Quo vadis Europa?
Andreas Zumach im Interview
von Andreas Zumach und Regina Hagen
Die Europäische Union hat demnächst 25 Mitglieder und es sieht so aus, als ob mit der wachsenden Zahl auch die Differenzen zwischen den Regierungen der Mitgliedsländer zunehmen würden. Das zeigte sich besonders deutlich in den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg, wird aber auch in der Diskussion um eine europäische Verfassung sichtbar. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz zwischen der EU und den USA. In dieser Situation bekommt die Debatte über ein »Kern-Europa«, einen engeren Zusammenschluss der Länder, die »schneller vorangehen möchten«, eine neue Bedeutung. Andreas Zumach im Gespräch mit Regina Hagen über die transatlantischen und innereuropäischen Probleme sowie über den künftigen Weg Europas.
W&F: Aus Anlass des Irak-Kriegs wurden Differenzen sichtbar zwischen den Regierenden zahlreicher EU-Staaten und der großen Mehrheit der Bevölkerung einerseits und der US-Regierung andererseits …
Zumach: … Es ist zu differenzieren zwischen dem Widerspruch, der von bestimmten Regierungen formuliert wurde und dem der Friedensbewegung. Der Widerspruch der Regierung Schröder z.B. war kein grundsätzlicher zum Krieg als Mittel der Politik, es war ein Widerspruch zu diesem Krieg mit diesen US-Interessen; er kam auch erst zu einem Zeitpunkt, als der Bundeskanzler sich davon eine Hilfe für den Wahltag am 22. September versprach. Im Mai 2002 hatte Herr Schröder noch Herrn Bush signalisiert, dass man die Absichten der USA mit Blick auf Irak nicht kritisieren werde, solange die USA nicht von Deutschland die Entsendung von Bundeswehrsoldaten erwarte. Das hatte Bush damals zugesichert und von daher war die Positionierung Schröders Anfang August 2002 eine böse Überraschung für die Bush-Administration. Der Widerspruch, der sich am 15. Februar 2003 auf der Strasse manifestiert hat und der an die Friedensbewegung der 80iger Jahre erinnerte, ist der viel grundsätzlichere Widerspruch gegen den Krieg …
W&F: … trotzdem eine punktuelle Überweinstimmung.
Zumach: Ja, aber das beinhaltet auch Gefahren. Die Entwicklung zeigt, dass der Widerspruch der Straße inzwischen zum Teil instrumentalisiert und missbraucht wurde für einen Euronationalismus. Aus der positiv besetzten Absicht, sich von den USA ein Stück weit zu emanzipieren, wurde zunehmend »Honig gesogen« für die Militarisierung EU-Europas. Diese Brisanz hat die Friedensbewegung viel zu lange nicht erkannt. Ich erinnere an den großen Kongress der »Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg« im Dezember 2000. Damals habe ich auf einem Podium mit Egon Bahr, Richard von Weizsäcker und Ernst Otto Czempiel dieses Thema bewusst angesprochen, da ich vermutete, dass die anderen drei im Grunde dafür sind, dass sich EU-Europa auch militärisch emanzipiert. Es gab damals eine heftige Debatte, aber in der Friedensbewegung wurde das Thema nicht nachhaltig diskutiert. Inzwischen sind wir drei/vier Jahre weiter und es sind massive Fakten geschaffen worden, die ja weitgehend bekannt sind. Mit dem jetzt vorliegenden EU-Verfassungsentwurf wird noch mal eine neue Qualität im negativen Sinne erreicht, erstmals in der modernen Verfassungsgeschichte wird hier Aufrüstung als Verfassungspflicht festgeschrieben.
W&F: Sieht man sich die Spaltung innerhalb der Europäischen Union in der Irakkriegsfrage an, stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit. Welches Gewicht kann Europa auf absehbare Zeit in die Weltpolitik einbringen?
Zumach: Die Spaltung hat ja verschiedene Ebenen. Da sind zum einen die Differenzen zwischen dem so genannten Alten Europa und dem so genannten Neuen Europa. Aber auch zwischen den Ländern des »Alten Europa« und innerhalb dieser Länder gibt es deutliche Differenzen. Nehmen wir nur Deutschland: Ich habe es bereits angesprochen, zwischen dem grundsätzlichen Nein der Friedensbewegung zu diesem Krieg und dem opportunistischen Nein der Regierung Schröder/Fischer liegen Welten. Die Regierung hat schließlich alles, was Washington als Unterstützungsleistungen eingefordert hat, erfüllt: Logistische Unterstützung, Überflugrechte, Nutzung von militärischen Anlagen auf deutschem Boden, Lieferung von Patriot-Raketen an Israel und die Türkei, Belassung der Fuchs-Spezialpanzerverbände in Kuwait, Begleitschutz für amerikanische Kriegsschiffe durch die deutsche Marine usw. An Bundeswehrsoldaten hatte Washington nie Interesse, das war eine inszenierte Debatte für die Öffentlichkeit.
Spannender ist da schon, dass – erstmals, soweit ich weiß – eine Spaltung quer durch die deutsche Wirtschaft ging. Der Teil der Wirtschaft, der zum Teil aus früherer intensiver Wirtschaftstätigkeit im Irak noch Verbindungen hatte und der existierende Vorverträge nicht verlieren wollte, unterstützte die Linie des Kanzlers. Ein anderer Teil befürchtete durch das Nein des Kanzlers erhebliche Belastungen für das deutsch-amerikanische Verhältnis und wandte sich deshalb gegen den Regierungskurs.
W&F: Kommen wir zurück zur Frage nach den Differenzen zwischen den Ländern .
Zumach: Das, was viele Journalisten leichtfertig als die neue Achse Moskau-Berlin-Paris bezeichnet haben, war ein zeitlich befristetes Zweckbündnis. Es gab eine gewisse Schnittmenge gemeinsamer Interessen, aber das war kein auf Dauer angelegtes Friedensbündnis. Was die Differenzen zwischen der »Koalition der Willigen« und den Kriegsgegnern betrifft, so liegen diese auf der Hand. Ich denke, dieser Konflikt hat auch eine positive Seite: Das damit verbundene nicht einheitliche Handeln bremst zuerst einmal den Militarisierungszug. Allerdings ist die andere Dynamik schon sichtbar: Die Interessenkonflikte zwischen Gesamteuropa – zumindest der gesamten EU inklusive der Neuen – einerseits und den USA andererseits werden wachsen. Wenn wir uns nur das Thema Energiereserven anschauen und die bekannten Fakten wirklich ernst nehmen, wenn wir uns ansehen wie lange die Gas- und Ölvorräte noch reichen, wenn wir so weitermachen wie bisher, dann ist der Konflikt um den Zugriff auf diese Ressourcen vorprogrammiert. Wenn die Abhängigkeit von Öl und Gas nicht dramatisch reduziert wird, dann bewegen wir uns auf Konflikte zu, die möglicherweise noch zu unseren Lebzeiten zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der EU und den USA führen können.
W&F: Ein Krieg um Energieressourcen zwischen Europa und den USA? Ist das wirklich denkbar?
Zumach: Ich denke nicht an direkte militärische Zusammenstöße sondern eher an Auseinandersetzungen in den Konfliktgebieten Kaukasus oder Naher Osten, die über örtliche Konfliktparteien geführt werden oder aber auch unter Verwicklung eines dritten Akteurs, z.B. Russlands.
W&F: Stehen dem nicht doch die zahlreichen transatlantischen Gemeinsamkeiten entgegen?
Zumach: Für mich gibt es fünf Grundpfeiler des transatlantischen Verhältnisses nach 1945: Erstens der gemeinsame Feind, die Sowjetunion. Ob zu Recht oder zu Unrecht lassen wir mal dahingestellt, dieses Feindbild war schließlich der Gründungskick für die NATO. Zweitens die gemeinsame Geschichte. Die Besiedlungsgeschichte der neuen Welt war wesentlich eine europäische Besiedlungsgeschichte. Drittens die gemeinsamen universellen Werte, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust entstanden sind, etwa in Form der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte und der Genozidkonvention. Viertens die im engeren Sinne westlichen Werte. Dazu zähle ich unser westliches Demokratiemodell, aber vor allem natürlich auch das gemeinsame transatlantische Interesse an einer kapitalistischen Wirtschafts- und Wohlstandsordnung. Der fünfte Pfeiler, das ist jetzt der entscheidende, war das gemeinsame Bewusstsein, der Glaube und heute im Rückblick können wir sagen, die Naivität, dass es für diese kapitalistische Gesellschafts- und Wohlstandsordnung auf Dauer unbegrenzte und auch stets preiswerte Energiereserven gäbe.
Dieses Bewusstsein, oder dieser Glaube, ist während der so genanntenen Ölpreis-Krise von 1974 erstmals leicht angeknackst worden. Die Krise wurde aber hüben und drüben des Atlantiks unterschiedlich verarbeitet, und damit beginnen nach meiner Analyse die Haarrisse im transatlantischen Verhältnis: In den USA gab es – mit der Ausnahme einiger weniger Jahre während der Carter-Regierung – nicht einmal Ansätze in Richtung Energie sparen. Sie setzten und setzen auf das Militär zur Sicherung des Zugriffs auf die Energieressourcen. In Europa wurden die Weichen etwas anders gestellt. Heute verbrauchen die USA bei einen Weltbevölkerungsanteil von 4,3% etwa 25% des Öls. Europa mit einem Weltbevölkerungsanteil von 6,8% verbraucht knapp 11%. In Deutschland lag der durchschnittliche Benzinverbrauch pro Auto im Jahr 2003 bei etwa 8,1 Liter auf 100 km, in den USA lag er bei etwa 16,2 Liter, also das Doppelte. In beiden Fällen war die Schere in den 1970iger Jahren längst nicht so weit.
Damit sage ich nicht, dass wir grundsätzlich alles anders und besser gemacht haben. Bei einem grundsätzlichen Umsteuern wäre viel mehr drin gewesen, technisch ist ja z.B. auch das 4-Liter-Auto machbar.
W&F: Die Energiefrage als zentrale Frage für Krieg und Frieden? Wird da nicht die ökonomische Frage etwas zu sehr verabsolutiert?
Zumach: Ob wir die Abhängigkeit von Öl und Gas senken können, indem wir heute die notwendigen Weichen stellen in Richtung Förderung regenerativer Energien, das scheint mir die zentrale Frage zu sein, die Frage, die auch über Krieg und Frieden in den nächsten dreißig/vierzig/fünfzig Jahren entscheiden wird. Daneben gibt es natürlich noch viele andere Probleme, die gelöst werden müssen. Ich denke z.B. an unsere Wirtschaftsbeziehungen mit dem Süden. Wir brauchen eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Ich halte es auch für notwendig, dass die Europäer sich aus dem US-geführten »Krieg gegen den Terrorismus« zurückziehen und klar sagen, dass dieser Krieg das Problem des Terrorismus nicht löst sondern eher verschärft – mal ganz abgesehen von den damit verbundenen Verstößen gegen das Völkerrecht.
W&F: Welche Mittel, welche Kapazitäten, welches Wissen hat die EU, hat Deutschland zur zivilen Konfliktbewältigung?
Zumach: Wenn unser Außenwirtschaftsverhalten gegenüber bestimmten Staaten und bestimmten Regionen sich verändern würde, wäre das wahrscheinlich der wesentlichste Beitrag, um diese Länder zu stabilisieren. Nehmen wir z.B. die Agrarsubventionspolitik der EU. Jede EU-Kuh wird mit mehr als 2$ pro Tag subventioniert, das ist mehr Geld als über 3,3 Milliarden Menschen dieser Welt täglich zur Verfügung haben. Diese Subventionspolitik führt dazu, dass wir Überschüsse produzieren, die dann erneut subventioniert auf den Weltmarkt geworfen werden. Das zerstört dann u.a. die Lebensbedingungen von Bauern in afrikanischen Staaten, die mittellos in die großen Städte abwandern, was wiederum Überbevölkerung und Flüchtlingsströme zur Folge hat. Eine Korrektur unserer Agrarsubventionspolitik, natürlich auch der der Amerikaner und der Kanadier, ist also dringend notwendig. Oder nehmen wir die Entwicklungshilfepolitik. Sie zielt im Grunde darauf, die Absatzbedingungen für deutsche und andere EU-Unternehmen zu verbessern. Wir brauchen aber eine Politik, die diesen Ländern hilft, ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln und mit ihren Produkten auf den Markt zu gehen.
W&F: Das ist langfristige Konfliktprävention, aber was ist mit den zahlreichen existierenden Konfliktherden?
Zumach: Wenn Konflikte bereits länger existieren, wenn es darum geht Konflikte zu deeskalieren, zu befrieden, möglicherweise sich auch mal in zugespitzten Situationen dazwischen zu stellen, dann braucht man dafür geschultes Personal. 1998 haben Herr Milosevic und Herr Holbrooke die Entsendung von 2.000 OSZE-Beobachtern in das Kosovo vereinbart. Wo der sofortige Einsatz notwendig gewesen wäre, dauerte es Wochen und Monate, und die beschlossene Zahl wurde nie erreicht. Es fehlte sicher in einigen Entsendestaaten die Einsicht in die politische Notwendigkeit, es fehlte aber auch geschultes Personal. Warum stellen wir uns nicht das Ziel, Deutschland bildet in den nächsten fünf Jahren 5.000 Menschen für Einsätze in Konfliktgebieten aus. Menschen mit verschiedenen Hintergründen, aus unterschiedlichen Berufen, die gut bezahlt werden und auch für die Zeit nach dem Einsatz abgesichert werden? Geschultes Personal, dass dann im Bedarfsfall der OSZE und der UNO oder auch für EU-Einsätze zur Verfügung gestellt werden kann. Das kostet natürlich Geld und man muss sich darüber im Klaren sein, man wird nicht eine hochmilitarisierte nationale- und EU-Außenpolitik finanzieren können und gleichzeitig wirklich wirksame Instrumente zur Früherkennung, zur Prävention, zur Bearbeitung und Überwindung und Deeskalation von Konflikten. Beides gemeinsam geht nicht, das ist eine entweder/oder-Entscheidung. Im Moment wird auch von dieser Regierung gesagt, wir machen zivile Konfliktbearbeitung. Wenn wir uns aber die Dimensionen ansehen, dann ist das nur ein »Tröpfchen auf dem heißen Stein« verglichen mit dem, was für den militärischen Bereich ausgegeben wird.
W&F: Sie haben die von den Friedensbewegung heftig kritisierte «Aufrüstungsverpflichtung« im EU-Verfassungsentwurf bereits angesprochen. In den Debatten um die Verfassung wird immer öfter von einem »Kern-Europa« gesprochen, auch und gerade, wenn es um die zukünftige militärische Zusammenarbeit in Europa geht. Fragmentiert sich Europa oder ist das der richtige Weg: Jeder in seinem eigenen Tempo und die anderen klinken sich dann nach und nach ein?
Zumach: Es ist der falsche Weg, weil das »Militärische« und nicht das »Zivile« dominiert. Er berücksichtigt lediglich, dass es Staaten gibt, die sagen, wir können noch nicht so schnell. Die Staaten, die sich möglicherweise jetzt ausgeschlossen fühlen aus diesem »Kern-Europa-Gedanken«, das sind ja keine Staaten, die grundsätzliche Widersprüche gegen die EU-Verfassung oder das »Solana-Papier« haben. Auch von den neutralen, den nicht NATO-Staaten in der EU, wie Österreich, Schweden und Finnland, wurde kein nennenswerter Widerspruch gegen die EU-Verfassung angemeldet, obwohl sie damit rechnen müssen, dass sie mit ihren eigenen, die Neutralität festschreibenden Verfassungen schwer unter Druck kommen.
W&F: Weil die EU-Verfassung dann Vorrang vor der nationalen Verfassung hat …
Zumach: … genau! Das heißt zwar nicht, das bei einem Kriegseinsatz der EU eines der Länder gezwungen werden kann, eigene Truppen zu stellen, aber ein solcher EU-Kriegseinsatz würde dann auch im Namen Österreichs oder Schwedens passieren. Auch das wäre natürlich ein Bruch mit der Neutralitätspolitik, da kann man sich drehen und wenden, wie man will.
W&F: Noch mal zurück zum »Kern-Europa«. Welche Rolle spielt die militärische Handlungsfähigkeit?
Zumach: Bei den USA sehen wir seit Jahren, wie sie sich eine Vielzahl von Optionen für militärische Einsätze schaffen : Im Idealfall handeln sie im Rahmen der UNO oder mit einem klaren UNO-Mandat, wenn das nicht geht, setzen sie auf die NATO, wenn das auch nicht geht, dann gibt’s eben eine »Koalition der Willigen«, die je nach konkretem Bedarf unterschiedlich aussehen kann. Bei einem »Kern-Europa« besteht die Gefahr, dass es auch als so eine Art »Koalition der Willigen« anfängt, zuerst mal mit vieren – ich glaub noch gar nicht dass Großbritannien von Anfang an dabei wäre –, dann kommt vielleicht irgendwann mal ein Fünfter dazu oder auch ein Sechster oder Siebter. Im Grunde ist das die ideale Situation: man zwingt kein EU-Mitglied bei irgendetwas mitzumachen, bei dem es unbedingt nicht will oder bei dem es innenpolitisch größere Probleme bekäme und man ist trotzdem handlungsfähig.
W&F: Handlungsfähig bei militärischen Einsätzen oder auch in Richtung Entwicklung eines »Zivilen Europa«?
Zumach: Dass darin die Chance für ein anderes Europa liegt, sehe ich nicht. Es gibt gegenwärtig keine Debatten, die Militäreinsätze grundsätzlich in Frage stellen. Bei diesem »Kern-Europa« geht es ja gerade darum, dass nicht alle 15 oder demnächst alle 25 Ja sagen müssen. Ich befürchte, dass das in der Praxis dazu führt, dass schneller militärisch gehandelt wird. Ein »Kern-Europa« – sagen wir mal Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg – wird nicht verhindern, dass die USA einen Irak-Krieg führen und es kann auch nicht verhindern, dass Polen in einem künftigen Konflikt sich wieder auf die Seite der USA schlägt. Wenn überhaupt, macht dieses »Kern-Europa« ja nur als Koalition Sinn, die eigenständig handelt, da wo andere noch nicht bereit, nicht willens oder nicht in der Lage sind. Das ist dann aber eher eine bedrohliche Entwicklung.
W&F: Eine EU, oder ein »Kern-Europa«, die weltpolitisch eine größere Rolle spielen will und deshalb forciert aufrüstet. Das erhöht das Konfliktpotential zwischen den USA und Europa und führt doch nicht zu einer neuen Machtbalance. Ich denke, wir stimmen überein, dass es undenkbar – und auch gar nicht wünschenswert – ist, dass Europa die USA militärisch einholt. Sehen Sie eine Chance für eine Kursänderung?
Zumach: Die Illusion,West-Europa oder später dann EU-Europa wäre die bessere Alternative zu den USA, hat es immer geben – auch und gerade bei den Linken und in der Friedensbewegung. Die Verhaltensweise einer vermeintlich übermächtigen Hegemonialmacht USA seit Ende des Kalten Krieges und vor allem seit dem letzten Irakkrieg, hat den Wunsch nach einer Emanzipation Europas noch einmal verstärkt.
Aber Europa ist nun mal nicht per se besser als die USA. Wenn der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit sagt, Europa wäre die global bessere Alternative zu den USA, dann ist es Propaganda. Und wenn Egon Bahr schreibt, der Unterschied zwischen den USA und Europa ist der Unterschied zwischen einer Hegemonialmacht, die ihre Dominanz ausdehnen will, und einem Kontinent, der friedliche Stabilität erstrebt, so kann ich nur zu seinen Gunsten annehmen, dass er das gern möchte. Tatsächlich ist Europa nur dann besser, wenn es eine andere Politik, eine andere Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik betreibt. Einige Punkte habe ich eingangs angeschnitten.
Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sich Friedensbewegung und kritische Öffentlichkeit das klar machen. Nur dann können sie sich auch der Vereinnahmung durch gewisse offizielle Politiken erfolgreich widersetzten.
Ganz konkret denke ich, dass die EU-Verfassung sehr wichtig ist für den zukünftigen Weg der EU. Wir müssen den Streit um diese Verfassung entzünden. Das geht aber nur, wenn wir eine Kampagne starten zur vollständigen Ablehnung dieser Verfassung, die ja nicht nur in ihren militärischen Teilen problematisch ist, sondern auch in ihrem wirtschaftsliberalen und in ihrem durchgehenden Demokratiedefizit. Diesen Streit entzünden wir aber nicht, wenn wir hier einen Paragraphen und da ein paar Sätze ändern wollen.
Es wäre gut, wenn sich die globalisierungskritische Bewegung und die Friedensbewegung, die Umweltbewegung und die Nord-Süd-Solidaritätsbewegung darauf verständigen könnten, eine solche Kampagne los zu treten, in Deutschland und auch in den anderen EU-Staaten.
Eine Kampagne zur Ablehnung dieser Verfassung, verbunden mit der Forderung, dass über einen künftigen Entwurf in allen Mitgliedstaaten die Bevölkerungen abstimmen müssen, dann schließe ich nicht aus, dass wir eine Debatte bekommen, die zu Veränderungen führt. Der Wahlkampf zu den EU-Wahlen könnte dafür genutzt werden.
W&F: Vielen Dank für das Gespräch.
Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am UNO-Sitz in Genf für die Berliner taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. In den 1980er Jahren war er für die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste im Koordinationsausschuss der bundesweiten Friedensbewegung und zeitweise einer der Sprecher.