W&F 1985/2

Prolegomena einer Philosophie des Friedens

von Hans-Jörg Sandkühler

Es sind die Bedingungen zu klären, unter denen der Satz wahr ist „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst“. Im Rahmen der materialistischen Dialektik argumentierend, könnte ich auch sagen: notwendig ist eine Dialektik oder Kritik des Friedens. Diese Dialektik hat sich in den Erfahrungen derer zu bewähren, die Frieden gebieten wollen und sich politisch und ökonomisch interessierten Friedensverboten ausgesetzt sehen; und sie hat sich in den Wissenschaften zu bewähren, welche die Ursachen des Krieges zu erklären in der Lage sind. Diese philosophische Kritik des Krieges und des Friedens hätte ihre Chance, unter den Menschen verbreitet zu werden.

Denn die Träger dieser Philosophie verlassen die Bunker der Esoterik, um innerhalb der Antikriegsbewegung tätig zu werden. Wer dies tut, läuft gewiß Gefahr, die Anerkennung seiner Wissenschaftsgemeinschaft zu verlieren. Unter Fachphilosophen gilt Günter Anders nicht als Philosoph. Der Vietnamkrieg war kein Thema der Fachphilosophen, der Atomkrieg ist es für die Mehrheit noch immer nicht. Sätze von Günter Anders: „Wer uns gefährdet, soll das auf eigene Gefahr hin tun müssen (…) Das Zeitalter der Intermezzi hat aufzuhören. Die Wirklichkeit hat zu beginnen. Das bedeutet: Die Blockierung der Zugänge zu den kontinuierlich bestehenden Mordinstalationen muß ebenfalls kontinuierlich stattfinden (…) Freunde, Fremde und Feinde, wer nicht mit uns ist, ist gegen sich selbst … Sabotieren wir die Friedenssabotierer!“ Es sind keine philosophischen Sätze, sondern Sätze eines Philosophen, für dessen Handeln philosophische Sätze die Grundlage bilden. Der Preis, daß der Philosoph wegen seiner Praxis als Nicht-Philosoph gebrandmarkt wird, ist gering im Vergleich zum Preis, den Philosophen zahlen, deren philosophische Sätze zu keiner Praxis des Friedens taugen.

Der Frieden der Philosophie mit einer kriegsfähigen Wirklichkeit, den Hegel bereits als Friedhofsruhe verurteilt hat, ist eine Blockade des möglichen Weges zur Wirklichkeit des Friedens. Wenn schon keine ausgeführte Philosophie des Friedens am Ende dieser Überlegungen steht, will ich zumindest Perspektiven nennen, die zu den Prolegomena einer Philosophie des Friedens gehören. Diese Perspektiven betreffen das Wissen der Philosophie und das Verhalten des Philosophen. Denn Philosophie ist nicht allein Form des Erkennens und Wissens; Philosophie ist - ernstgenommen - auch ein Verhalten in der Wirklichkeit. Die vier abschließend genannten Perspektiven gehören zwar zum Katalog der Fragen, auf die der Philosoph in fachlicher Kompetenz Antworten geben kann, aber die Liste der fachlichen Problemstellungen selbst wäre weit umfangreicher. Denn auch dies ist wichtig: der Vorrang, der dem Frieden als Maßstab auch der Philosophie zukommt, darf niemals als Grenze der Erkenntnisanstrengung mißverstanden werden; mit dem Maß „Frieden“ verliert die Philosophie keinen ihrer Gegenstände, sondern sie gewinnt ihre zentrale Orientierung. Im Zentrum der Kritik des Friedens und des Kriegs steht die Vorfrage „Was können wir wissen?“. Daß die Philosophen nach 1945 mehrheitlich geschwiegen haben zur Aufrüstung, zur Rücknahme demokratischer Rechte und zum Raubbau am sozial Erreichten und ihre Phantasielosigkeit in der Definition eines zu humanen Zwecken wünschbaren Friedens das Ausmaß ihres Schweigens noch übertrifft, läßt aus der Frage nach dem, was wir wissen können, den Anstoß zur Selbstkritik philosophischer Intelligenz werden. Vier Antworten, nichts Abschliessendes, nur ein Gesprächsanfang:

1. Die Geschichte der Philosophie ist ein Laboratorium des Friedens

Es gibt eine Geschichte der Philosophie des Friedens. Sie kann als Entwicklung verstanden werden. In ihr ist der Widerspruch sichtbar: es wäre Schönfärberei, die Geschichte der Philosophie allein als die ihres Beitrages zum Frieden zu schreiben.

Philosophen haben den Krieg als Motor der Kultur verherrlicht, und diese „Philosophen“ gibt es schon wieder, wie Andre Glucksmanns „Philosophie der Abschreckung“ zeigt. Aber die Philosophie selbst hat sich in Krieg und Frieden verändert, hat Fortschritte gemacht, und wer sie nicht nutzt, verhält sich reaktionär. Es ist möglich, die Probleme des Überlebens unter den Bedingungen der Koexistenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme geschichtsphilosophisch, ethisch und logisch zu erfassen. Es ist möglich, jenseits des Relativismus eine Ethik zu begründen, deren Maß der Frieden ist. Es ist notwendig, die Möglichkeit der Reversibilität der Geschichte zu begreifen. Und es ist möglich und notwendig, sich erkenntnistheoretisch dem Problem zu stellen, daß unser Erkennen entweder zu spät kommt oder aber das Neue antizipiert, als Tagtraum, als objektiv Mögliches.

Die Philosophie hat in ihrer Entwicklung besondere Fähigkeiten der Erkenntnis herausgebildet, die zu Mitteln jeden Bewußtseins werden können: die Fähigkeit zur Synthese, die Fähigkeit zur Abstraktion vom Unwesentlichen; die Fähigkeit zur allgemeinen Entwicklungsgesetz- Aussage; die Fähigkeit, das Verwirrspiel von Niederlage und Sieg als Fortschritt zu durchschauen. Die Philosophie ist keine empirische Wissenschaft. Kein Zweifel, daß Realität ihr Gegenstand ist; aber sie ist nicht auf Beobachtungsdaten fixiert. Ihr innerer Zustand ist theoretisch: wenn Theorie nicht Abschied von der Wirklichkeit heißt, bietet die Philosophie den Vorzug eines allgemein nutzbaren Speichers historischer Erfahrung und Allgemeinen Wissens. Nichtempirische Theorie, dies bedeutet: hinausgreifen zu können über den Status quo; bedeutet freilich auch die Gefahr der Weltflucht. Die Gefahr der Begriffsspielerei kann gemeistert werden: wenn die Geschichte der Philosophie als Laboratorium des Friedens angeeignet wird, als Entwicklung der intellektuellen Arbeit für den Frieden und gegen den Krieg, und wenn geschichtliches Begreifen das Eingreifen zum Ziel hat. Die der Philosophie oft rechtens, oft aber ganz zu unrecht vorgeworfene Allgemeinheit ihres Wissens über Leben und Tod, Fortschritt und Regression, Notwendigkeit, Möglichkeit und Freiheit, ist ihre Chance - konkrete, auf die Realität verpflichtete Allgemeinheit, so und nur so können sich die Philosophen rehabilitieren.

2. Philosophie muß auch sozial allgemein sein

Der Fall Galilei ist der Fall Philosophie. Was die Philosophen erkennen, ist oft genug in Widerspruch zum Anerkannten, zu Autorität und Zeitgeist. Es gilt als gefährlich und unterliegt der Zensur. Sich nicht zensieren zu lassen, ist Pflicht. Und: die Philosophen haben keine gesellschaftliche Verantwortung für den Frieden, die sie über die Menschen stehen würde, mit denen sie gegen den Krieg kämpfen. Wie jeder andere aber haben sie die Verantwortung fr das, was ihr Eigentümliches ist: sie sind „Verantwortliche der Kategorien“ (Lucien Seve). So gilt auch für sie Brechts Satz im „Leben des Galilei“: „Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.“ Das Mißverständnis, Philosophie sei wegen ihrer Fachsprache nur Ausnahmemenschen zugänglich, und gerade in ihrer Esoterik sei sie vor gesellschaftlicher Beanspruchung geschützt, ist verbreitet. Dagegen muß gesagt werden: die Philosophie ist exoterisch, weltzugewandt also, oder sie ist nichts. Philosophisches Wissen ist nützlich, und es gibt keinen Grund, die Menschen von diesem Nutzen fernzuhalten. Wie andere Wissenschaften muß auch die Philosophie allgemein sein bzw. werden, das heißt, die Philosophie muß aktiv eine Entwicklung vorantreiben, in der das Wissen ein Element der allgemeinen Befreiung der Individuen wird. Sie selbst befreit sich in dem Maße von Unterdrückung und Zensur, wie sie ihr Wissen zum Wissen aber macht. Voraussetzung ist, daß die Philosophie die Kluft zur Erfahrung und zum Wissen der Nicht- Wissenschaftler überwindet. Die Verachtung des Wissens der Menschen ist der Tod der Philosophie, die von den Menschen verachtet wird. Der Form nach allgemeine Erkenntnis, muß Philosophie auch sozial allgemein sein.

3. Für eine menschlich zumutbare Ethik des Friedens

Philosophen fühlen sich oft falsch verstanden, wenn Normen des Verhaltens von ihnen erwartet werden. Doch die philosophische Idee der bewußten Gestaltbarkelt der Geschichte schließt die Frage nach Zurechenbarkeit, Schuld, Verantwortung und verantwortbaren Zielen des Handelns in sich ein. Heute befaßt sich die Philosophie vorrangig mit der Frage, ob und wie Sätze und Normen der Ethik rational begründbar sind. Dies ist wichtig, aber es genügt nicht. Orientierungen in der Wirklichkeit atomarer Bedrohung sind notwendig, und Orientierungen am Frieden als Maß setzen sich nicht spontan durch. Die Spontaneität des Willens zum Frieden wird machtvoller, wenn Vernunft das Handeln leitet.

Der französische Philosoph und Politiker Lucien Seve hat als Grundsatz formuliert: „Vom ethischen Standpunkt aus bin ich für alles verantwortlich, worauf ich einwirken kann. Nur für dieses, aber für dieses alles.“ Eine uneingeschränkte Verantwortungsethik würde die Individuen unzumutbar überfordern und in Ohnmacht stürzen. Wir wissen, warum der sittliche vernünftige Wille der Individuen noch nicht frei ist, und eine uneingeschränkte Verantwortungszuweisung müßte ablenken von der Verantwortung derer, die Krieg wollen. Die ethische Beschränkung der Verantwortung auf das Verantwortbare ist aber viel mehr, als viele Menschen sich zutrauen. Kein einzelner hat die Stationierung der amerikanischen Raketen verhindern können. Jeder aber kann mit guten Gründen mit der Frage konfrontiert werden: hast Du das Mögliche getan?

4. Die Intellektuellen müssen wissen, wer sie sind und sein können

Als Künstler, Wissenschaftler, Politiker Philosophen, handeln wir in der gesellschaftlichen Funktion von Intellektuellen. Wir müssen wissen, wer wir sind, um zu begreifen, was wir sein können. Wenn wir eine Standortbestimmung als Intellektuelle und als Wissenschaftler versuchen dann muß vom möglichen Frieden die Rede sein und von der historischen Schuld, diese konkrete Möglichkeit immer wieder und noch heute zu vernichten. Man mißt uns zu Recht nicht allein daran, was wir als Individuen wünschen. Ob wir es wollen oder nicht, gehören wir zur sozialen Gruppe derer, die mehr zum Krieg beiträgt als zum Frieden. Millionen von Intellektuellen stehen im Dienst von Rüstung und Krieg. Die auf der Seite des Friedens sind wenige. Aber es werden mehr, und wir erinnern uns, eine Tradition des Kampfes für die Freiheit und für menschliches Glück auf unserer Seite zu haben.

Es gibt in der Bewegung der Intellektuellen gegen den Krieg noch keine Einigkeit über Strategie und Ziele. Es gibt eine Pluralität der Motivationen und der Begründungen. Wie könnte es anders sein? Die Bewegung der Intellektuellen ist ein Element der Volksbewegung, und diese Volksbewegung hat keinen „archimedischen Punkt“ außerhalb der Gesellschaft. Nicht außerhalb, sondern mitten in den Widersprüchen unser Gesellschaft ist unser Platz. Man versucht uns zu spalten. Aber die gemeinsame Friedensarbeit hat uns neue Erfahrung gewinnen lassen: Solidarität.

Intellektuelle konstruieren ihre Theorien und Weltsichten selten auf der Basis alltäglicher Erfahrung. Ihr Bezug zur Wirklichkeit ist vielfach theoretisch gebrochen, und die Gefahr, die zu ihrer Existenz gehört, heißt: Isolation in selbstreflexiven theoretischen Welten; dies heißt auch: Isolation gegenüber den sozialen Bewegungen in den Völkern. Diese Isolation durchbrechen wir nicht oder nicht nur aus eigener Kraft, sondern durch Teilnahme am allgemeinen Kampf. Fremde Kampfformen wie die Blockade oder die Menschenkette - gerade von Intellektuellen belächelt - sind Ausdruck einer neuen politischen Kultur, die mit dem Widerspruch anders umzugehen lernt. Wollen sich die Intellektuellen in Denken und Praxis auf den möglichen Krieg und den notwendigen Frieden beziehen, dann ergibt sich aus ihrer Funktion eine Norm, die sowohl kognitiv ist wie praktisch. Es ist weder die Norm der Neutralität noch die des faden Pluralismus, vor dem der Verteidiger des Friedens und der Betreiber des Kriegs gleichermaßen Recht behält. Diese Norm ist vielmehr Toleranz der Individuen gegenüber den Individuen. Toleranz bringt den Widerspruch nicht zum Schweigen, sondern sie führt zu Bedürfnissen in Existenzfragen. Existenzfragen? Wir Intellektuellen sind nüchtern geworden. Gegenüber der Angst von Menschen wären große Worte sinnlos. Aber sollten wir uns auch die starken Worte abgewöhnen, in denen eine menschliche Zukunft antizipiert wird? Sollten wir uns nicht gegen die Trivialisierung unserer Sprache wehren, in der Humanität, Glück und menschliche Würde zum Tabu erklärt werden? Gewiß, wir müssen als Wissenschaftler realistisch sein, konkret und exakt. Doch der Frieden, den wir brauchen, ist nicht Experimenten simulierbar und nicht empirisch erhebbar. Die Erklärung des Krieges aus Ursachen ist noch nicht der erklärte Frieden. Die Befriedigung über die Erklärung des Status quo darf nicht umschlagen in die Zufriedenheit mit dem Status quo. Wissenschaft muß heute im umfassenden Sinne wieder Kritik sein, deren erste Folge der Mut zur Wahrheit ist. Wir müssen ohne diplomatische Reserven die Wahrheit sagen über die Ursachen des Krieges. Sie sind uns bekannt.

Zugleich gehört zu dieser Kritik viel intellektuelle Phantasie. Die Gegenwart werden wir nur gestalten helfen, wenn wir sie nicht als Grenze unserer Erkenntnis mißverstehen, sondern als Aufforderung, das zu verwirklichen, was in ihr vorwärts drängt. Diese intellektuelle Phantasie muß sich schulen an der Geschichte, darf nichts verdrängen und vergessen. Zu den wichtigsten Erfahrungen, aus denen wir zu lernen haben, gehört das zu späte Erschrecken. Berthold Brecht hat 1952 beim Wiener Völkerkongreß für den Frieden gesagt: „Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns heute nicht naß, sagen viele. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod.“ Dieses Zu- Spät, von dem ich spreche, ist immer wieder als sinnloses Wissen aufgetreten: genau zu dem Zeitpunkt, in dem es zu spät war, zu welchem der Nicht- Krieg in Krieg umgeschlagen war. Deshalb plädiere ich mit Realismus für das Maß an Phantasie, welches notwendig ist, damit unser Wissen dem schrecklichen Zu- Spät vorauseilt. Diese Phantasie hat die Scheu davor überwunden, mehr zu sein als ein Analytiker des Status quo. Als Intellektuelle können wir eine aus Erfahrung, Erinnerung und Wissen geborene Beziehung zur Zukunft und zum Fortschritt entwickeln helfen. Die meisten von uns sind keine „Manhattan“-Wissenschaftler, die nicht wissen, wofür sie eingespannt werden. Gerade das Wissen der Philosophen ist nicht arbeitsteilig aufgespalten: zwar ist niemand Spezialist für alles, aber das Ganze der Wirklichkeit ist Gegenstand unserer Erkenntnis. Nichts berechtigt uns zur Annahme, wir könnten nicht genug wissen. Deshalb sollen wir im Bündnis mit allen Intellektuellen die starke Forderung zu unserm Prinzip machen: schaffen wir eine internationale Bewegung des Wissens gegen die Angst.

Dr. Hans-Jörg Sandkühler ist Professor für Philosophie an der Universität Bremen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1985/2 1985-2, Seite