W&F 2018/4

»Racial Capitalism« und Neoliberalismus

Workshop an der Justus-Liebig Universität, Gießen, 4.-5. Juli 2018

von María Cárdenas

Was bedeutet Solidarität im Kontext von Racial Capitalism, Neoliberalismus und der Finanzialisierung unserer Welt? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Rassismus, dem Wiedererstarken von Rechtspopulismus in Europa wie andernorts und dem Kapitalismus unserer heutigen Zeit? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der zweitägige internationale Workshop »Solidarity Reloaded: Racial Capitalism, Neoliberalism and Financialization« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Der Workshop wurde organisiert von Encarnación Gutiérrez, Andrea Sempértegui, María Cárdenas und Ceren Türkmen und gefördert durch das Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) und den Lehrstuhl für allgemeine Soziologie der Universität. Das Thema wurde aus dekolonial-feministischer Perspektive und anhand verschiedener Beispiele aus Europa (Deutschland und Großbritannien) und Lateinamerika (Ecuador und Kolumbien) beleuchtet. Ziel war es, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der spezifischen Ausformung des Dreiecks von Rassismus – Patriarchat – Kapitalismus in den lokalen Kontexten auszumachen und gleichzeitig zu versuchen, Formen des Widerstands und der Solidarität zu identifizieren.

Der Workshop wurde am ersten Tag mit der von Prof. Encarnación Gutiérrez moderierten Podiumsdiskussion »Reloading Solidarity in Dangerous Times« eröffnet. Die drei geladenen Keynote-Speaker Gargi Bhattacharyya, Santiago Castro Gómez und Christina Vega Solis teilten zunächst ihre individuelle Perspektive auf die aktuelle Konjunktur und das Konfliktpotential des Racial Capitalism, um anschließend gemeinsam zu überlegen, welche Strategien zu einer Herausforderung des rassistischen Kapitalismus und zum Widerstand führen können.

Der zweite Tag des Workshops begann mit einer Einführung in das Konzept des »Racial Capitalism« (Cedric Robinson) durch Prof. Gargi Bhattacharyya. Die Soziologin der University of East London, die sich in Büchern wie »Dangerous Brown Men« oder »Crisis, Austerity and Everyday Life« mit der Intersektionalität von Kapitalismus, Rassismus und Geschlecht und ihrem Konfliktpotential für Großbritannien befasst, forderte ein Neulesen von Robinsons »Black Marxism -The Making of the Black Radical Tradition« (1983) angesichts seiner Antizipation von vielen der heutigen Konflikte in Europa und auch andernorts. Robinson zeige in seinem Werk, dass der Racial Capitalism bereits im Feudalsystem entstand und im Rahmen von Akkumulation und Enteignung, Ausbeutung und Sklaverei, Eurozentrismus einerseits und europäisch initiierten Genoziden (beispielsweise an der ursprünglichen Bevölkerung in den Amerikas) und Besetzung andererseits die moderne westliche Ordnung erst hervorbringen konnte. In diesem Sinne seien Kapitalismus und Rassismus kein Ergebnis der historischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte, sondern bedingten diese vielmehr. Entsprechend sei der Rassismus in Großbritannien auch nicht als Nebeneffekt des Brexits zu verstehen, sondern stehe im Zentrum dessen, was Bhattacharyya als “neues autoritäres Renationalisierungsprojekt” bezeichnet. Dieser Beitrag wurde von Ceren Türkmen, Soziologin der Uni Gießen, durch eine postkolonial-antirassistische Kritik marxistischer Ansätze ergänzt, deren Relevanz sie anschließend am Beispiel der aktuellen Krise des Migrations- und Asylregimes in Deutschland aufzeigte.

Den Nachmittag eröffnete Cristina Vega Solis, Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Ecuador, mit einer kritisch-feministischen Analyse von Solidarität anhand ihrer jüngsten Forschung zur Abtreibungsdebatte in Lateinamerika, zum Erdbeben in Ecuador 2016 sowie zu feministischen Protesten, wie sie jüngst in Argentinien, Ecuador und Brasilien stattfanden. Diese Phänomene könnten nicht ohne eine intersektionale Perspektive verstanden werden, die rassistische Diskurse und Bevormundung entlang Gender sichtbar machen. So stellten Abtreibungsgegner in Ecuador das Narrativ der idealtypischen »weißen« katholischen und formell gebildeten Kleinfamilie Diskursen über verarmte indigene Familien mit vielen Kindern gegenüber, um Abtreibung als rassisiertes »Bildungs- und Entwicklungsproblem« darzustellen. Andrea Sempértegui, Doktorandin am GCSC, kommentierte Vega Solis‘ Präsentation durch eine Verknüpfung des Konzepts des Racial Capitalism von Cedric Robinson mit dem Erdbeben 2016 in Ecuador und wie dies für die Expansion von Extraktivismusprojekten genutzt wurde.

Die Konferenz schloss mit dem Panel »conceptualizing ‘raza’ – decolonial perspectives«, moderiert durch Vanessa Thompson (Uni Frankfurt). Der Keynote-Speaker Santiago Castro Gómez, Philosoph an der Universität Javeriana (Kolumbien), zeigte anhand einer genealogischen Analyse, wie die heutige rassisierte Gesellschaftshierarchie Kolumbiens durch lokale Praktiken im 16. und 17. Jahrhundert im Konflikt zwischen spanischer Krone und Elite entstand. Hiermit bestätigte er die zu Beginn von Gargi Bhattacharyya artikulierten Zusammenhänge von Kapital und Rassismus im Feudalsystem. Santiago Castro Gómez zeigte aufbauend auf dem Konzept der »Kolonialität der Macht« (Anibal Quijano), wie die »weiße« Elite ein komplexes rassisiertes Gesellschaftssystem aufbaute, um ihren privilegierten Status zur kapitalistischen Akkumulation durch Extraktivismus gegen die Interessen der spanischen Krone abzusichern. Im Gegenzug war die Entwicklung indigener Reservate in Kolumbien ein Versuch der spanischen Krone, die Privatisierung von Land und somit den Verlust der Kontrolle über das kolumbianische Territorium einzudämmen.

María Cárdenas baute auf Castro Gómez’ Genealogie auf und wandte sie auf das heutige Friedensabkommen zwischen der FARC-EP und der Santos-Regierung an. In diesem Zusammenhang werden die im Friedensabkommen anvisierten Landreformen als Versuch des Staates sichtbar, das durch die Demobilisierung der FARC nun zugängliche Land für internationale Investitionen zurückzuerobern und in diesem Kontext Land notfalls auch in Oberfläche und Untergrund aufzuteilen (um so das in der Verfassung zugestandene indigene Territorium für Fracking und andere Formen des Extraktivismus wortwörtlich unterwandern zu können). Die Nein-Kampagne gegen das Friedensabkommen, das – ähnlich wie die Abtreibungskampagne in Ecuador –angesichts der im Friedensabkommen vorgesehen Gendersensibilität katholische und evangelikale Diskurse mobilisierte und Angst vor Werteverlust schürte, kann demgemäß als eine Strategie der weißen Großgrundbesitzer gesehen werden, sich gegen den Kern des Abkommens – die Landreform – zu wehren (siehe dazu Alejandra Londoño, »Gender-Ideologie« in Kolumbien, in W&F 3-2018).

Castro Gomez, Thompson und Cárdenas diskutierten mit dem Plenum die gezielte Ermordung ländlicher, indigener, afrokolumbianischer Aktivist*innen und Opfervertreter*innen, die die existierende, durch Vertreibung und Enteignung hervorgerufene Landverteilung anprangern, die im Schatten des bewaffneten Konflikts vorangetrieben worden war, als ein weiteres Beispiel von Racial Capitalism: Die seit Unterzeichnung des Friedensabkommens gezielte und fortschreitende Ermordung von mehr als 350 Aktivist*innen löscht mit ihnen immer auch kollektives Wissen ländlicher/ethnischer Gemeinden aus, das diese Aktivist*innen bewahrten, und verhindert so auch langfristig, dass das im Friedenabkommen versprochene Mindestmaß an sozialer und territorialer Gerechtigkeit und damit die Beseitigung einer der Ursachen des bewaffneten Konflikte eingefordert wird.

Die Konferenz schloss mit Worten von Megan Ming Francis, Politikwissenschaftlerin an der University of Washington, die mit einer antirassistischen Perspektive die oft unsichtbar gemachte Bedeutung des Black Civil Rights Movement für die Demokratiebildung in den USA hervorhob und daher »Solidarität« auch mit Blick auf die aktuelle Situation in den USA kritisch hinterfragte. So seien die Akteure der politischen Kämpfe, die meist selbst Opfer der staatlichen Unterdrückung und rassistischen Polizeigewalt sind, vom öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen, obgleich sie zur Demokratiebildung beitragen. Umgekehrt fragte sie, weshalb in einem Kampf gegen Rassismus und Gewalt – einem Kampf, der die Gesamtheit der Gesellschaft angehen sollte – diejenigen die meiste Arbeit machen, die hiervon betroffen sind? Wie können wir diese Form von rassisierter Arbeit und (Selbst-) Ausbeutung diskutieren, und welche Arbeit können und sollten »weiße« Aktivist*innen übernehmen, ohne für die von Gewalt betroffenen Gruppen zu sprechen? In diesem Sinne appellierte sie an die Wissenschaftler*innen, nicht stets den Staat zu betrachten, sondern Basisaktivismus zu untersuchen und hierdurch zu stärken.

María Cárdenas

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/4 Kriegsführung 4.0, Seite 53–54