Raketen und die Spaltung Europas:
Ein neues Wettrüsten bahnt sich an!
von Götz Neuneck
Der Streit um die amerikanischen Raketenabwehrpläne beherrscht nach Jahren relativer Ruhe, aber technischer Entwicklung und kontinuierlicher Finanzierung wieder die Weltpresse. Von einem »unvermeidbaren Wettrüsten« ist die Rede, insbesondere seit der russische Präsident Wladimir Putin im Falle einer Realisierung der amerikanischen Raketenabwehr in Ost-Europa nicht nur mit »Vergeltungsschritten« gedroht hat, sondern auch die »Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes« als wahrscheinlicher bezeichnet hat.1
Die US-Administration betrachtet die geplante neue, vorgeschobene Abwehrkomponente für Raketen in Osteuropa (die dritte neben Abfangstellungen in Alaska und Kalifornien) ihres »Ground-based Midcourse Missile Defense Systems« (GMDS, bodengestützte Raketenabwehr für die mittlere Flugphase) als »begrenzte Abwehr«, die insbesondere gegen die ballistischen Raketen der sog. »Schurkenstaaten« wie Nordkorea und Iran, nicht jedoch gegen Russland oder China ausgerichtet sei.2
Russland fühlt sich auch vor dem Hintergrund einer fortschreitenden NATO-Ausdehnung, ungelöster Probleme um den Kosovo und des fortschreitenden Ausbaus der militärtechnischen Überlegenheit der USA (Stichworte sind Weltraumbewaffnung, Global Strike etc.) provoziert. Sogar die Kündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge wie des multilateralen Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) oder des US-russischen Intermediate Nuclear Forces-Vertrags (INF) von 1987 über die vollständige Abschaffung von Mittelstreckenraketen wird von russischer Seite in Betracht gezogen.
Vor neuen »Trennlinien« in Europa als Konsequenz einer Stationierung warnte im März der damalige französische Präsident Chirac, und Außenminister Steinmeier befürchtete eine Spaltung des »alten und neuen Europas«. Gerät Europa ein weiteres Mal zwischen die Mühlsteine der USA und Russlands, die auf eine neue nukleare Konfrontation zusteuern? Was ist der Anlass für diese Kontroverse?
Seit Januar 2007 führen Emissäre der Bush-Administration offiziell Verhandlungen mit den Regierungen in Polen und Tschechien, um in den beiden Ländern die Stationierung einer Abwehrstellung mit zehn sog. »Ground-based Interceptors« (GBI, bodengestützten Raketen mit Abfangflugkörpern) bzw. eines hochauflösenden X-Band Radar (FBX) auszuhandeln.3 Die beiden osteuropäischen Regierungen unterstützen diese Pläne vehement. Ihnen geht es dabei weniger um Schutz gegenüber bisher nicht existierenden Raketen aus dem Iran, sondern um eine starke sicherheitspolitische Ankoppelung an die USA. Die Bevölkerung, besonders in Tschechien, lehnt die Pläne hingegen weitgehend ab. Die US-Pläne haben, wenn sie unkoordiniert umgesetzt werden, mehrere Konsequenzen:
- Sie werden die Weiterverbreitung und den Bau von Raketen in Iran und Russland eher beschleunigen statt verlangsamen.
- Da die jetzigen Pläne nicht ganz Europa abdecken, werden sie die Stationierung weiterer Abwehrsysteme z.B. im NATO-Kontext, nach sich ziehen.
- Im Falle eines Abfangvorganges können die dabei entstehenden Trümmer über Russland oder Europa abstürzen und Schaden anrichten.
- Die begrenzte Einsatzfähigkeit des GMD-Systems wird die Stationierung weiterer Interzeptoren und möglicherweise neuer Abwehrstellungen der USA, z.B. im Kaukasus, nach sich ziehen. Großbritannien, Dänemark und die Ukraine haben ebenfalls bereits Interesse signalisiert.
- Die nukleare Abrüstung wird begraben werden, da nur der Erhalt des russischen offensiven Abschreckungsarsenals eine begrenzte Abwehr »ausgleichen« kann, wenn man die Abschreckungsidee aufrecht halten möchte, die ja im Wesentlichen auf einer einsetzbaren Zweitschlagsfähigkeit beruht.
Raketenabwehr »sobald technisch möglich«
Eine Kooperation mit Russland hingegen könnte diese Entwicklung in vernünftige Bahnen lenken. Des Weiteren würde die Lösung der Nuklearkrise mit Iran die Abwehr in Osteuropa überflüssig machen. Die US-Pläne wurden im Wesentlichen ohne vorherige umfassende Konsultationen mit den Verbündeten und Russland verfolgt. Nachdem sich Widerstand in Europa abzeichnete, wurde eine Charmeoffensive hochrangiger Beamter aus Washington gestartet. Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates schrieben in einer Kolumne: »Gerede über ein neues ›Wettrüsten‹ mit Russland ist anachronistisch und wirklichkeitsfremd«.4 Den sichtbaren Gegenbeweis lieferte Russland: Im Mai testete es eine neue mobile Interkontinentalrakete RS-24, die für Mehrfachsprengköpfe zur Überwindung der Raketenabwehr geeignet ist. Auch Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander-N (500 km Reichweite) wurden getestet. Weitere Systeme sind in der Entwicklung.5 Kann ein neues Wettrüsten, in das Europa einbezogen wird, dennoch vermieden werden?
Vor fünf Jahren, am 13. Juni 2002, vollzogen die USA die Kündigung des Raketenabwehrvertrages, um eine begrenzte, aber globale Raketenabwehr aufzubauen und zu stationieren, »sobald dies technologisch möglich ist«.6 Seit 2002 wurden von den USA für Entwicklung und Bau der Raketenabwehr ca. 41 Milliarden US-Dollar aufgewendet, dennoch war in dem Zeitraum nur ein Test am 1. September 2006 erfolgreich.7 Insgesamt hatten von zehn Abfangversuchen seit dem Jahr 2000 lediglich fünf Erfolg. Von einer funktionierenden Abwehr kann deshalb nicht die Rede sein, zumal die Tests nicht unter operativen Bedingungen stattfinden, sondern sorgfältig vorgeplant sind und sich technischer Tricks bedienen, um noch nicht existente Komponenten des Gesamtsystems zu simulieren. Die Achilles-Ferse des GMD-Systems, die Überwindung durch einfach realisierbare Gegenmaßnahmen (Ballone, Attrappen etc., die im Weltraum gemeinsam mit den Sprengkörpern aus der Rakete freigesetzt werden können), ist nach wie vor vorhanden.
Der US-Kongress kürzte die Ausgaben der Missile Defence Agency (MDA, Behörde für Raketenabwehr im US-Verteidigungsministerium) auch für die europäischen Komponenten mit dem Hinweis, die Systeme hätten noch nicht ihre Funktionsfähigkeit gezeigt. Phil Coyle, ehemaliger hoher Pentagon Beamter, und während seiner Amtszeit verantwortlich für die Entwicklung und das Testen von US-Waffensysteme, stellte fest: »Die MDA war bisher noch nicht in der Lage, die effektive Fähigkeit eine idealisierte Bedrohung unter realistischen operativen Bedingungen nachzuweisen«. Diese sehr begrenzte Fähigkeit ist auch den russischen Planern bekannt. Wieso reagiert Putin dennoch so heftig mit dem Hinweis auf eine veränderte strategische Stabilität im Falle der Stationierung von Raketenabwehrkomponenten in Europa?
Raketenrüstung gegen Raketenabwehr
Die russischen Planer gehen zunächst stets vom »best case« aus und nehmen an, die USA werden die genannten technischen Schwierigkeiten überwinden. Für sie ist die GMD-Stellung in Europa nur die Spitze eines Eisbergs. Sie sind überzeugt, dass sukzessive weitere Stellungen und Interzeptoren folgen werden. Natürlich können diese geplanten zehn Anti-Raketen-Raketen zunächst nichts gegen die ca. 493 landgestützte Interkontinentalraketen Russlands ausrichten. Dieses Argument ist zwar zutreffend, lässt aber außer Acht, dass die Zahl der russischen Langstreckenraketen altersbedingt in den nächsten Jahren sinken und die Überlegenheit der US-Systeme weiter steigen wird.
Russische Ängste vor einem Erstschlag werden geschürt, zumal das Radar in Tschechien wichtige Startinformationen von aufsteigenden Raketen aus Russland in Richtung USA an diverse andere Raketenabwehrstellungen in Nordamerika8 melden (oder auch Testflüge von russischen Raketen detailliert beobachten) kann. Insbesondere das Aussetzen der Sprengköpfe und Attrappen kann von Tschechien aus beobachtet werden. Die Einführung umfassender Raketenabwehr und damit die Möglichkeit der USA, einen russischen Zweitschlag abzuwehren, würde die strategische Balance langfristig ändern. Auch die überall kolportierte Aussage des MDA-Direktors General Obering, dass in Polen stationierte Interzeptoren russische Raketen nicht erreichen könnten, trifft nicht zu. Simulationen einer Arbeitsgruppe am Massachusetts Institute for Technology (MIT) widerlegen diese Aussage für die drei westlichen Raketenfelder und die dort stationierten Interkontinentalraketen Russlands – die erheblich näher liegen als der Iran. Ein Ausbau russischer Raketenabwehrsysteme ist in diesem Fall fast unvermeidlich.
Auch die US-Abwehrstellungen in Osteuropa mit russischen Raketen zu bedrohen, ist militärtechnisch »logisch«, trägt aber ebenfalls nicht zur Lösung der Krise bei, denn auf Drohungen reagieren die Osteuropäer mit dem Hinweis, dass ihre Ängste gegenüber Russland offensichtlich doch berechtigt sind. Dass dies als Konsequenz des durch die Raketenabwehr veränderten strategischen Gleichgewichts betrachtet werden muss, wird dann schnell vergessen sein.
Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 schlug Präsident Putin zur Überraschung des Westens vor, statt des FBX-Radars in der tschechischen Republik ein russisches Frühwarnradar in Gabala/Aserbaidschan zu nutzen bzw. den Irak oder die Türkei in die Raketenabwehr einzubeziehen. Der vorgeschlagene Standort in Aserbaidschan hat den Vorteil, dass ein dort positioniertes Radar einen guten Blick auf den Iran bietet, aufgrund der Kaukasus-Berge und der Erdrundung jedoch nicht signifikant in das russische Territorium hineinschauen und russische Raketen verfolgen kann. Die Tatsache, dass Russland das Radar betreiben würde, missfällt dem Pentagon jedoch. Immerhin hat Präsident Bush den Vorschlag als interessant bezeichnet, und es wurde eine amerikanisch-russische Arbeitsgruppe eingesetzt, die Einzelheiten diskutieren soll. Hier wird sich zeigen, ob die USA ihre oft wiederholtes Angebot, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, auch ernst meinen oder ob der Aufbau der Raketenabwehr letztlich doch auch gegen Russland gerichtet ist. Im Juli werden sich die beiden Präsidenten am Sommersitz der Familie Bush in Kennebunkport treffen. Dann wird sich zeigen, ob eine Einigung möglich ist.
Ginge es den USA und der NATO tatsächlich nur um eine potenzielle iranische Bedrohung, wäre eine Zusammenarbeit mit Russland sowie ein ernsthaftes Bemühen um eine Lösung des Nuklearstreits mit dem Iran die naheliegende Lösung. Gelingt eine Einigung nicht, so ist ein neues Wettrüsten fast unvermeidlich. Leidtragende wären in erster Linie die Europäer und auch die europäischen Rüstungskontrollerfolge wie z.B. der KSE- oder der INF-Vertrag, jahrelang wesentliche Stabilitätsanker in Europa, könnten zusammenbrechen. Die wieder aufflammende Kontroverse um die Raketenabwehr zeigt, dass die beiden großen Nuklearmächte immer noch nicht aus der Falle nuklearer Abschreckung und Überrüstung entkommen sind, die sie selbst im Kalten Krieg aufgebaut haben.
Anmerkungen
1) Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2007, 07:16 [http;77www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/922/116806/].
2) White House: National Policy on Ballistic Missile Defense Fact Sheet, 20. Mai 2003 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/05/20030520-15.html].
3) S. Hildreth/C. Ek: Long-Range Ballistic Missile Defense in Europe, 22. Juni 2007, Congressional Research Service Report for Congress, Washington D.C. 22. Juni 2007.
4) Süddeutsche Zeitung 16. April 2006, S.1.
5) Florian Rötzer: Neue russische Raketen gegen US-Raketenabwehrsystem, Telepolis 30.05.2007 [http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/25/25391/1.html&words=Putin&T=Putin].
6) National Missile Defense Act of 1999, Public Law 106-38 [http://Thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c106:S.269:].
7) Wade Boese: Missile Defense Five Years after the IBM-Treaty, Arms Control Today, Juni 2007.
8) Zur Zeit sind ca. 20 Interzeptoren in Alaska und Kalifornien stationiert. Diese Zahl soll ausgebaut werden. Das taktische System THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) zum Abschuss von Sprengkörpern kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre kann sogar über 1.000 Interzeptoren verfügen.
Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien