im theologischen wie im politisch-gesellschaftlichen Bereich.

Die Wurzeln des sunnitischen politischen Islam sind untrennbar mit dem ideologischen Rückbezug des eigenen Handelns auf die »frommen Altvorderen« (al-Salaf al-Salih) verbunden, dem auch der Begriff »Salafismus« seinen Namen schuldet. Bereits im 13. Jahrhundert formulierte der Anhänger der besonders konservativen hanbalitischen Rechtsschule, Ibn Taimiyya, die Konzeption einer notwendigen Rückbesinnung auf die von allen schädlichen menschlichen (Um-) Interpretationen bereinigte Tradition der ersten vier rechtgeleiteten Kalifen, deren Herrschaft mit dem sunnitisch-schiitischen Schisma und dem Aufstieg der Umayyaden-Dynastie endete.

Mit der im frühen 19. Jahrhundert beginnenden territorialen Expansion des saudischen Herrscherhauses erlangten die islamischen Rechtsauslegungen dieser Traditionslinie in einem signifikanten Teil der damaligen islamischen Welt politische und religiöse Wirkmächtigkeit. Die Verbindung von rigidem Islamverständnis und politischer Herrschaft resultierte aus dem im 18. Jahrhundert geschmiedeten Bündnis zwischen Muhammad ibn Saud und Muhammad Abd al-Wahhab. Von dem Nachnamen des Letzteren leitet sich die Bezeichnung »Wahhabismus« für die saudische Staatsdoktrin ab.

Von der Wahhabiyya und Salafiyya zum (Neo-) Salafismus

Kennzeichnend für Abd al-Wahhabs Lehre sind mehrere Elemente, die auch heute noch (in mal mehr, mal weniger radikaler Form) zu den ideologischen Grundpfeilern des sunnitischen politischen Islam zählen. Da ist zum einen die äußerst strenge Auslegung des »Tauhid«, der Lehre von der Einheit Gottes, gemäß der bereits die Verehrung von Heiligen, Gräbern oder bestimmten Gelehrten als Abkehr vom strengen Monotheismus und damit als »Schirk« (in etwa »Beigesellung«) gilt.

Zentral ist außerdem der Begriff des »Bida« (Neuerung). Das Wort Gottes gilt im Wahhabiyya-Islam als vollkommen. Die tradierten islamrechtlichen Lehrschulen und deren Nachahmung bzw. Befolgung (Taqlid) gelten als unstatthafte Veränderungen der reinen Lehre. Dem wird im Wahhabismus der »Idschtihad«, die eigenen Lektüre von Koran und Sunna (den in den Hadith gesammelten Aussprüchen und Handlungen Muhammeds), gegenüber gestellt. Der fromme Muslim soll sich an der originären Offenbarung ausrichten; der Weg dorthin führt über die eigenen Exegese und somit über die Verwendung des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen (in diesem Falle der tradierten Rechtsschulen) (Commins 2009).

Bei den so genannten Reformern oder Modernisten, wie Dschamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Raschid Rida, entfalteten sich rationalistische Elemente dieser Theorie. Das Denken dieser als Salafiyya bezeichneten Tradition entwickelte sich im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit dem westlichen Kolonialismus und der Frage nach der Ursache für die Unterlegenheit der islamischen Welt gegenüber dem Westen. Das Denken der Reformer war einerseits geprägt von antikolonialistischen und panislamischen Topoi, die bis heute sinnstiftend sind für den politischen Islam, vor allem für dessen radikal-dschihadistische Ausprägungen. Andererseits resultierte es aus dem expliziten Drang nach Modernisierung und Erneuerung der arabischen Welt, sowohl im theologischen wie im sozio-ökonomischen Sinne. Dieser Modernisierungsanspruch ist stets mit dem Bezug auf die »frommen Altvorderen« verknüpft: Die Errungenschaften der Modernisierung werden rückprojiziert auf gesellschaftliche Verhältnisse, die in der Vergangenheit geherrscht hätten und deren Verfall mit dem Abfall vom ursprünglichen Islam zu erklären sei (Seidensticker 2015).

Der Übergang von den islamischen Modernisten zum heutigen (Neo-) Salafismus ist durch eine radikale Auflösung dieser Ambivalenz von Modernisierungsgedanken und religiöser Tradition gekennzeichnet. Verstanden al-Afghani, Abduh und Rida die Ablehnung des »Taqlid« noch als implizit rationalistisches Projekt, nämlich als Zurückweisung tradierter Lehrauffassungen zugunsten der eigenen Lektüre der Quellen, wandelt sich diese Position nun zur Ablehnung von Interpretation schlechthin. Nicht mehr nur die tradierten Rechtsauffassungen sollen zurückgewiesen werden, sondern jede »menschengemachte« Deutung.

Im öffentlichen Diskurs des Westens wird unter »Salafismus« inzwischen meist eine gewaltbereite, explizit auf politische Herrschaft ausgerichtete und (neo-) fundamentalistische1 Strömung des sunnitischen Islam subsumiert. Diese Begriffsverwendung ist problematisch. Zum einen ist der Bezug auf die »frommen Altvorderen« unterschiedlichen, zum Teil äußerst heterogenen Strömungen des sunnitischen Islam gemein; zum anderen befürworten keineswegs alle Strömungen, die tatsächlich als neofundamentalistisch eingestuft werden können, den Einsatz von Gewalt. Die als »Salafiyya« bzw. »Salafi« bezeichneten Bewegungen reichen somit von solchen, die in der Tradition des islamischen Modernismus stehen, bis zu solchen, die der wahhabitischen Lehre folgen.

Der gegenwärtige Salafismus steht zwar hinsichtlich seiner antiimperialistischen und panislamischen Grundausrichtung weiterhin in der Tradition der Salafiyya, negiert jedoch deren rationalistische Elemente bzw. deutet diese um. Überdies spitzen die neosalafistischen Bewegungen die Doktrin der Wahhabiyya extrem zu und sind daher nicht mit Letzterer gleichzusetzen. Etlichen dschihadistischen Strömungen, wie al-Qaida oder dem IS, gilt selbst das saudische Herrscherhaus als Feind.2 Die Radikalisierung betrifft zwei Aspekte der wahhabitischen Doktrin. Erstens gilt die Zurückweisung des Taqlid explizit auch für die vier großen islamischen Rechtsschulen, d.h. es wird der Bruch mit der hanbalitischen Rechtsschule vollzogen, deren Entscheidungspraxis der Wahhabismus anerkennt. Zweitens verfügt der Salafismus anders als der Wahhabismus nicht über eine Legitimations- und Staatsideologie, es fehlt ihm somit ein staatstragendes Element (Seidensticker 2015).

Der Islam als politische Theorie

Zwar gab es bereits im 19. Jahrhundert Denker, die islamische Theologie, Politik und Staatlichkeit im modernen Sinne zusammendachten, doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstand mit der ägyptischen Muslimbruderschaft eine erste genuin politische Bewegung mit islamischem Charakter. Als ideologischer Vordenker der Muslimbruderschaft gilt Sayyid Qutb; vor allem sein Werk »Zeichen auf dem Weg« hatte enormen Einfluss auf die Entwicklung des politischen Islam, weit über den unmittelbaren Wirkungskreis der Organisation hinaus.

Im Zentrum der Theorie Qutbs steht »Dschahiliyya«, die sich ursprünglich auf die vorislamische Zeit der »Unwissenheit« bezog. Qutb verwendet den Begriff unter Bezug auf Ibn Taimiyya jedoch in einem aktualisierten Sinne: »Dschahiliyya« ist demnach nicht eine abgeschlossene historische Epoche, sondern herrscht überall dort, wo eine Gesellschaft von den Geboten Gottes abweicht, insbesondere dann, wenn sie gegen »Hakimiyya«, das Prinzip der (Allein-) Herrschaft Gottes, verstößt.

Hier zeigt sich ein zentrales ideologisches Topos des politischen Islam, das in nahezu all dessen Spielarten und Bewegungen rezipiert wurde: die radikale Ablehnung all jener politischer Herrschaftsformen, die als Souveränität des Menschen über den Menschen verstanden werden. So zielt die Kritik des politischen Islam an westlicher Demokratie nicht so sehr auf das demokratische Prinzip an sich ab, sondern vielmehr auf das Prinzip der Volkssouveränität. Als größtes Sakrileg gilt nicht die Herrschaft mittels Demokratie, sondern die Herrschaft des Menschen anstelle der Herrschaft Gottes (Damir-Geilsdorf 2003).

Auch »Dschihad« und »Takfir« gehören zu jenen Begriffen, die maßgeblich durch Qutb popularisiert wurden. In der islamischen Theologie gibt es mehrere Auslegungen des Dschihad-Begriffes, deren Unterschiede sich in der Regel an drei Kernfragen orientieren. Erstens: Ist mit »Dschihad» (in etwa »Anstrengung«) eher individuelle Selbstdisziplin und Selbstüberwindung, also der Kampf gegen sich selbst, oder Kampf in einem militärischen Sinne gemeint? Zweitens: Ist der militärische Dschihad rein defensiv oder auch im Sinne einer offensiven Expansion zu verstehen? Drittens: Besteht eine individuelle Pflicht zum Dschihad? (Heine 2003) Der so genannte »Islamische Staat« steht in diesem Sinne für eine rein militärische, expansive und stark auf die individuelle Pflicht fokussierte Auslegung des »Dschihad«.

»Takfir« steht für die Exkommunikation von Muslimen durch andere Muslime. Auch bei diesem Begriff besteht eine lange Tradition mal engerer, mal weiterer historischer Auslegungen dessen, was für einen Muslim einen Abfall vom Glauben und damit das todeswürdige Verbrechen der Apostasie konstituiert. Während sich z.B. die vier großen islamischen Rechtsschulen wechselseitig ebenso anerkennen wie die meisten Strömungen des sunnitischen bzw. schiitischen Islam, gelten für die (neo-) salafistischen Strömungen Schiiten als Apostaten. Der IS dehnt das Takfir gar auf alle aus, die nicht seiner spezifischen Lesart des sunnitischen Islam folgen (wozu die Anerkennung Abu Bakr Al-Baghdadis als Kalif gehört).

Einer der Begründer des ägyptischen »Islamischen Dschihad«, einer radikalen Splittergruppe der Muslimbruderschaft, war Aiman az-Zawahiri, der später als Chefideologe von al-Qaida das Gedankengut Qutbs popularisieren sollte. Auch die »Hamas« entstand ursprünglich aus einem palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft, nahm aber erst zu Beginn der ersten Intifada den bewaffneten Kampf auf. Die »Hamas« (Al-Harakat al-muqawama al-islamiyya – Bewegung des Islamischen Widerstandes) sowie die libanesische Schiiten-Miliz »Hizbullah« (Partei Gottes) setzten als erste Bewegungen des politischen Islam das Selbstmordattentat als Mittel des militärisch-politischen Kampfes ein. Die ersten Anschläge dieser Art wurden zu Beginn der 1980er Jahre mutmaßlich von schiitischen Milizen im Libanon durchgeführt. Im Jahre 1993, gegen Ende der ersten Intifada, fand der erste palästinensische Selbstmordanschlag statt.

Islamische Revolution und revolutionäres Schiitentum

Eine besondere Stellung nimmt die schiitische Variante des politischen Islam ein, die in der islamischen Republik Iran offizielle Staatsideologie ist. Die Schia (vom arabischen »Schiat Ali« – Partei Alis) bildete sich Mitte des siebten Jahrhunderts heraus. Dabei ging es um die Frage, wem nach Muhammeds Tod die Position des Kalifen zukomme. Die Schiiten ergriffen Partei für Ali, den Schwiegersohn Muhammeds. Die Niederlage der Schiiten in diesem gewaltförmig ausgetragenen Konflikt trug zur Herausbildung eines signifikanten Distinktionsmerkmals der Schia bei: Der Verwandtschaftslinie Alis folgend wurden fortan dessen Nachkommen als Imame verehrt. Die unterschiedlichen Strömungen der Schia unterscheiden sich u.a. darin, wie viele Imame sie als Nachfolger Muhammeds anerkennen (sieben oder zwölf). Die größte Strömung ist die Zwölfer-Schia, der u.a. Ajatollah Khomeini, der Führer der Islamischen Revolution von 1979, und die Vertreter der libanesischen Hisbollah angehören.

In den meisten Phasen ihrer Geschichte waren Schiiten eine bedrohte und verfolgte Minderheit. Dies schlägt sich bis heute in zentralen theologischen Aspekten, beispielsweise dem besonders ausgeprägten Märtyrerkult, nieder. Das Selbstverständnis als Religion der Underdogs ist auch tragendes Element der klerikal-politischen Ideologie Ajatollah Khomeinis. Dieser interpretierte den Islam zu einer Art Befreiungstheologie des »Mostazafin«, der Unterdrückten, um und integrierte so zentrale Elemente antikolonialistischer »third ­worldism«-Ideologien in das Konzept eines sozialrevolutionären und antikolonialen Islam. Nach Khomeinis Rückkehr aus dem Exil gelang es den gut organisierten Kräften des politischen Schiitentums im Iran schnell, die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung zu erlangen und kurz darauf die Islamische Republik auszurufen.

Khomeinis Konzept der Herrschaft der Schriftgelehrten (Welayat-e Faghih) konstituiert seither die theokratische Legitimationsideologie der islamischen Republik Iran. Die Zwölfer-Schia vertritt den Glauben an die Erlösung der Welt durch die Rückkehr des Mahdi, des in die Entrückung verschwundenen zwölften Imam. Bis dahin sollen die Ulama, die Schriftgelehrten, welche als besonders gebildete Theologen als Einzige Einsicht in den Plan Gottes haben, die Leitung der Politik übernehmen. Der zentrale theologische Unterschied zu den eher qietistischen Auslegungen des schiitischen Islam, wie ihn der Großteil der schiitischen Ulama verfolgt, liegt gemäß Khomeinis Konzept in dem Gedanken, die Wiederkunft des Mahdi könne durch menschliches bzw. politisch-revolutionäres Handeln eingeleitet bzw. beschleunigt werden.

Des Weiteren gelten im Denken Khomeinis Nationen als vom Imperialismus geschaffene Kunstprodukte. Sie haben keinerlei Daseinsberechtigung und dienen nur dazu, die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, zu spalten (Khomeini 2002, S. 29f.). Dieser ideologische Topos des politischen Islam findet sich gleichermaßen in dessen sunnitischen Strömungen. Auch dafür ist der »Islamische Staat« ein aktuelles Beispiel, denn er stellt sein militärisches Expansionsprojekt explizit unter das Banner der Zerschlagung nationalstaatlicher Grenzen in der islamischen Welt.

Von al-Qaida zum IS

Die Entstehung von al-Qaida (die Basis) datiert auf den Beginn der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 1979. Auf Initiative des saudi-arabischen Staatsbürgers Osama bin Laden wurde zu jener Zeit im pakistanischen Peschawar ein Büro eingerichtet, in dem sich Freiwillige aus der gesamten arabischen Welt melden konnten, um den Kampf gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Diese »afghanischen Araber« bildeten den organisatorischen Kern dessen, was später al-Qaida bilden sollte. Die ursprünglich vom US-Geheimdienst CIA finanzierten Kämpfer begannen bereits Anfang der 1990er Jahre, sich gegen ihre einstigen Gönner zu wenden. Grund dafür war die Entscheidung des saudischen Herrscherhauses, den USA die Einrichtung von Militärbasen in Saudi-Arabien zu genehmigen. Al-Qaida galt die Präsenz westlicher Soldaten im historischen Kernland des Islam als besonders perfider Frevel.

In den Jahren darauf mehrten sich sowohl Anschläge gegen US-amerikanische Militäreinrichtungen und solche ihrer Verbündeter als auch gegen Zivilisten, beispielsweise beim Attentat von Luxor 1997 mit mehreren Dutzend Toten. Die Führung von al-Qaida konnte dabei stets aus »sicheren Häfen« operieren, zunächst aus dem islamistisch regierten Sudan unter Umar al-Baschir, später aus dem von den Taliban beherrschten Afghanistan. Seit dem Sturz der Taliban durch die von den USA geführte Militärintervention im Jahr 2001 ist al-Qaida zu einer klandestinen und dezentralen Organisationsweise gezwungen. Eine zentrale Streitfrage der zwar noch jungen, aber umfangreichen Forschungsliteratur zum Thema al-Qaida dreht sich darum, ob al-Qaida und ihre jeweiligen regionalen Ableger (im Maghreb, Jemen, Irak, aber auch die deutsche »Sauerlandzelle«) Teile einer hierarchisch geführten Organisation sind.3

Unter Führung des Jordaniers Abu Musab az-Zarqawi formierte sich nach der US-Invasion im Irak 2003 mit »al-Qaida im Irak« der wahrscheinlich schlagkräftigste regionale Ableger der Organisation. Ihr operationales Ziel bestand vor allem darin, mittels gezielter Anschläge gegen die schiitische Infrastruktur sowie gegen schiitische Zivilisten und US-Soldaten den Widerstand gegen die US-Besatzung voranzutreiben sowie einen Bürgerkrieg im Irak auszulösen (Wichmann 2014, S. 272f.). Kernpunkt dieser Konzeption war eine „Eskalationsstrategie, die auf ein durch Chaos erzeugtes Machtvakuum spekuliert (Wichmann 2014, S.  253). Die Versäumnisse und Inkompetenzen der US-amerikanischen Militärverwaltung des Irak trugen in dieser Situation dazu bei, die Gesellschaft zu spalten. Zentrale Entscheidungen der Militärverwaltung unter General Bremer, wie die radikale und überhastete »Ent-Bathifizierung« des irakischen Beamten- und Militärapparates, die unzureichende Bereitstellung militärischer Kräfte zum Erhalt der öffentlichen Ordnung sowie die von Anfang an betriebene Ethnisierung des politischen Systems (Hiltermann 2006) wurden zu Ausgangspunkten für das Chaos im Nachkriegsirak.

In den folgenden Jahren konnte sich »al-Qaida im Irak« in den sunnitischen Stammesgebieten im Westen des Landes eine solide Operationsbasis verschaffen, die erst durch das als »Anbar Awakening« bezeichnete Aufbrechen des Bündnisses der sunnitischen Stämme mit al-Qaida verloren ging, wodurch die Organisation massiv an Schlagkraft einbüßte. In dieser angespannten Lage bot der beginnende syrische Bürgerkrieg einen viel versprechenden Ausweg. Mit der Verlagerung der Organisation, die sich mittlerweile »Islamischer Staat im Irak und der Levante« nannte, nach Syrien ging ein zentraler Herrschaftskonflikt zwischen dem IS und dessen Ableger al-Nusra-Front (Unterstützungsfront für das syrische Volk) einher, der letztlich zur Abspaltung des IS von al-Qaida führte (Al-Tamimi 2013, S. 19ff.). Seither stehen sich beide Organisationen feindlich gegenüber.

Quo vadis?

Die gegenwärtige Entwicklung des politischen Islam scheint von zwei wesentlichen Ereignissen geprägt: zum einen vom Aufstieg des »Islamischen Staates« und der damit einhergehenden Diskussion über die Attraktivität von dessen Ideologie für Muslime in Europa, zum anderen von der Entstehung demokratisch legitimierter, von islamistischen Parteien geführter Regierungen in Ägypten und Tunesien im Zuge des Arabischen Frühlings. Im Falle Ägyptens wurde die Herrschaft der Muslimbruderschaft allerdings durch den militärischen Putsch General as-Sisis nach kurzer Zeit wieder beendet. Seitdem wird Ägypten von einem sich zunehmend autoritärer gebärdenden Militärregime beherrscht. In Tunesien erlangte in den ersten freien Wahlen die Ennahda-Partei (Harakat an-Nahda, Wiedergeburt) die Macht. Ähnlich wie im Falle der Muslimbrüder in Ägypten trug hier vor allem der organisatorische und infrastrukturelle Vorsprung der Kräfte des politischen Islam maßgeblich zu ihrem Wahlsieg bei.

Die Ennahda in Tunesien und der IS stehen stellvertretend für die Komplexität und Bandbreite des Labels »politischer Islam«. Während unter der Herrschaft der tunesischen Islamisten ein signifikanter Mäßigungsprozess innerhalb der Ennahda-Partei einsetzte, der sich auch in einer überraschend liberalen Verfassung niederschlug, errichtete der IS in Teilen Syriens und des Irak eine ultra-fundamentalistische Schreckensherrschaft, deren Auswirkungen bis in die europäischen Metropolen zu spüren sind.

Es bleibt abzuwarten, ob der politische Islam langfristig den Weg des revolutionären Terrors oder den der parlamentarischen Inklusion einschlagen wird – oder ob die ihm inhärente politische Heterogenität langfristig erhalten bleibt.

Anmerkungen

1) Zum Begriff des Neofundamentalismus vgl. Roy 2006.

2) Vgl. hierzu vor allem Osama bin Ladens Kriegserklärung an das saudische Herrscherhaus; in: Kepel/Milelli 2006.

3) Eine Überblicksdarstellung der Diskussion findet sich bei Hellmich 2001, S. 30-37.

Literatur

al-Tamimi, A.J. (2013): The Islamic State of Iraq and Al-Sham. Middle East Review of Inter­national Affairs 17:3, S. 19-44.

Commins, D. (2009): The Wahhabi Mission and Saudi Arabia. London: I.B. Tauris.

Damir-Geilsdorf, S. (2003): Herrschaft und Gesellschaft – Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption. Würzburg: Ergon.

Gulmohamad, Z.K. (2014): The Rise and Fall of the Islamic State of Iraq and Al-Sham (Levant) ISIS. Global Security Studies 5(2), S. 1-11.

Heine, P. (2003): Islam zur Einführung. Hamburg: Junius.

Hellmich, C. (2012): Al-Qaida – Vom globalen Netzwerk zum Franchise Terrorismus. Darmstadt: Primus.

Hiltermann, J. (2006): Iraq and the New Sectarianism in the Middle East. Synopsis of a presentation at the Massachusetts Institute of Technol­ogy, 12.11.2006. International Crisis Group.

Kepel, G.; Milelli, J.-P. (2006): Al-Qaida: Texte des Terrors. München: Piper.

Khomeini, R.M. (2002): Islamic Government – Governance of the Jurist. Teheran: The Institute for Compilation and Publication of Imam Khomeini’s Works.

Seidensticker, T. (2015): Islamismus – Geschichte, Vordenker, Organisationen. München: C.H. Beck.

Roy, O. (2006): Der islamische Weg nach Westen – Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon.

Wichmann, P. (2014): Al Qaida und der globale Djihad. Wiesbaden: Springer VS.

Adrian Paukstat studiert sozialwissenschaftliche Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Zuvor schloss er ein Studium der Geschichte und Anglistik sowie ein Sprachenstudium des Hebräischen in Augsburg und Jerusalem ab. Er beschäftigt sich primär mit Internationalen Beziehungen mit Schwerpunkt Naher Osten und politischer Theorie.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/3 Politischer Islam, Seite 6–9