Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen
von John Pike
Spätestens seit Reykjavik ist der Zusammenhang zwischen der Abrüstung strategischer Nuklearwaffen und der Begrenzung von Raketenabwehrsystemen deutlich geworden. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht der ABM-Vertrag von 1972, der angesichts neuer technischer Entwicklungen und politisch motivierter Interpretationsversuche ernsten Belastungsproben ausgesetzt ist. Um diesen Vertrag zu erhalten und zu stärken, wurde u.a. auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß und dem Moskauer Friedensforum ein Kompromiß zwischen beiden Seiten gefordert, der den Weg zur nuklearen Abrüstung öffnet. Die bislang konkretesten Vorschläge für eine mögliche Einigung wurden Anfang 1987 von John Pike von der Federation of American Scientists ausgearbeitet und in einem mehr als 100seitigen Papier mit zahlreichen quantitativen Grenzwerten und Tabellen zusammengefaßt, das in Auszügen in den Proceedings zum Hamburger Verifikationsworkshop erschienen ist. Angesichts der Verhandlungen zwischen USA und UdSSR sowie zwischen US-Kongreß und US-Regierung über Grenzen für SDI-Versuche geben wir einige übersetzte Auszüge aus der Einleitung zu diesem Papier wieder.
Neue Entwicklungen bei Raketenabwehrtechnologien (BMD: Ballistic Missile Defense) stellen eine große Herausforderung für den Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag von 1972 dar. Um einem Dilemma vorzubeugen, wurde eine Reihe verschiedener konzeptueller Ansätze vorgeschlagen, den ABM-Vertrag an die Entwicklung der BMD-Technologie anzupassen. Aber die Schwierigkeit, die richtigen Antworten auf diese Probleme zu finden, läßt vermuten, daß wir die falschen Fragen stellen. Eine neue Art des Denkens über den ABM-Vertrag und über ballistische Raketenabwehrtechnoloqie ist notwendig.
Über die letzten zwei Jahre hinweg hat sich die Diskussion auf die Debatte über die breite Auslegung des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration konzentriert, nach der der Vertrag nicht das Testen von exotischen BMD-Technologien begrenzen würde. Es wird in wachsendem Maße deutlich, daß diese Interpretation des Vertrages ohne rechtlichen oder praktischen Wert ist und nicht eingeführt werden wird.
Die Auflösung der Debatte über die breite Interpretation wird jedoch nicht den Konflikt zwischen der permissiven und der restriktiven Lesart der traditionellen Interpretation des ABM-Vertrages lösen. Der Vertrag verbietet Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Komponenten, die weltraumgestützt, luftgestützt, seegestützt oder mobil landgestützt sind. Der Vertrag gibt mehrere Kriterien dafür an, welche Anlagen Gegenstand dieser Begrenzungen sind:
- die Komponenten von ABM-Systemen zur Zeit der Unterzeichnung des Vertrages, nämlich Interzeptoren, Startanlagen und Radaranlagen;
- Anlagen, die „in einem ABM-Modus getestet“ worden sind (d.h. gegen strategische ballistische Raketen oder ihre Komponenten auf der Flugbahn);
- Anlagen, die „ABM-Fähigkeiten“ haben oder „fähig zur Substitution von“ ABM-Komponenten sind.
Die Reagan-Administration versichert, das SDI-Programm sei konstistent mit dem Vertrag mit der Begründung, SDI entwickle keine Komponenten und würde Tests nicht in einem ABM-Modus durchführen oder ABM-Fähigkeiten aufzeigen; somit seien die in SDI demonstrierten Technologien nicht zur Substitution von ABM-Komponenten fähig. Eine restriktivere Lesart des Vertrages führt jedoch zu dem Schluß, daß viele der Tests von SDI mit dem Vertrag unvereinbar sind. Unglücklicherweise gibt der Vertrag nur unzureichende Richtlinien für die Auswahl der geeigneten Auslegung dieser Begriffe.
Das Kernproblem
Das zentrale Problem ist, daß das Fort schreiten der Technologie die Interpretation der Vertragsbegriffe kompliziert hat. 1972 war die Verifikation von Tests im ABM-Modus ein relativ einfacher Prozeß. Der Betrieb einer Radaranlage konnte durch elektronische Aufklärungssatelliten beobachtet werden, der Start einer Abwehrrakete und der Flug eines Ziel-Eintrittsflugkörpers konnten durch verschiedene Mittel verfolgt werden. Diese Aktivitäten lieferten eine ziemlich unzweifelhafte Basis für die Definition von „im ABM-Modus getestet“.
Aber für die Festlegung, ob eine Verrichtung „im ABM-Modus getestet“ wurde, bedeuten die neuen BMD-Technologien eine größere Herausforderung. Passive Sensoren wie Teleskope, die zur Verfolgung von Zielen verwendet werden können, senden keine Signale ab, und ihr Zusammenwirken mit einem Raketenabwehrtest kann schwierig festzustellen sein. Langreichweitige Abwehrraketen können gegen Satellitenziele getestet. werden, die die Charakteristiken strategischer ballistischer Raketen nachahmen.
Unglücklicherweise ist es auch sehr schwierig zu bestimmen, ob ein Gerät fähig ist, eine ABM-Komponente zu ersetzen oder ob es ABM-Fähigkeiten hat, insbesondere wenn das Gerät auf neuen physikalischen Prinzipien beruht. Der ABM-Vertrag enthält eine präzise quantitative Definition, was eine Radaranlage mit ABM-Fähigkeiten darstellt, aber der Vertrag liefert keine Richtlinie, an welchem Punkt ein Bahnverfolgungs-Teleskop fähig ist, ein ABM-Radar zu ersetzen.
Eine Einigung auf quantitative, numerische Definitionen von ABM-Fähigkeiten könnte dieses Problem lösen. Es mag Fragen darüber geben, was eine „ABM-Komponente“ ist oder was „Entwicklung“ bedeutet, aber es sollte mit einer akzeptablen Fehlerspanne möglich sein zu bestimmen, ob ein Spiegel größer als zwei Meter im Durchmesser ist oder nicht. Diese quantitativen Grenzen würden eine weniger mehrdeutige operationale Definition liefern für die „Entwicklung“ einer „ABM-Komponente“, die „ABM-Fähigkeiten“ hat oder „in einem ABM-Modus getestet“ wurde.
Spezifische Begrenzungen
Ein System zur Abwehr ballistischer Raketen besteht aus vier Elementen - Waffen, Waffenstartanlagen, Sensoren und Gefechtsführung (battle Management). Es wird allgemein anerkannt, daß battle management die größte technische Herausforderung für die Vollendung eines Raketenabwehrsystems bedeutet und daß Sensoren größere technische Anforderungen stellen als Waffen und Waffenstartanlagen. Ein Raketenabwehrsystem erfordert das Funktionieren aller vier Elemente, und bei Abwesenheit eines dieser Elemente sind die anderen nur von begrenzter Bedeutung.
Es ist ein unglückliches Paradoxon, daß der technisch anspruchsvollste Aspekt von BMD-Systemen (battle management) zugleich die größten Anforderungen an die Verifikation stellt, während die am wenigsten anspruchsvollen Teile des Problems (Waffen) die geringsten Anforderungen an die Verifikation stellen. Der ABM-Vertrag setzt keine Begrenzungen für Battle-Management-Systeme fest, da von beiden Seiten erkannt wurde, daß solche Begrenzungen schwierig, wenn nicht unmöglich zu verifizieren sein würden.
Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des ABM-Vertrages waren BMD-Sensoren sehr große Radaranlagen, die mehrere Jahre zur Konstruktion benötigten und daher leicht zu verifizieren waren, so daß der Vertrag ein strenges Regime von Begrenzungen für die Stationierung solcher Radare aufstellte. Aber zukünftige Systeme, die passive Sensoren verwenden, wären viel schwieriger zu verifizieren. Das bedeutet nicht, daß solche zukünftigen Sensorsysteme unmöglich zu verifizieren sein werden, oder daß sie von der Begrenzung ausgenommen werden sollten. Allerdings könnten stringentere Einschränkungen von Waffentests notwendig sein, um die Schwierigkeiten bei der Begrenzung von Sensoren zu kompensieren.
Es gibt wahrscheinlich mehrere Dutzend mögliche Leistungsparameter, die ABM-Fähigkeiten definieren könnten. Aber bereits wenige Hauptparameter - Geschwindigkeit, Höhe, relative Geschwindigkeit, Helligkeit und Öffnung - legen die wichtigsten ABM-Fähigkeiten fest; solche Parameter sind zudem ziemlich einfach zu definieren und zu überwachen. Die Begrenzung eines halben Dutzend der kritischsten Leistungsparameter innerhalb eines Regimes quantitativer Grenzwerte dürfte ausreichend sein und würde den Verhandlungsprozeß nicht unnötig verlängern oder belasten.
Fünf quantitative Grenzen sind besonders aussichtsreich:
Waffen
- Eine Grenze für die Helligkeit von Lasern;
- Grenzwerte für die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Versuchen mit Abfangraketen;
Sensoren
- Spezifizierungen für die Zahl und den Ort zugelassener Konstruktionen von großen phasengesteuerten Radaranlagen
- Begrenzungen für die Öffnungsweite von Spiegeln oder Fenstern weltraum- oder luftgestützter Teleskopsensoren; Sensoren & Waffen
- Grenzen für die thermische Leistung von Nuklearreaktoren im Weltraum.
Eine Schranke für Tests, die besonders vielversprechend aussieht, ist eine Grenze für die Helligkeit von Lasern, die eine Funktion der Wellenlänge des Lasers, der Leistung des Lasers und des Durchmessers des Laserhauptspiegels ist. Die Verifizierung solch einer Grenze würde wahrscheinlich die Verwendung von Überwachungsanlagen in der Nähe von identifizierten oder vermuteten Lasereinrichtungen erfordern.
Im Bereich der Waffen mit kinetischer Energie (kinetic energy weapons) sollten wir vielleicht die Festlegung einer spezifischen Grenze betrachten, unterhalb der es erlaubt wäre, Abfangraketen zu testen, und oberhalb der Versuche verboten würden. Solche Tests würden definiert durch die maximale Geschwindigkeit, mit der eine Rakete oder ein Interzeptor in großer Nähe an einem Ziel vorbeifliegen könnten. So würde der Test einer Abfangrakete oberhalb von 40 Kilometern Höhe und innerhalb von 10 Kilometern Abstand zu einem Ziel mit einer Relativgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Sekunde als Entwicklung einer ABM-Komponente mit ABM-Fähigkeiten angesehen werden, die in einem ABM-Modus getestet wird. Dies würde Befürchtungen über taktische Raketenabwehrsysteme abschwächen. Und wenn alle Versuche oberhalb von 40 Kilometern verboten wären, würde dies alle Besorgnisse über Anti-Satelliten-Waffen auflösen.
Die Festlegung, daß alle großen phasengesteuerten Radaranlagen nicht weiter als 350 Kilometer von den Landesgrenzen entfernt gebaut werden dürften und daß jedes Land nicht mehr als 15 solcher Transmitter stationieren kann, würde eine Wiederholung des Krasnoyarsk/Fylingdales-Streit verhindern. Eine Senkung der Vertragsschwelle für ein ABM-Radar um einen Faktor von zehn würde Sorgen über die taktische Raketenabwehr verringern.
Grenzen für die Öffungsweite passiver Teleskopsensoren würden die BMD-Anwendungen solcher Geräte einschränken. Sensorsatelliten zur Raketenabwehr erfordern viel größere optische Systeme als einfache Frühwarnsatelliten. Und flugzeuggestützte Teleskope benötigen viel größere Fensteröffnungen im Flugzeug, als für Astronomie und Aufklärungszwecke notwendig sind.
Begrenzungen für die thermische Leistung weltraumgestützter Reaktoren könnten indirekt Technologien beschränken, die andernfalls schwierig zu begrenzen wären.
Solch ein Grenzwert könnte verizifiert werden durch die Überwachung der Abfallwärme, die durch den Radiator des Reaktors angestrahlt wird. Multimegawatt-Reaktoren würden notwendig sein, um bestimmte Typen von Raketenabwehr-Waffensystemen mit Energie zu versorgen, wie etwa Generatoren neutraler Teilchenstrahlen. Reaktoren mit einigen zehn oder hundert Kilowatt Leistung wären die Voraussetzung fr den Betrieb mehrerer Raketenabwehr-Sensorsysteme.
Wenn die Verifizierung von Grenzen der thermischen Reaktorleistung sich als zu schwierig erweisen sollte, könnte ein ähnliches Ziel erreicht werden durch ein Startverbot für große Anlagen zur Erzeugung von Nuklearenergie. Die Anwesenheit einer großen Menge von nuklearem Brennstoff könnte entdeckt werden durch die Inspektion eines jeden Satelliten unmittelbar vor seinem Start in den Weltraum.
Literatur
John Pike, Quantitative Limits on Anti-Missile-Systems - A Preliminary Assessment, Fourth Draft, 22 May 1987, Federation of American Scientists,123 Seiten; wesentliche Auszüge sind abgedruckt in: Proceedings of the Workshop „Scientific Aspects of the Verification of Arms Control Treaties“, Part II, S. 137-198, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Vol. 19, Hamburg, June 1987
Weitere aktuelle Literatur zur Diskussion um den ABM-Vertrag ist im Reader der Naturwissenschaftler-Initiative - „SDI und der ABM-Vertrag“ enthalten, zusammengestellt von J. Scheffran im August 1987. Die folgenden Quellen zur ABM-Debatte nach Reykjavik ergänzen eine frühere Literaturliste.
- Erklärung von Generalsekretär Michail Gorbatschow auf der Pressekonferenz in Reykjavik am 12. Oktober 1986, „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 11/86, S. 1297-1303; Ronald Reagans Fernsehansprache vom 13.10.1986, „Abrüstungsinfo“, 11/1986, S. 19-21
- Briefing Book on the ABM Treaty and Related Issues, National Campaign to Save the ABM Treaty, Washington 1986; Analysis of the President's Report on Soviet Noncompliance with Arms Control Agreements, „Arms Control Today“, April 1987
- L. Wieland, Testen und Stationieren - Reagan vor heiklen Entscheidungen über SDI, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) vom 7.2.1987; R. Dolzer, Wo endet Forschen, beginnt das Erproben?, „FAZ“ vom 17.2.87; Streit um die weite Auslegung des ABM-Vertrages, „FAZ“ vom 9.2.87; An eine „weite“ Auslegung war nicht gedacht, „FAZ“ vom 18.2.87
- S. Nunn, ABM Reinterpretation, Fundamentally Flawed, „Arms Control Today (ACT)“, April 1987, S. 8-14; Nunn vs. Sofaer, „ACT“, June 1987, S. 9-10; L. N. Cutler, Keeping the Treaty Alive; What Congress Can Do. „ACT“, April 1987, S. 10-11; Six Former Defense Secretaries Support Traditional Interpretation of the ABM Treaty, „ACT“, April 1987; M. Bunn, Kinetic Energy Weapons and the ABM Treaty, „ACT“, March 1987, S. 12, 13, 17; Weinberger Propose Tests Beyond Strict Treaty Interpretation, „ACT“, June 1987, S. 24
- J. B. Rhinelander, J. P. Rubin, Mission Accomplished - An Insider's Account of the ABM Treaty Negotiating Record „ACT“, September 1987, S. 3-14; R. Garthoff, History Confirms the Traditional Meaning, „ACT“, September 1987, S. 15-19; Sofaer´s Last Stand?, „ACT“, October 1987, S. 14-17; M. A. Bryar, Arms Control Legislation Stalls Over SDI Testing and Treaty, „ACT“, November 1987, S. 21; T. K. Longstreth, Latest ABM ploy - old is new, „Bulletin of the Atomic Scientists“, Vol. 43, No. 10, December 1987 S. 3-4; M. Bunn, Shultz Sidesteps ABM Issue, „ACT“ January/Febnuary 1988, S. 24, M. Bunn, Space Laser Raises ABM Treaty Compliance Questions, „ACT“, January/Febnuary 1988, S. 27
John Pike arbeitet bei der Federation of American Scientists