W&F 1990/3

Raketen im Golf – Ist der Geist schon aus der Flasche?

Informationen zur Trägerwaffenfähigkeit einzelner Staaten im Nahen und Mittleren Osten

von Götz Neuneck • Jürgen Scheffran

Am 2. August 1990 überfielen und besetzten irakische Truppen den Nachbarstaat Kuwait. Die überwältigende Zahl aller Staaten verurteilte dies als völkerrechtswidrigen Akt der Gewalt. Die Reaktionen reichten von der Wirtschaftsblockade Iraks bis hin zur Entsendung von Truppen in die Golf-Region. Der Weltöffentlichkeit wurde auf dramatische Weise bewußt, daß mit dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr eines heißen Krieges im Zusammenhang mit dem Nord-Süd-Konflikt nicht gebannt ist. Seit Jahren wurde in vielen Ländern der Dritten Welt, besonders im Nahen und Mittleren Osten, durch eine qualitative wie quantitative Hochrüstung ein enormes Zerstörungspotential angehäuft, meist unter direkter Beteiligung der entwickelten Industrienationen.

Langstreckenraketen mit nuklearer Nutzlast sind seit den 50er und 60er Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Arsenale der USA, der Sowjetunion, Frankreichs, Großbritannien und Chinas. Nach dem Vorbild dieser Staaten versucht eine wachsende Zahl von Staaten, nicht nur in den Besitz von nuklearen, chemischen und konventionellen Waffen zu kommen, sondern auch die entsprechenden Trägersysteme dafür zu importieren bzw. selbst zu produzieren. Insbesondere die Sowjetunion hatte ihren Verbündeten Kurzstreckensysteme wie die FROG 7, SS 21 und Scud-B zur Verfügung gestellt. Aber auch die USA und insbesondere private Firmen in Europa halfen einigen Ländern beim Aufbau ihrer Raketenstreitkräfte kräftig mit. Das SIPRI-Jahrbuch 1990 zählt insgesamt 26 Staaten auf, die neben den 5 großen Nuklearmächten über Trägerraketen mit einer Reichweite zwischen 50 und 2200 km verfügen. Nach Aussagen des CIA-Direktors W. Webster können bis zum Jahr 2000 etwa 15 Länder sogar eigene ballistische Raketen produzieren, die in der Lage sind, ABC-Sprengköpfe zu transportieren (Jane's Defense Weekly, 22.4.89, S. 696).

Zum Aufbau eigener Raketenstreitkräfte ist erhebliches Wissen auf dem Gebiet der Raketen-Technik, der Produktion von Treibstoffen, von elektronischer Ausstattung (Lenksysteme, Zielansteuerung) etc. notwendig. Von Anfang an bemühten sich einige Länder, nicht mehr von den Lieferungen der Großmächte abhängig zu sein, sondern auch eigene Produktionsanlagen und Entwicklungslabors zur Eigenproduktion oder zum Export zu errichten. Teilweise wurden vorhandene sowjetische Systeme von Ländern der Dritten Welt (Irak, Süd-Korea, Iran) verbessert und eigenständig produziert. Teilweise bemühen sich einige Staaten der Dritten Welt aber auch, gemeinsam eigene Raketen zu entwickeln. Als Beispiel ist hier das Condor II-Programm zu nennen, bei dem Argentinien, Ägypten, und Irak bis 1988/1989 versuchten, eine Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von etwa 1000 km zu entwickeln, mit tatkräftiger Unterstützung u.a. westdeutscher und italienischer Ingenieure.

Ballistische Raketen im Nahen und Mittleren Osten
Rakete Reichweite (in km) Nutzlast (in kg) Zielgenauigkeit (CEP in Meter) Herkunftsland
Ägypten
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
Saqur 80 80 200 NA Franz. Lizenz
Scud-B 300 1000 1000 Sowjetunion
Iran
Oghab 40 300 NA Iran/China
Shahin 2 100-130 NA NA Iran/China
Iran-130 130 NA NA Iran/China
Scud-B 300 1000 1000 Syrien / Libyen / Nord-Korea
Irak
FROG-7 70 450 300-700 Sowjetunion
Fahd 240-480 450 NA Irak
Scud-B 300 1000 1000 Sowjetunion
Al Hussein 600 135-250 1500-3000 Irak
Condor 2 800-1000 450 600 Irak/Argent.
Al Abbas 900 500 3000-5000 Irak
Tammuz-1 2000 NA NA Irak
Israel
Lance 130 200 400 USA
Jericho I 640 250 NA Israel
Jericho II 500-1500 450-700 NA Israel
Jericho IIB 1500-1900 750 NA Israel
Kuwait
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
Libyen
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
Scud-B 300 1000 NA Sowjetunion
Otrag 500-720 NA NA BRD-Lizenz
Al Fatih 500-720 NA NA BRD-Lizenz
Saudi Arabien
CSS-2 2500-3000 2000 2500 China
Syrien
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
SS-21 120 250 300 Sowjetunion
Scud-B 300 1000 1000 Sowjetunion
Nordjemen
SS-21 120 250 300 Sowjetunion
Südjemen
FROG-7 70 450 500-700 Sowjetunion
SS-21 120 250 300 Sowjetunion
Scud-B 190 1000 1000 Sowjetunion
NA: nicht angebbar
(Quelle: Arms Control Today, Mai 1990, S. 31; ergänzt um Nolan 1990.)
Anmerkungen: Die Angaben über neu produzierte oder modifizierte Systeme sinderheblich ungenauer als die sowjetischen Daten. Eine Reihe von Systemen sind nicht aufgelistet, z.B. die Weltraumraketen Israels und des Irak „Shavit“ und „Al Abid“; ebenso die Mehrfach-Raketenwerfer wie die brasilianische „Astross SS-60“ des Irak und Saudi-Arabiens; ebenso die Artillerie-Rakete der MAR Serien Israels. Es handelt sich in allen Fällen um einstufige Raketen mit Ausnahme von „Condor II“ sowie die Jericho-Serien mit je zwei Stufen. Alle Raketen sind stationiert, bis auf Shahin-2, Fahd, Condor II, Al Abbas, Tammuz-1, Jericho IIB, Otrag und Al Fath, die sich noch in der Entwicklung befinden.

Einsatz von Raketen im Krieg Irak–Iran

In der Krisenregion im Mittleren Osten sind Wissen, Produktion und Besitz von Kurz-bzw. Mittelstreckenraketen inzwischen weit verbreitet. Den ersten traurigen Höhepunkt bildete der massive Einsatz von Kurz- bzw. Mittelstreckenraketen (“Krieg der Städte“) im Golfkrieg zwischen Iran und Irak. Der Iran feuerte zwischen 1985 und 1988 etwa 455 ballistische Raketen auf den Irak, während der Irak den Iran zwischen 1980 und 1988 mit 428 ballistischen Raketen beschoß, was einige tausend Menschen das Leben kostete und mehr als zehntausend verwundete. Im April 1990 drohte Saddam Hussein mit dem Einsatz chemischer Waffen gegen Israel, und nach dem Massaker am Tempelberg drohte er in einer im Radio verlesenen Botschaft an, eine Rakete mit dem Namen „El Hijara“ (Stein) gegen Israel einzusetzen, „wenn die Zeit der Abrechnung kommt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 10.10.1990). Der irakische Regierungssprecher Nassif Dschassem schließlich kündigte am 20. September 1990 im Falle eines Angriffs die Zerstörung aller Ölfelder an (FAZ vom 21.9.90). Zur gleichen Zeit wurde auch die Verwicklung westlicher, v.a. auch bundesdeutscher Firmen, in Exportskandale bekannt, die Irak die entsprechenden Mittel dazu lieferten.

Im folgenden wird ein kurzer Überblick über den Stand der Raketentechnik der am Golfkonflikt beteiligten Parteien bzw. Anrainerstaaten gegeben (siehe die Tabelle), ohne Berücksichtigung anderer Trägersysteme (Raketenartillerie, Flugzeuge, Cruise Missiles). Nähere Informationen über diese und die anderen 18 Staaten, die im Besitz von Trägerraketen sind, findet man im Literaturverzeichnis. Einige Angaben sind mit Unsicherheiten behaftet, die Reichweiten hängen stark von der Nutzlastmasse ab.

Irak

Seit Jahren besitzt der Irak eine große Anzahl ballistischer Raketen, die zunächst aus der Sowjetunion importiert wurden. Die irakische Raketenstreitkraft besteht hauptsächlich aus sowjetischen FROG 7 (70 km Reichweite) und Scud-B-Raketen (300 km Reichweite). Laut IISS-Military Balance 1989-90 verfügt der Irak nach dem Krieg mit Iran, in dem modifizierte Scud-B-Raketen gegen Teheran eingesetzt wurden, noch über 30 FROG-7 und 36 Scud-B Startgeräte. SIPRI gibt 20 Startgeräte mit mehr als 360 Raketen an. Nach jüngsten Informationen soll der Irak sich in diesem Jahr 50 weitere Scud-Raketenwerfer angeschafft haben (Süddeutsche Zeitung vom 20./21.11.1990).

Seit Ende des Golfkrieges im August 1988 vergrößerte der Irak sein Raketenprogramm ständig. Die neu gegründete irakische Kriegsindustrieorganisation, die während des irakisch-iranischen Krieges unter der Leitung von Hussein Kamil, eines Schwiegersohns von Sadam Husseins stand, baute Mitte der 80er Jahre eine Raketenfabrik in der Nähe von Bagdad, sowie eine Forschungs- und Entwicklungsanlage in der Nähe von Mosul auf. Ca. 3 Mrd. Dollar wurden investiert, um diese Fabriken mit westlicher Technologie auszustatten. Die Schweizer Firma Consen koordinierte Teile der Arbeit und bezog österreichische und westdeutsche Konstruktionsfirmen mit ein. Große Teile der Ausrüstung stammen aus der Bundesrepublik und den USA. Ein Teil wurde von italienischen und anderen Banken finanziert.

Im August 1987 konnte der Irak seine Fortentwicklung der Scud-B, die sogenannte Al-Hussein-Rakete testen. Um die Reichweite der Rakete auf etwa 600 km erhöhen zu können, wurde der Rumpf der Rakete verlängert und die Nutzlast von 800 kg auf etwa 190 kg verringert (s.Abbildung). Da die Al-Hussein das Navigationssystem der sowjetischen Scud-B unverändert übernommen hat, dürfte die Treffergenauigkeit lediglich im Bereich von 2-3 km liegen (bei derartigen Raketen ist die Zielgenauigkeit etwa der dreihundertste Teil der Reichweite). Die Nutzlast von etwa 200 kg bedeutet, daß die Al-Hussein zumindest für Uranbomben nicht atomwaffentauglich ist. Für leichtere Atomwaffen, die Plutonium als Spaltstoff und Beryllium als Neutronenreflektor verwenden können, steht die Tauglichkeit zumindest in Frage. 1988 testete der Irak eine weiter modifizierte Al-Hussein-Rakete, die sogenannte Al-Abbas, die eine Reichweite von etwa 900 km haben soll.

Da die Weiterentwicklung der Scud-B-Linie wegen ihrer geringen Zielgenauigkeit und Reichweite nur begrenzt möglich ist, bemühte sich der Irak um die Beteiligung an multinationalen Raketenprogrammen der Dritten Welt. Neben dem bereits genannten Condor-Programm verfolgt Irak das Projekt 395, zunächst mit Unterstützung westeuropäischer Organisationen und Firmen, später alleine. Hierbei handelt es sich offenbar um die Entwicklung der zweistufigen Tammuz-I-Rakete mit einer Reichweite von 2000 km, die wahrscheinlich auf dem Condor-II-Programm basiert. Da der Irak eine Rakete dieser Reichweite weder innerhalb der eigenen Landesgrenzen noch über einem Ozean testen kann, verhandelt er mit Mauretanien über die Bereitstellung einer Startanlage auf deren Gebiet. Anfang 1989 richtete der Irak eine Fabrik zur Produktion von Festtreibstoffen ein sowie eine Fabrik zur Produktion von Einzelkomponenten und einen Raketenteststand. Es ist zu vermuten, daß die Tammuz-Rakete auch Kernwaffen tragen können wird. Am 5. Dezember 1989 gelang es dem Irak sogar, mit Hilfe der als dreistufig angenommenen, 48 Tonnen schweren und 25 m hohen Al-Abed Rakete drei Objekte kurzzeitig in einen erdnahen Orbit zu schicken.

Iran

Der Iran, der anfänglich Scud-Raketen von Nord-Korea, Libyen und Syrien geliefert bekam, verfügt nun über die Eigenproduktion ihrer Iran-130 (130 km Reichweite). Wie der Irak hat der Iran größtes Interesse daran, chemische Sprengköpfe zu entwickeln. Es wird vermutet, daß chemische Sprengköpfe bereits gegen irakische Streitkräfte eingesetzt worden sind. Desweiteren verfügt der Iran über 100 SCUD-B, die während des Golfkrieges von Libyen, Nordkorea und Syrien geliefert wurden.

Israel

Israel besitzt die entwickeltste Militärindustrie im Nahen und Mittleren Osten. Die israelischen Raketenstreitkräfte verfügen über 12 Lance-Raketengestelle mit insgesamt ca. 60 Raketen, die von den USA geliefert wurden. Ihre Reichweite beträgt etwa 130 km. Sie verfügt über einen hochexplosiven Sprengkopf mit einer Treffergenauigkeit von 150 bis 400 m. Ende der 60er Jahre begann Israel mit französischer Unterstützung, die Jericho-Raketen-Systeme zu entwickeln. Die Jericho I trägt eine Nutzlast von 250 kg über eine Distanz von 500 km ins Ziel. Mit der Treffergenauigkeit von vielleicht 1000 m ist es möglich, militärische Ziele mittels eines nuklearen Sprengkopfes auszuschalten. Die zweistufige Version Jericho II hat ein verbessertes Navigationssystem und eine Reichweite von bis zu 1500 km. Von beiden Systemen sind wahrscheinlich je 50 Flugkörper stationiert. Die sich in der Entwicklung befindliche Jericho-IIB soll eine Reichweite von 1900 km haben und soll in der Lage sein, sämtliche arabischen Hauptstädte sowie Teheran und sowjetisches Territorium zu treffen. Der Abschuß des Ofec I-Satelliten am 19. September 1988 in eine Umlaufbahn mittels einer selbstproduzierten Shavit-Rakete zeigt die Fähigkeit der Israelis, größere Nutzlasten auch über längere Distanzen zu transportieren. Es wird angenommen, daß Israel über 200 nukleare Sprengsätze, sowie chemische Waffen verfügt.

Syrien

Syrien verfügt über 24 FROG-7 Startgeräte (96 Raketen). Es wird vermutet, daß die syrische Armee einen chemischen Sprengkopf (VX Nervengas) für diese Rakete entwickelt. Von der Scud-B besitzt Syrien 18 Startgestelle mit 54 Raketen. Mit dieser Rakete ist es möglich, zivile und militärische Ziele in Nord-Israel zu erreichen. Wesentlich treffgenauer (100-300 m) sind die 36 SS 21-Raketen (12 Startgestelle), die die Sowjetunion geliefert hat. Hiermit ist es möglich, auch militärische Ziele anzugreifen. Syrische Politiker haben versucht, Mittelstreckenraketen von der Sowjetunion (SS 23, 500 km Reichweite) und von China (M-9, 600 km Reichweite) zu bekommen, bisher wahrscheinlich ohne Erfolg.

Saudi-Arabien

Im März 1988 hat Saudi-Arabien den Kauf von 20-50 chinesischen DF-3-Raketen bekanntgegeben. Die zweistufige Rakete kann eine Nutzlast von 2 Tonnen über eine Distanz von 2500-3000 km transportieren. Aufgrund ihrer geringen Treffergenauigkeit ist es möglich, zivile Ziele in der Sowjetunion, in Israel und im Iran zu treffen. Wahrscheinlich dienen die Raketen mehr als Symbol saudischer Macht als der Bedrohung konkreter militärischer Ziele. Saudi-Arabien ist bereit, den Vertrag zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen beizutreten und tritt für eine „No-First-Use“-Politik ein.

Ägypten

Wie Israel und der Irak besitzt auch „Agypten einen ausgedehnten militärisch-industriellen Komplex. In ägyptischen Diensten stehen FROG 7-Raketen sowie 100 Scud-B-Raketen. Ägypten entwickelt die 600km-reichweitige Scud 100. Es wird berichtet, daß zusammen mit Argentinien an einer Feststoff-Rakete Badr-2000 mit einer Reichweite von 900 km gearbeitet wird.

Libyen

Die libyschen Raketenarsenale bestehen aus FROG (48 Startgeräte, 144 Raketen) sowie aus Scud-B (80 Raketengestelle, 240 Raketen). Mit intensiver deutscher Hilfe sollen zwei Systeme entwickelt werden: Otrag (500 km Reichweite) und Ittisalt (700 km Reichweite). Weiterhin wurde versucht, von China DF-3-Raketen zu kaufen bzw. eine ballistische Rakete von privaten Firmen in West-Deutschland.

Folgen und Kontrollmöglichkeiten

Da einige Lieferländer selbst über gewaltige Raketenstreitkräfte verfügen, sollten sie es vermeiden, das Feindbild einer mit Atomraketen hochgerüsteten und für die nördlichen Industriestaaten bedrohlichen Dritten Welt zu zeichnen. In erster Linie ist die Raketenproliferation im Mittleren Osten ein Problem für die dort lebenden Menschen, zum einen wegen der hohen Kosten der Aufrüstung, mehr aber noch durch das gewachsene gegenseitige Bedrohungspotential. Eine Situation, in der alle verfeindeten Staaten möglicherweise ihre Hauptstädte in Minutenschnelle atomar und chemisch vernichten können, ist noch weit komplexer und instabiler als die vorwiegend bipolare Struktur des Ost-West-Konflikts. Mit wachsender Reichweite und Leistungsfähigkeit der Trägersysteme würde diese Bedrohung zu einem globalen Problem.

Relativ spät, im Jahre 1987, vereinbarten sieben westliche Industrienationen Exportbarrieren zur Eindämmung von Trägertechnologien. Nach mehrjährigen Geheimverhandlungen einigten sich Großbritannien, Kanada, Frankreich, die Bundesrepublik, Italien, Japan und die Vereinigten Staaten auf ein informelles Abkommen, das »Missile Technology Control Regime« (MTCR). Spanien wurde 1989 Mitglied, und Schweden führte ähnliche Regelungen ein. Der »Missile-Technology-Control-Act« von 1989 verbietet es der US-Regierung bei Firmen einzukaufen, die das Kontrollregime verletzt haben. In den letzten Jahren wurden einige Fälle öffentlich bekannt, die klare Verstöße gegen das Kontrollregime bilden.

Das MTCR-Abkommen unterscheidet zwei Kategorien von Raketentechnologie. Die für den Export untersagte Kategorie I umfaßt vollständige Raketensysteme, die fähig sind, wenigstens eine 500-Kilogramm-Nutzlast über eine Reichweite von mehr als 300 Kilometern zum Einsatz zu bringen, sowie zugehörige Produktionsanlagen und vollständige Untersysteme. Zur genehmigungspflichtigen Kategorie II gehört eine nur schwer überschaubare und kontrollierbare Vielzahl von Raketentechnologien, u.a. Antriebstechnologien und Werkstoffe, Unterstützungs- und Testeinrichtungen sowie verschiedenste elektronische Komponenten.

Das MTCR-Abkommen wurde von verschiedener Seite kritisiert, u.a. weil hiermit die »Raketen-Habenichtse« durch die raketenbesitzenden Länder diskriminiert werden und der Versuch, eine Barriere gegen die Ausbreitung der Raketentechnologie zu errichten, ohnehin zu spät komme. Tatsächlich hat nach Verabschiedung des MTCR die Zahl der Raketenschwellenländer erheblich zugenommen. Ist der Geist schon aus der Flasche?

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Beschränkung auf Raketen, während Flugzeuge nicht erfaßt sind. Tatsächlich besitzen die Hauptakteure im Golf langreichweitige Flugzeuge, die Kernwaffen tragen können. Der Irak etwa besitzt die sowjetischen Bomber Tu-16 Badger und Tu-22 Blinder mit einer Reichweite von 3100 km bzw. 2400 km, sowie die sowjetischen Kampfflugzeuge MiG-23BN Flogger, Su-7 und Su-20 Fitter und die französische Mirage F-1C. Israel dagegen verfügt über die Kampfflugzeuge F-4, F-15 und F-16 der USA, Saudi-Arabien ebenfalls.

Es erscheint widersinnig, wenn die hochentwickelten Industriestaaten den Export von Raketentechnik mit Strafen belegen, während mit Flugzeugen das große Geschäft gemacht wird (Rubin 1990). Daß auch Artilleriegeschütze geeignet sein können, um chemische oder atomare Sprengköpfe über große Entfernungen zu verschießen, haben die Vorgänge um die Ermordung des Artillerie-Experten Gerald Bull und das von ihm geplante „Projekt Babylon“ zum Bau einer irakischen Superkanone gezeigt (Bonsignore 1990).

Von dem MTCR-Abkommen sollte nicht mehr erwartet werden als es selbst verspricht: die Ausbreitung einiger Raketentechnologien zu verlangsamen, um Zeit für politische Lösungen zu geben. Zwar konnte dies in einigen Fällen erreicht werden, doch langfristig müssen weitere bzw. andere Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehört die Einigung auf vertrauensbildende Maßnahmen, um die Gefahr eines Raketenkrieges zu verringern. Weiterhin ist es wichtig, möglichst viele Staaten in ein kooperatives und nicht-diskriminierendes Transfer- und Kontrollregime einzubeziehen, das das Interesse der Staaten der Dritten Welt an einer angemessenen technologischen Entwicklung mit Abrüstungsschritten der Großmächte verbindet. Hier könnte im regionalen Rahmen begonnen werden, etwa im Mittleren Osten.

Sollten politische Lösungsversuche scheitern, besteht die große Gefahr, daß militärische Wege beschritten werden. Dies zeigt die aufkommende Diskussion in den USA, bei einem Versagen der Kontrollmaßnahmen ein bestimmtes Maß an Kernwaffen beizubehalten und sich gegenüber der Raketenbedrohung aus der Dritten Welt auf einen waffentechnischen Schutzwall à la SDI zu verlassen. So US-Verteidigungsminister D. Cheney zur Rolle von SDI: „Es bietet die beste Hoffnung, die USA und unsere Freunde und Verbündeten gegen die sich ausbreitende Bedrohung durch ballistische Raketen in der Dritten Welt zu schützen“ (Defense Daily, 19.6.1990; siehe dazu auch den jüngsten Bericht der SDI-Organisation an den US-Kongreß sowie die aktuelle Diskussion in Isaacs 1990). Sollte sich diese Position durchsetzen, könnte sich eine fatale Kopplung zwischen der vertikalen Rüstungsproliferation der Großmächte und der horizontalen Proliferation einiger Dritt-Welt-Staaten herausbilden. Dann würden die alten Feindbilder des Ost-West-Konflikts durch die neuen Feindbilder eines militarisierten Nord-Süd-Konflikts ersetzt. Abrüstung und Rüstungskontrolle in der Dritten Welt sind nur durchzusetzen, wenn die erste und zweite Welt eigene drastische Abrüstungsmaßnahmen in ihren eigenen Regionen und Arsenalen durchsetzen. Die Beendigung des Kalten Krieges gibt ihnen die Möglichkeit dazu.

Übersichtsliteratur:

„Arms Control Reporter“ 1989, 1990 über Raketenproliferation
E. Bonsignore, „Programme Babylon“ and „Operation Bertha“: Fact or Fiction?, „Military Technology“, 6/90, S. 62-65
W.S. Carus, J.S. Bermudez, Iraq's Al-Husayn Missile Programme, „Jane's Soviet Intelligence Review“, May 1990, S. 204-209; June 1990, S. 242-248; July 1990, S. 329
J. Isaacs, Iraq and the golden tongues, „Bulletin of the Atomic Scientists“, October 1990, S. 3
A. Karp, Ballistic Missile Proliferation, SIPRI Yearbook 1990, Oxford University Press, New York 1990, S. 369-391 (siehe auch die vorhergehenden SIPRI-Jahrbücher)
W. Liebert, G. Neuneck, M. Kalinowski, Hintergrundinformationen zur Frage der Nuklearwaffenfähigkeit des Irak, Darmstadt: IANUS, 1. September 1990; s. auch: „Frankfurter Rundschau“, 1. Oktober 1990
M. Navias, Ballistic Missile Proliferation in the Third World, London: Adelphi Papers, Nr. 252, Summer 1990
J. E. Nolan, Albert D. Wheelon, Ballistische Raketen: Verbreitung ohne Grenzen?, Spektrum der Wissenschaft“, Oktober 1990, S. 132-144
R. Rudert, K. Schichl, S. Seeger, Atomraketen als Entwicklungshilfe, Marburg 1985
R. Schmidt, U.S. Export Control Policy and the Missile Technology Control Regime, Santa Monica, CA: RAND, P-7615-RGS, January 1990
R. D. Shuey, u.a., Missile Proliferation Survey of Emerging Missile Forces, Washington, DC: Congressional Research Service, October 3, 1988; Revised February 9, 1989
US Congress, Missile Proliferation: The Need for Controls (Missile Technology Control Regime), Hearing, Committee on Foreign Affairs, House of Representatives, July 12, October 30, 1989, Washington, DC: Government Printing Office, 1990

Götz Neuneck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; Dr. Jürgen Scheffran ist Physiker an der TH-Darmstadt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/3 Die Krise am Golf, Seite