W&F 1994/1

Projekt Weltgerichtshof

von IPPNW

Am 14. Mai 1993 verabschiedete die 46. Weltgesundheitsversammlung (das höchste Organ der Weltgesundheitsorganisation (WHO)) im Palais des Nations in Genf eine historische Resolution, die sich wahrscheinlich als Meilenstein in der Geschichte des Ringens um Abrüstung erweisen wird. Sie enthält die Anweisung an die Weltgesundheitsorganisation, beim Internationalen Gerichtshof ein Gutachten darüber anzufordern, welcher rechtliche Status dem Einsatz nuklearer Waffen zukommt. Die (geheime) Abstimmung fiel so aus: 73 Stimmen dafür, 40 Stimmen dagegen, 10 Enthaltungen.

Mit Schreiben vom 27. August hat der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, Dr. Hiroshi Nakajima, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag (»Weltgerichtshof«) in offizieller Form um ein Rechtsgutachten in folgender Frage ersucht: „Wäre der Einsatz von Atomwaffen durch einen Staat in einem Krieg oder einem anderen bewaffneten Konflikt im Hinblick auf die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt ein Verstoß gegen die Verpflichtungen dieses Staates gemäß Völkerrecht und der Satzung der WHO?“

Befürworter der Resolution (viele atomwaffenfreie Staaten, angeführt von Sambia und Simbabwe, zusammen mit den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs) argumentierten, die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen sei in einer Welt, in der sich das Atomwaffenpotential mit großer Geschwindigkeit ausbreitet, nach wie vor als allerdringlichstes Gesundheitsproblem zu behandeln

Auf politischer und juristischer Ebene stellt ein konkreter Entscheid des Gerichtshofs einen entscheidenden Schritt dar, die von Atomwaffenstaaten vorgebrachten Rechtfertigungen zu entkräften. So trägt er dazu bei, den Prozeß atomarer Entwaffnung, der in den USA und der GUS bereits im Gange ist, zu beschleunigen, und schreckt »Schwellenländer« wirksam davon ab, die atomare Aufstockung ihrer Waffenarsenale zu erwägen. Vor allem erlegt er allen Regierungen unterschiedlos eine Norm auf – ein grundlegend wichtiger Beitrag zum Erfolg der Konferenz zur Verlängerung des Nicht-Verbreitungs-Vertrags im Jahr 1995.

Die Resolution ist das Ergebnis vieler Jahre rechtswissenschaftlicher Arbeit durch Juristen, die aufzeigt, daß der Einsatz von Atomwaffen einen Verstoß gegen die Prinzipien des Kriegsvölkerrechts, welches Nichtkämpfende im Krieg schützen soll, darstellen würde. Sie gründet sich auch auf die Arbeit aller Organisationen heilender Berufe, besonders auf die berühmten WHO-Studien über die Auswirkungen nuklearer Angriffe, die zeigen, daß vorbeugende Verhütung die einzig zuverlässige Form des Schutzes ist.

Am 3. September gab der Weltgerichtshof eine Pressemitteilung heraus, in der er das Ersuchen bekanntgab. IPPNW erhielt die Meldung, daß der Internationale Gerichtshof am Dienstag, den 14. September alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen davon in Kenntnis setzen wird, daß ihnen eine Frist von sechs Monaten eingeräumt wird, um ihre juristische Argumentation vorzubringen, ob der Einsatz von Atomwaffen gemäß internationalem Völkerrecht gesetzlich oder ungesetzlich ist.

Chronik des Projekts

Mai 1992: Das Projekt Weltgerichtshof wird in Genf von den Organisationen Internationales Friedensbüro (IPB), Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) und Internationale Vereinigung von Juristen gegen Kernwaffen (IALANA) gestartet.

9. Mai 1992: Der Resolutionsentwurf A45/A »Auswirkungen von Kernwaffen auf Gesundheit und Umwelt« (»Health and Environmental Effects of Nuclear Weapons«) wird als zusätzlicher Tagesordnungspunkt für die 45. Weltgesundheitsversammlung (WHA) der WHO von 14 Ländern eingebracht. Er fordert beim Internationalen Gerichtshof (ICJ) in Den Haag ein Gutachten über den rechtlichen Status des Einsatzes von Atomwaffen an. Jedoch wird in einem Unterausschuß mit 6 Gegenstimmen, 3 Stimmen dafür und 16 Enthaltungen die Behandlung des Entwurfs im Plenum abgelehnt.

November 1992: Die ständigen UN-Vertreter Panamas und Kenias in Genf beantragen beim Vorstand der WHO, die Resolution auf die Tagesordnung der 46. Weltgesundheitsversammlung zu setzen.

14. Mai 1993: Die 46. Weltgesundheitsorganisation nimmt die Resolution 46.40 »Auswirkungen von Atomwaffen auf Gesundheit und Umwelt«, unterstützt durch 22 Länder, an. Es gibt 73 Stimmen dafür, 40 dagegen und 10 Enthaltungen.

27. August 1993: WHO fordert beim Internationalen Gerichtshof (ICJ) ein Rechtsgutachten an.

September 1993: ICJ reagiert, indem er alle Mitgliedsstaaten der WHO auffordert, innerhalb der nächsten 6 Monate Stellungnahmen zum rechtlichen Status des Einsatzes von Kernwaffen vorzulegen.

14. Oktober 1993: Den Vereinten Nationen (UN) in New York werden Erklärungen des öffentlichen Gewissens vorgelegt: allein aus Japan 42,9 Mio. Unterschriften (Hiroshima- und Nagasaki-Appell) sowie 110.000 weitere, einschließlich 11.000 Unterschriften anerkannter Rechtsanwälte und Richter (MacBride-Appell).

28. Oktober 1993: Die 110 Mitgliedsländer der blockfreien Staaten werden informiert, daß Indonesien bei der UN-Generalversammlung die Resolution A/C.1/48/L.25 »Allgemeine und umfassende Abrüstung« einbringen wird, die ein Gutachten nicht nur über den rechtlichen Status des Einsatzes, sondern auch der Androhung des Einsatzes von Kernwaffen gemäß Völkerrecht anfordert.

4. November 1993: Es wird berichtet, daß die blockfreien Staaten die Resolution möglicherweise nicht einbringen werden, da USA, England und Frankreich massiven Druck ausüben und unter anderem damit drohen, Handels- und Hilfslieferungen zurückzuziehen, falls die Resolution vorgelegt wird.

5. November 1993: Die blockfreien Staaten bringen die Resolution A/C.1/48/L.25 »Allgemeine und vollständige Abrüstung« ein.

19. November 1993: Die blockfreien Staaten ziehen die Resolution A/C.1/48/L.25 »Allgemeine und vollständige Abrüstung« zurück mit der Verlautbarung, dies habe man getan, „um die Anstoßkraft und den Fortschritt zu erhalten, die durch diese Initiativen (USA/GUS-Verhandlungen und die Abrüstungskonferenz) erzeugt wurden … und im Geiste von Zusammenarbeit und Kompromißbereitschaft … .“

November 1993: Es wird behauptet, das US State Department plane möglicherweise, gegen das Einbringen der WHA-Resolution Einspruch einzulegen. Von Seiten der USA würde bei einigen WHO-Projekten von neuem geprüft, ob sie eine Förderung erhalten.

17.-26. Januar 1994: Vorstandssitzung der WHO. IPPNW wird von Dr. Johan Thor (Schweden) und Dr. Hege Raastad (Norwegen) vertreten.

2.-12. Mai 1994: 47. Weltgesundheitsversammlung (WHA)

10. Juni 1994: Stichtag für alle Mitgliedsstaaten die WHO-Stellungnahmen zum rechtlichen Status des Einsatzes von Kernwaffen bei dem Internationalen Gerichtshof vorzulegen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/1 Religion, Seite