W&F 2001/2

Protest und Gewalt

Aus dem Tagebuch eines Jungpädagogen

von Bernhard Nolz

Die Gewalt geht von der Straße aus. Das ist das Bild, das gegenwärtig mal wieder in den Medien vermittelt wird, geht es um den Rückblick auf die Generation der 68er. Es scheint so, als ob ein Steinwurf wichtiger wäre als der Abwurf einer Bombe. Nur vordergründig steht der Außenminister im Mittelpunkt, in Wirklichkeit geht es um eine Korrektur des Geschichtsbildes. Es wird abgelenkt von der »Gewalt von oben«, von Notstandsgesetzen, Hunderttausendfacher Bespitzelung, von Berufsverboten; verschwiegen wird der Hintergrund der Protestbewegung: Die unbewältigte Vergangenheit, die Zusammenarbeit mit faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal, Griechenland und anderswo, der Völkermord der USA in Vietnam, Bildungsnotstand und Repression im Inneren. Der Tagebuchauszug von Bernhard Nolz aus dem Jahr 1971 ist nicht mehr als eine Momentaufnahme, allerdings eine, die sich zu diesem Zeitpunkt genauso in vielen deutschen (nicht nur Klein-)Städten abgespielt haben könnte.

7. Juni 1971: Bis zehn vor eins habe ich Schule. Dann rüber auf den Marktplatz. Ich wollte pünktlich sein, um ihn auszupfeifen. Seit ein paar Tagen war der Widerständler in mir erwacht.

Etwa 60 Leute hatten sich vor dem Lkw-Anhänger, der der CDU von einem Wurstfabrikanten zur Verfügung gestellt worden war, aufgestellt. Der CDU-Vorsitzende von Trappenkamp/Schlewig-Holstein trat an das Rednerpult, das er von vier Schülern aus der Schule hatte herbei schaffen lassen, um von ganzem Herzen Dank zu sagen, dass der Herr Bundeskanzler in dieser schwierigen Lage die Zeit gefunden hätte, der Bevölkerung Mut zuzusprechen. Er begrüße den Herrn Bundeskanzler a.D. Dr. Hans Georg Kiesinger ganz herzlich.

Beifall der Mehrheit, Markus und ich pfiffen. Für mich war es keine Frage, dass man Kiesinger auspfeifen musste, was immer er sagen würde, weil er Nazi gewesen war. Ehemalige Mitglieder der NSDAP waren für mich als Repräsentanten eines demokratischen Staates unerträglich und der Nazi-Propagandist Kiesinger schon lange.

„Denken Sie an Ihr Amt“, hatte mir mein Schulleiter geraten, als ich mit ihm über den bevorstehenden Besuch des Ex-Bundeskanzlers gesprochen hatte und dabei offengelassen, ob er mein Amt als 1. stellvertretender Bürgermeister oder mein Amt als Lehrer meinte. Sollte mir das Amt des Vertreters eines demokratischen Gemeinwesens verbieten, einem aktiven Repräsentanten der Nazi-Diktatur meine Missachtung zu zeigen?

Kiesinger nahm die Pfiffe scheinbar gelassen hin und begann mit seiner Rede. „Sehr geehrte Damen und Herren! Sie leben in einem glücklichen Land, das gesund und stabil ist, weil es seit mehr als zwanzig Jahren von der CDU regiert wird, und so soll es in Schleswig-Holstein auch bleiben. Auf Grund meiner leidvollen Erfahrungen als Bundeskanzler einer Koalitionsregierung mit der SPD weiß ich, wozu die Sozialdemokraten, die jetzt in Bonn regieren, fähig sind.“An dieser Stelle rufe ich das erste Mal: „Nazi!“ Ich hatte mir vorgenommen es nicht zu tun, sondern es beim Auspfeifen zu belassen. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Vielleicht war es tatsächlich mein Amt als stellvertretender Bürgermeister oder meine Stellung als Lehrer, mit denen ich meine selbst verordnete Zurückhaltung rechtfertigen konnte. Dann überwiegen politische Empörung und die Lust am Zwischenruf, deren Wirkung ich in den unzähligen Gemeinderats- und Ausschusssitzungen zu schätzen gelernt hatte und ich nenne Kiesinger Nazi. Dieses eine Wort, eine polemische Verkürzung eines 67jährigen Lebenslaufes, entlarvt den Redner als Diffamierer und Verdränger.Kiesinger lässt sich scheinbar nichts anmerken und setzt seine Rede fort, doch wer genau hinsieht, kann feststellen, dass sich das Zittern des Redemanuskriptes, das er mit der linken Hand festhält, verstärkt hat. „Sie werden verstehen, welche Kraft es mich in den Jahren meiner Kanzlerschaft gekostet hat, die Zügel fest zu führen, damit die SPD nicht ständig ausbricht. Auf die CDU ist Verlass, sie bleibt in der Spur, dafür habe ich gesorgt und dafür sorgt hier im Norden mein Freund Helmut Lemke.“„Nazi! Nazi!“ rufe ich, denn das sind sie beide, der Offizier Lemke ritt für den Endsieg. Ist Kiesinger deshalb auf das Bild mit den Zügeln gekommen?„Wir wollen keine Krakeeler und Revoluzzer. Wir wollen ein vernünftiges, ruhiges Volk, das in Frieden und Freiheit leben und arbeiten kann.“Wieder pfeifen wir. Kiesinger deutet auf uns. „Wo die ihre Parolen herholen, entsteht die Großmacht China, sie ist atomar bewaffnet und kann ihre Raketen an jeden Punkt der Erde entsenden. Gegen diese Bedrohung gilt es, eine vorausschauende Friedenspolitik zu entwerfen. Nur die Christlich-Demokratische Union ist entsprechend gewappnet, unser Vaterland bis zu einer Wiedervereinigung geistig und militärisch zu verteidigen.“Wieder rufe ich Nazi und meine den Militaristen Kiesinger, der mich jetzt fixiert. „Solche unreifen Jünglinge wie der Schreihals dort träumen von der Weltrevolution und würden zu gern selbst an der Spitze stehen. Davor bewahre uns Gott! “

Kurzer Beifall und lange Pfiffe. Die meisten Zuhörer streben den zwei nebeneinander liegenden Türen des Rathauses entgegen, wo sich der zweite und dritte Teil des Bundeskanzler-Besuches abspielen soll. Die rechte Tür führt ins Rathaus. Dort soll sich Kiesinger im Goldenen Buch der Gemeinde verewigen. Ich war dagegen, aber einem Bundeskanzler a.D., auch wenn er Nazi und politisch abgehalftert sei, könne man das nicht verwehren, sagten sie mir. Alle neun CDU-Gemeindevertreter hatten sich eingefunden. Zu ihnen gesellten sich der Bürgermeister (SPD), der Bürgervorsteher (SPD) und fünf SPD-Gemeindevertreter. Links, in der Ratsschenke, sollte es anschließend Kiesinger zu Ehren Schweinshaxe mit Sauerkraut und Bauernbrot geben, dazu ein zünftiges Holsten-Bier.

Da ich durch keine der beiden Türen gehen will und Markus sich verabschiedet hatte, stehe ich alleine auf dem Marktplatz und bemerke, dass Kiesinger neben dem Anhänger stehen geblieben war und das Gedränge vor den Türen offenbar für eine kleine Verschnaufpause nutzte. Da rollt quer über den Marktplatz auf einem klapprigen Damenfahrrad ein etwa 15jähriges Mädchen mit blonden Haaren heran. Kurz vor Kiesinger springt es vom Rad, baut sich direkt vor Kiesinger auf und sagt, dass es ein Autogramm möchte. Ein Ruck geht durch Kiesinger, man merkt, wie er es genießt, von einem jungen Mädchen respektvoll behandelt zu werden. Aus der Jacketttasche seines Anzuges zieht er ein postkartengroßes Porträt, zückt seinen Füllfederhalter, unterschreibt die Karte und mit einer Geste, als wäre das Mädchen die wichtigste Person der Welt, überreicht er sie ihm.

„Jetzt habe ich etwas, womit ich mir den Arsch abwischen kann!“ sagt da das Mädchen.

Das weitere Geschehen habe ich wie eine Filmaufnahme in Zeitlupe in Erinnerung. Kiesinger schiebt, nachdem er die Karte übergeben hatte, die Kappe des Füllfederhalters über die Goldfeder und schraubt sie langsam zu. Als er den Satz des Mädchens hört, hält er inne und öffnet langsam den Mund, die Lippen formen sich zu einem stummen runden Loch. Das Mädchen wendet sich mit dem Autogramm in der Hand in Richtung seines Fahrrads, das von einem Mann in einem hellen Sommeranzug gehalten wird. Doch kaum hat es einen Schritt in Richtung des Mannes getan, lässt der das Fahrrad los und läuft auf das Mädchen zu. Fast hätten sie sich verfehlt, denn das Mädchen macht sich instinktiv klein. Doch der Mann ist gut trainiert, kann seinen Lauf stoppen und nutzt die zum Boden gerichtete Fluchtbewegung des Mädchens gezielt aus, indem er den linken Arm des Mädchens fasst und so verdreht, dass das Mädchen mit der rechten Schulter und mit der rechten Gesichtshälfte in voller Wucht auf die Betonplatten knallt. Wie im Triumpf zeigt der linke Arm des Mädchens, in dem es die Autogrammkarte hält, steil nach oben. Noch bevor der Kartengriff wegen der einsetzenden Schmerzen erschlafft, ist ein zweiter Mann in einem hellen Sommeranzug hinzu getreten und hat dem Mädchen die Autogrammkarte aus der Hand genommen. Dann tritt er zurück, schiebt die Karte in die Innentasche seiner Jacke, verschränkt die Arme hinter seinem Rücken und steht da, als sei nichts gewesen. Der andere »Leibwächter« des Kanzlers a. D., der das Mädchen auf den Beton gepresst hatte, lässt dieses jetzt los und achtlos liegen.

Erst dann komme ich bei dem Mädchen an. Beim Anblick der Szene hatte ich „Aufhören! Aufhören!“ geschrieen. Ich strecke dem Mädchen meinen Arm entgegen, doch diese Körperbewegung muss ihm eher wie eine anklagende Geste erschienen sein, als ein Hilfsangebot. Es springt auf, greift sein Fahrrad und fährt weg.

Hinter mir will plötzlich jemand wissen, was passiert sei. Kiesinger, der große grauhaarige Herr im dunkelblauen Anzug, der Staatsmann und Schöngeist, der Nazi und Bundeskanzler a.D., fasst es in einem Satz zusammen: Ein Mädchen habe sich mit einer Autogrammkarte von ihm den Arsch abwischen wollen!

Mehr war nicht gewesen, weiter in der Tagesordnung. Wieder reagierte Kiesinger mit einer Mischung aus Schweigen und Schönreden. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur hatte er mit dem Schweigen derjenigen gerechnet, die, wenn sie die Obzönität seiner Taten erkennen, keine Worte mehr finden würden. Als Schweigen nicht mehr half, hat er alles schön geredet, wie er es bei den Nazis gelernt und praktiziert hatte.

Ihm war nicht daran gelegen, dass sein Abenteuer publik wurde. Eine weitere Nachahmerin einer Beate Klarsfeld konnte er genauso wenig gebrauchen wie die ständige Erinnerung an die braune Vergangenheit, die auch so mancher in Trappenkamp mit sich herumschleppte, wie ich bald erfahren sollte.

Beim offiziellen Empfang im Sitzungszimmer der Gemeindeverwaltung sei der Vorfall nicht erwähnt worden, höre ich später. Von jeder Eintragung ins Goldene Buch wird amtlicherseits ein Protokoll angefertigt. Zum Kiesinger-Empfang sind die Anwesenden aufgelistet. Dann heißt es: Begrüßung durch den Bürgervorsteher; Kurzvortrag des Bürgermeisters; Eintragung ins Goldene Buch; Anmerkungen des Bundeskanzlers a.D. Dr. Hans Georg Kiesinger zur politischen Lage. Trappenkamp, 7. Juni 1971, 13.40 – 14.02 Uhr. Am rechten unteren Rand des Dokuments – von eindeutig anderer Hand hinzugefügt – steht: Pg. 2633930.

Ich hatte mich auf die Bank neben der Ratsschenke gesetzt. Dort war ein ständiges Kommen und Gehen und somit die Aussicht groß, dass ich vielen Leute von dem unerhörten Vorfall berichten konnte. Fünf bis sechs hatten schon meinen Mitteilungsdrang über sich ergehen lassen müssen, wobei ich meinen Bericht auf die Brutalität der Kiesinger-Gorillas konzentrierte, der der ehrenwerte Staatsmann tatenlos zugesehen hatte, als mein Schulleiter aus der Ratsschenke kommend, direkt auf mich zusteuerte:

„Ich muss mit Ihnen sprechen. Da drinnen wird erzählt, dass Sie dem Mädchen 10 DM gegeben hätten. Sie hätten sich selbst die Hände nicht schmutzig machen wollen. In dem Mädchen hätten Sie ein williges Werkzeug gefunden!“ Ich lache ihn aus. „Ich kenne das Mädchen überhaupt nicht. Trauen Sie mir so was zu?“ „Ich nicht, aber die da drinnen,“ sagte er.

Wieder lache ich. „Wissen Sie was, wenn ich weiß, wer das Mädchen ist, werde ich es aufsuchen und ihm die 10 Mark geben, die hat es sich redlich verdient!“

Ich ahnte nicht, dass ich am nächsten Tag nicht einmal mehr schlappe fünf Mark zur Verfügung haben würde.

8. Juni 1971: In der Schule hat mich niemand auf den gestrigen Vorfall angesprochen. Am Nachmittag gehe ich zum Geldholen zu meiner Bank. „Tut uns leid“, sagt die Angestellte, „die Geschäftsleitung hat ihr Konto gesperrt. Es muss erst wieder ein Guthaben aufweisen.“ Ich gehe rüber in die Ratsschenke. Wie so oft frage ich vor der Bestellung, ob ich meine Zeche anschreiben lassen kann. Geht nicht, sagt die Wirtin, „ich muss dir Hausverbot erteilen, du weißt warum.“ Abends ruft mein Schulleiter an. „Ich soll es Ihnen nicht sagen, aber ich erzähle es Ihnen trotzdem: Der Verfassungsschutz war da und hat die Schulchronik mitgenommen. Machen Sie sich auf eine Visitation gefasst.“

9. Juni 1971: Gestern Abend, so berichtet mir ein Freund, hat ein bekannter Unternehmer aus Trappenkamp, der sich ständig mit seiner Nazi-Vergangenheit brüstet, in der Mitgliederversammlung des Tennisclubs, mich als Politikschwein und als einen von Moskau gesteuerten Provokateur bezeichnet, der aus Trappenkamp heraus getrieben werden müsse. Der Gemeindejustitiar hat mir geraten, ihn wegen übler Nachrede und Beamtenbeleidigung anzuzeigen. Der Bürgermeister hat sofort die Brisanz der Entgleisung geschnallt und dem Unternehmer klar gemacht, dass die Beleidigung eines Beamten (Lehrer) und eines Ehrenbeamten (stellvertretender Bürgermeister) strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Am Abend erhalte ich den Anruf des Unternehmers mit der Bitte um Entschuldigung. Wir vereinbaren ein Treffen mit Zeugen.

10. Juni 1971: Heute der Anruf des Bankdirektors. Alles sei nur ein Missverständnis gewesen. Zu spät, sage ich, ich habe ein Konto bei einer anderen Bank eröffnet. Auf dem Weg zur Post ruft die Wirtin der Ratsschenke hinter mir her: „Komm, ich habe einen auszugeben.“Am Nachmittag steht das Mädchen vor meiner Tür (ich bin SPD-Ortsvorsitzender). „Ich will in die SPD eintreten,“ sagt sie, „sie sind der einzige, der mir geholfen hat.“ Wir füllen das Aufnahmeformular aus.

Die Kiesinger-Worte sind Originalzitate.

Bernhard Nolz, Jg. 1944, von 1969 – 1994 Lehrer in Schleswig-Holstein. Seit 1994 Gesamtschullehrer in Siegen, Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/2 Recht Macht Gewalt, Seite