W&F 2006/4

Präsenz zeigen

Die deutsche Außenpolitik im Dienst des Militärs

von Peter Strutynski

Im Geschacher um einen Einsatz der deutschen Marine vor den Küsten Libanons fällt viel Schatten auf die deutsche Außenpolitik. So war im Halbdunkel kursierender Gerüchte um die Formulierung von Einsatzangeboten der Bundesregierung und Einsatzanforderungen Libanons kaum noch zu erkennen, worin das politische Ziel und – vor allem – der humanitäre Ertrag für die vom Krieg betroffene libanesische Bevölkerung liegen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die politische Klasse in Berlin handele nach dem Muster: Wenn die Politik mit ihrem Latein am Ende ist, überlässt sie das Denken dem Militär. Das Militär seinerseits hat sich ganz dem »olympischen« Wahlspruch ergeben: „Dabei sein ist alles“.

Noch während der UN-Sicherheitsrat im August über einer Resolution zur Beendigung der Kämpfe im israelischen Krieg brütete, war sich die Große Koalition schon darin einig, die Bundeswehr in den Nahen Osten zu schicken – erst danach begann man in Berlin zu überlegen, was sie denn dort überhaupt tun solle. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst Gertz, hat in einer Phoenix-Fernsehrunde am 5. September davon gesprochen, dass die Marine deshalb besonders geeignet sei für den Libanoneinsatz, weil es in dieser Waffengattung noch genügend Ressourcen gäbe. Die anderen Teilstreitkräfte sind mit ihren terrestrischen Einsätzen vom Balkan über den Kongo bis nach Afghanistan bis an die Halskrause ausgelastet. Da macht es dann auch nichts, wenn der Einsatz vor den Küsten der Levante militärisch wenig Sinn macht. Wollte man wirklich die Waffenlieferungen an die Hisbollah behindern – erklärtes Ziel der Bundesregierung –, dann wären doch wohl eher die Landwege vom Iran über Syrien in den Libanon unter die Lupe zu nehmen. Dafür aber gibt es kein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Also begnügt man sich mit dem militärisch überflüssigen, symbolisch aber umso wichtigeren Einsatz deutscher Fregatten, Korvetten und Versorgungsschiffe im südöstlichen Mittelmeer.

»Präsenz zeigen« ist in dem Zusammenhang eines der beliebtesten Wörter der Berliner Regierung geworden. Präsenz zeigen, um potenzielle Waffenschmuggler abzuschrecken, Präsenz zeigen, um dem Verbündeten Israel zu bedeuten, dass man ihn nicht alleine lässt und »deutsche Verantwortung« übernimmt, Präsenz zeigen, um den Anspruch Deutschlands auf eine gewichtigere Rolle in den Vereinten Nationen zu unterstreichen. Präsenz zeigen aber auch, um der kriegsunwilligen deutschen Bevölkerung zu zeigen, dass deutsche »Normalität« heute anders aussieht.

Mit einem Militäreinsatz zur Regulierung des israelisch-libanesischen Konflikts reißt Deutschland das letzte Tabu nieder, das die deutsche Nachkriegspolitik trotz aller Kalten-Kriegs-Töne Jahrzehnte lang bestimmte: Für undenkbar galt, militärisch in einen Konflikt einzugreifen, in dem die Nachkommen der vom deutschen Faschismus vernichteten sechs Millionen Juden zu Schaden kommen könnten. Genau das aber ist bei einem wirklich neutralen, das heißt die Konfliktparteien auseinander haltenden Blauhelmeinsatz – ob robust oder nicht – möglich.

Es sei denn, Deutschland nimmt den UN-Auftrag – die Verpflichtung zur Neutralität – nicht ernst und greift militärisch als Partei in den Nahost-Konflikt ein. Dafür spricht Vieles. Unmissverständlich erklären z.B. die Propagandisten eines deutschen Militäreinsatzes, es sei Deutschlands Hauptaufgabe im Nahen Osten, Israel zu schützen, da es sich hier um die einzige Demokratie in der Region handele und weil man das den Juden aus historischen Gründen schuldig sei. Selbst die anfänglichen konservativen Gegner eines Militäreinsatzes, wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, argumentierten auf der selben Linie wie die Befürworter: Wollten die einen nicht dabei sein, weil man dann ja womöglich in die Lage kommen könnte, „auf Israelis zu schießen“, so wollen die anderen unbedingt dabei sein, weil der Schutz israelischen Lebens einen besonders hohen Wert darstelle. Diese Spielart des voreingenommenen Philosemitismus ist bei genauem Hinsehen nichts anderes als ein latenter Rassismus. Im Umkehrschluss heißt das: Auf alles andere, auf islamische Hisbollah-Kämpfer, auf libanesische Soldaten, auf Hamas-»Terroristen«, auf irgendwelche anderen »Araber« kann sehr wohl geschossen werden, nur Israelis sind »Tabu«. Das aber ist nur die halbe Konsequenz aus der deutschen Geschichte, der wir uns selbstverständlich alle stellen müssen. Aus der Erfahrung des schrecklichsten Kapitels der deutschen Geschichte mit der millionenfachen Judenvernichtung und der Behandlung anderer, insbesondere slawischer Völker als »Untermenschen« muss auch die Lehre gezogen werden: Deutschland darf Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Religion usw. nie wieder als mehr oder weniger »minderwertig«, aber auch nicht als mehr oder weniger »höherwertig« klassifizieren. Deutschland muss das Lebensrecht aller Menschen gleich hoch bewerten. Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung 1948 und in den beiden Menschenrechtskonventionen (Sozialpakt und Zivilpakt, 1967) verankert wurden, haben eben universelle Gültigkeit.

In der Bundestagsdebatte am 19. und 20. September zum Antrag der Bundesregierung, bis zu 2.400 Soldaten in den Nahen Osten zu entsenden, waren sich – mit Ausnahme der Vertreter der Linksfraktion – alle Redner/innen darin einig, dass Israel beim Libanonkrieg nur von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht habe und bei allen anderen Kriegen – auch denen, die vielleicht noch kommen mögen – das internationale Recht und natürlich auch Deutschland auf seiner Seite habe, während die Hisbollah (ersatzweise: die Hamas oder andere arabische Gegner Israels) der eigentliche Aggressor sei. Eine sehr einseitige Sicht, der zu Grunde liegt, dass das Kidnapping der beiden israelischen Soldaten am 12. Juli d. J. die Ursache des Krieges gewesen sei. Eine Position, die sich auch in der UN-Resolution 1701 (2006) wiederfindet, die aber leider nicht das Monate, ja, Jahre dauernde Konfliktgeschehen im israelisch-libanesischen Grenzgebiet im Ganzen betrachtet. Beispielsweise spricht der letzte Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über die Tätigkeit von UNIFIL davon, dass dem 12. Juli „permanente provokative“ Grenzverletzungen („persistent and provocative Israeli air incursions“) der israelischen Luftwaffe vorausgegangen seien (S/2006/560 – 21 July 2006). Obwohl man es also besser wissen könnte, weil die entsprechenden Dokumente vorliegen, beruht der von der herrschenden Meinung dominierte öffentliche Diskurs über den Nahen Osten auf der unausgesprochenen und nicht mehr hinterfragbaren »Geschäftsgrundlage «, dass Israel im Recht, seine Gegner im Unrecht seien. Wer das anzweifelt und für seine Zweifel nach historischen Belegen sucht (wobei man nicht lange suchen muss), gerät dann schnell in die Gefahr, nicht auf dem Boden des Rechts zu stehen bzw. antiisraelische oder sogar antisemitische Ressentiments zu bedienen.

Besonders forsche Apologeten der israelischen (Kriegs-)Politik, ob sie aus der diffusen Ecke der sog. Antideutschen oder aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland kommen, tun sich nicht mehr so leicht mit ihren grobschlächtigen Klassifizierungen in gut oder böse, seit ihnen aus den eigenen Reihen heraus widersprochen wird. Die »Europäischen Juden für einen gerechten Frieden« stellten sich in einer öffentlichen Erklärung hinter Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul, nachdem diese den israelischen Angriff auf den Libanon als „völkerrechtswidrig“ beurteilt hatte und vom Zentralrat der Juden hierfür heftig angegriffen worden war. Kurze Zeit später meldete sich Rolf Verleger, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Lübeck und zugleich im Direktorium des Zentralrats, zu Wort und kritisierte die völlige Identifikation des Zentralrats der Juden mit der Außenpolitik Israels. „In einer Zeit“, so monierte Verleger, „in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert“, könne vom Zentralrat der Juden erwartet werden, „dass das wenigstens als Problem erkannt wird.“ Und Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des angesehenen früheren Zentralrats-Präsidenten Heinz Galinski, legte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 1. September nach, indem sie dem Zentralrat vorwarf, sich „zum wiederholten Male als Sprachrohr der israelischen Regierung in Deutschland“, als „Propagandamaschinerie“ zu verstehen, „anstatt sich um die sozialen Belange der Gemeindemitglieder in den jüdischen Gemeinden in Deutschland zu kümmern.“ Das sei seine „eigentliche Aufgabe“. Sie legt auch den Finger auf einen wunden Punkt der öffentlichen Diskussion und der mangelnden Bereitschaft der Linken und der Friedensbewegung, sich in der Nahostfrage stärker zu engagieren: „Ich kriege so viele Zuschriften von sehr, sehr engagierten Deutschen, die absolut nicht in der rechten Ecke sind, die sich aber schon gar nicht trauen, den Mund aufzumachen. Die sagen immer, ,Sie können das mit ihrem Namen, aber wenn wir das sagen, sind wir sofort Antisemiten‘.“ Mit dem Antisemitismus-Vorwurf hantiert besonders schnell die streitbare Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, die vor kurzem sowohl der Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul als auch dem Linksfraktions-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vorwarf, sie unterstützten mit ihrer Kritik an Israel „die Anti-Stimmung gegen Juden in Deutschland“. Dem hält Hecht-Galinski entgegen, dass „nicht diejenigen, die Israels Politik kritisieren“, den Antisemitismus „fördern“, sondern diejenigen, „die schweigen und damit zulassen, dass das Bild von hässlichen Israeli und inzwischen auch von hässlichen Juden“ entstehen könne. Die Ursache für eine hier zu Lande steigende antiisraelische Stimmung liege in erster Linie an der israelischen Politik, „die durch nichts mehr zu rechtfertigen“ sei.

Linke Intellektuelle – deren Ahnengalerie gespickt ist mit jüdischen Denkern – und die Friedensbewegung taten sich schwer, die israelische Politik in den letzten Wochen und Monaten als das hinzustellen, was sie ist: völkerrechtswidrig, aggressiv und menschenverachtend. „Jegliche Kritik wird als Antisemitismus verurteilt, und dadurch ist ja schon fast jeder mundtot gemacht worden“, sagte Frau Hecht-Galinski und kann sich dabei auch auf Erfahrungen der Organisation »Europäische Juden für einen gerechten Frieden« (EJJP) stützen, deren Mitglied sie ist und deren Stimme nur sehr selten ein Echo in den Mainstream-Medien findet. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, die USA – und nicht die Israelis – hätten den Libanon-Krieg geführt: Wäre da nicht ein Aufschrei durch die Welt, auch durch Deutschland gegangen? Hätten sich da nicht wieder unzählige Intellektuelle, politische, soziale und kulturelle Organisationen und Institutionen zu Wort gemeldet und ihren geharnischten Protest hinaus posaunt? Die Friedensbewegung hätte mit Sicherheit wieder größere Menschenmassen auf die Straße gebracht. Kurz: Die Empörung über einen völkerrechtswidrigen Krieg, über Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Genfer Konvention hätte über die Linke und die Friedensbewegung hinaus breite Teile der Gesellschaft erfasst. Israels Krieg gegen Libanon und – nicht zu vergessen – die andauernden militärischen »Strafaktionen« gegen Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland verstießen genauso gegen Völkerrecht, Genfer Konvention und alle einschlägigen Menschenrechtskonventionen. Der lautstarke Protest dagegen blieb aus, weil die Hemmschwelle, Israel zu kritisieren, ungleich höher liegt als im Fall der USA.

Soweit das historische Bewusstsein und politische Gewissen der Deutschen dafür verantwortlich sind, dass diese Hemmschwelle höher liegt als bei jedem anderen Staat, ist das sogar ein zivilisatorischer Fortschritt. Das Bekenntnis der Deutschen zu ihrer nicht tilgbaren Schuld gegenüber den Juden impliziert immer auch eine besondere Verantwortung für deren Schutz und Sicherheit – nicht nur in Israel übrigens, sondern auch bei uns und überall in der Welt. Wenn die politische Klasse daraus allerdings eine »Staatsräson« macht, welche die bedingungslose Solidarität mit Israel zum wichtigsten Credo deutscher Außenpolitik im Nahen Osten erklärt, beraubt sie sich jeglichen politischen und diplomatischen Handlungsspielraums. Die Rede der Bundeskanzlerin in der Haushaltsdebatte am 6. September war diesbezüglich eine Offenbarung. „Es muss verhindert werden, dass deutsche Soldaten auf Israelis schießen, und sei es nur ungewollt“, sagte sie. (Dürfen wir ergänzen: Es bereitet uns kein Problem auf andere zu schießen?). Und die Kanzlerin fährt fort: „Wenn es aber zur Staatsräson Deutschlands gehört, das Existenzrecht Israels zu gewährleisten, dann können wir nicht einfach sagen: Wenn in dieser Region das Existenzrecht Israels gefährdet ist – und das ist es –, dann halten wir uns einfach heraus.“ Wann wird es dieser Kanzlerin und all jenen, die sich ihrer Staatsräson verschrieben haben, dämmern, dass die Sicherheit Israels langfristig nur dadurch zu erreichen ist, dass auch die Sicherheit der Palästinenser und aller anderen Staaten der Region garantiert wird? Krieg und Militär, das zeigt die Geschichte des Nahen Ostens der letzten 58 Jahre, haben noch nie einen Beitrag dazu geleistet.

Der Einsatz der deutschen Marine vor Libanons Küste, der am 20. September vom Bundestag mit Dreiviertelmehrheit beschlossen wurde, wird erstens die Gewalt im Nahen Osten nicht beenden. Der nächste militärische Konflikt wartet gleichsam »auf Wiedervorlage«. Zweitens wird Israel, ohnehin hochgerüstet dank US-amerikanischer und deutscher Militärhilfe, einen verlässlichen Alliierten »vor Ort« haben. Das ist zwar nicht (ganz) im Sinne der UN-Resolution 1701 und des entsprechenden Mandats des Sicherheitsrats für UNIFIL, aber es könnte – drittens – ein weiterer Bestandteil der US-Kriegsvorbereitungen werden, die auf Syrien und den Iran abzielen. Die USA halten ja nach wie vor an ihrer Drohkulisse gegen Iran fest und schließen einen Krieg nicht aus – der israelische Minister Jacob Edri ist von der Notwendigkeit dieses Krieges sogar überzeugt (Thüringer Allgemeine vom 05.09.06). Eine deutsche Truppenpräsenz vor Libanons Küste könnte Deutschland also auch in einen größeren Krieg hinein ziehen. Frau Merkel wäre, als sie noch nicht Kanzlerin war, gern beim US-Krieg gegen Irak mitmarschiert. Ob ihr damaliger Traum sich gegen Iran erfüllt? Er geriete zum Alptraum – für alle Beteiligten: Die Bundeswehr »zeigt Präsenz« im Libanon und wird »präsent« im nächsten Nahost-Krieg.

Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler; Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni Kassel, die die jährlichen »Friedenspolitischen Ratschläge« veranstaltet.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/4 Zivil-militärische Zusammenarbeit, Seite