W&F 2001/1

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

von SDI zu NMD

von Jürgen Scheffran

Trotz der Aufschiebung der NMD-Entscheidung durch den scheidenden US-Präsidenten Bill Clinton gilt es als wahrscheinlich, dass sein Nachfolger mit der Stationierung beginnen will. Zwar soll sich ein begrenztes Abwehrsystem lediglich gegen kleinere Raketenmächte richten, doch stellen sich Russland und China bereits auf eine NMD-Welt ein. Für sie geht es vor allem darum, ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber einer US-Dominanz zu sichern. Die sich abzeichnende Rüstungsdynamik ist jedoch keine Notwendigkeit. Bislang wurden die Möglichkeiten zur internationalen Kontrolle und Abrüstung von Atomwaffen und ballistischen Raketen, von Raketenabwehrsystemen und Weltraumwaffen kaum ausgeschöpft. Auch der Versuch, die Einführung von Raketenabwehr kooperativ zu stabilisieren, würde erhebliche Rüstungskontrollanstrengungen erfordern, ohne aber alle Risiken ausschließen zu können.
Das Verhältnis zwischen Raketenabwehr, Stabilität und Rüstungskontrolle spielte bereits in den achtziger Jahren eine Rolle. Im Frühjahr 1985 hatte ich Gelegenheit, an einem Symposium der Hanns-Seidel-Stiftung teilzunehmen, das der Debatte über die Strategic Defense Initiative (SDI) der USA gewidmet war. Per Satellit war Paul Nitze als hochrangiger Vertreter der Reagan-Administration zugeschaltet. Ausgehend von der Forderung Ronald Reagans vom 23. März 1983, Atomwaffen durch SDI „impotent und obsolet“ zu machen, fragte ich damals Nitze, ob der umgekehrte Weg nicht vernünftiger sei, also SDI durch die Abrüstung von Raketen und Atomwaffen obsolet zu machen. Nitze widersprach nicht grundsätzlich, hielt die Idee aber für politisch unrealistisch.

Die verpasste Chance von Reykjavik

In der vom Kalten Krieg geprägten Zeit war seine Skepsis berechtigt, doch schon bald veränderten sich die politischen Umstände dramatisch. Im Herbst 1985 begannen die Genfer Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über eine Verhinderung des Wettrüstens auf der Erde und im Weltraum, und zu Beginn des Jahres 1986 legte Michail Gorbatschow seinen Plan zur Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor. Der vorläufige Höhepunkt einer neuen Entspannung war im Oktober 1986 der Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik, bei dem die Führer beider Supermächte das für damalige Verhältnisse Unglaubliche diskutierten: Innerhalb von fünf Jahren sollten alle Atomwaffen halbiert, in zehn Jahren alle ballistischen Raketenwaffen abgeschafft werden. Während Reagan SDI als Versicherungspolice behalten wollte, befürchtete Gorbatschow, durch SDI könne der nukleare Abrüstungsprozess destabilisiert werden. Eine Einigung scheiterte an der Frage, in welchem Umfang SDI-Forschung und Entwicklung durch den Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag) von 1972 beschränkt sei.

Die Sorge vor einer rüstungstechnischen Dominanz der USA wurde auch von sowjetischen Vertretern auf dem internationalen Wissenschaftler-Kongress »Ways Out of the Arms Race« im November 1986 in Hamburg geäußert, doch sie wich zunehmend einer nüchternen Betrachtung der technischen Probleme von SDI. Unter dem Beifall der etwa 4000 Konferenzteilnehmer fragte Valentin Falin, wozu SDI noch nötig sei, „wenn in zehn Jahren keine atomare Waffe mehr existieren wird.“1

Die sich abzeichnende Kompromissbereitschaft Gorbatschows bei SDI schlug sich ein Jahr später im INF-Vertrag von 1987 nieder, der eine ganze Kategorie nuklearer Waffen in Europa verschrottete, sowie in der Reduzierung der strategischen Kernwaffen im START I-Vertrag. Auch über einen »großen Kompromiss« bei der Festlegung zulässiger Grenzen im ABM-Vertrag wurde gesprochen sowie über stabile Mischungsverhältnisse offensiver und defensiver Waffen.2 Mit dem Zerfall des Ostblocks fanden solche Überlegungen jedoch ein jähes Ende. Es schien, als sei SDI durch das Ende des Kalten Krieges tatsächlich »obsolet« geworden. Auch Paul Nitze unterstützte 1992 den Vorschlag der Federation of American Scientists (FAS), in Anknüpfung an Reykjavik alle ballistischen Raketenwaffen abzuschaffen (Zero Ballistic Missiles, ZBM). Es entwickelte sich eine weltweite Bewegung für die Abschaffung aller Kernwaffen.

Rüstungskontrolle – ein Relikt des Kalten Krieges?

Die Anfangseuphorie über den beendeten Ost-West-Konflikt und die erhoffte Friedensdividende war jedoch bald verflogen. Die Sowjetunion hatte sich zwar aufgelöst, doch die USA nutzten das, um nun noch ungehinderter als zuvor Machtpolitik zu betreiben; Raketenabwehr erhielt eine neue Funktionsbestimmung. Bereits im April 1990 erschien in der renommierten Zeitschrift Nature ein Artikel von dem »Vater der Wasserstoffbombe« und Vordenker von SDI, Edward Teller, und dem Los Alamos-Wissenschaftler Gregory Canavan.3 Darin zeichnen sie das Bild einer Bedrohung aus dem Süden, gegen die nur Raketenabwehr helfen könne.

Den Durchbruch für die Re-Instrumentalisierung der Raketenabwehr brachte der zweite Golfkrieg 1991, der trotz des technischen Versagens der Patriot-Abwehr von George Bush Senior genutzt wurde, um einen globalen Schutz gegen begrenzte Raketenangriffe zu fordern.4 Bushs Nachfolger Bill Clinton benannte 1983 zwar das SDI-Programm um und stellte exotische Weltraumwaffen zurück, ließ aber das Budget intakt und integrierte Raketenabwehr in die Counterproliferationsstrategie der USA. Daran hat sich mit NMD nicht viel geändert.

Über alle weltgeschichtlichen Veränderungen hinweg hat die Raketenabwehr in den USA eine erstaunliche Eigendynamik gezeigt. Genau diese zu begrenzen ist das Ziel des ABM-Vertrages, der erstmals in der Geschichte das Wechselspiel zwischen Offensive und Defensive beenden soll. Deshalb ist er den NMD-Anhängern ein Dorn im Auge. In einem bemerkenswerten Umkehrschluss machen sie den ABM-Vertrag, und mit ihm das Konzept der Rüstungskontrolle, zu einem Relikt des Kalten Krieges, nicht jedoch die Atomwaffen, Raketen und Raketenabwehrsysteme, die dadurch kontrolliert werden sollen. Die USA, die keines ihrer Gewaltinstrumente beschränkt sehen wollen, widerlegen nicht die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle, zeigen aber ihre Schwäche.

Sicherlich lässt sich das heutige USA-Russland-Verhältnis nicht mit dem Ost-West-Konflikt vergleichen, allein schon weil Russland sich das derzeitige Kernwaffenarsenal auf Dauer nicht leisten kann und für die USA in einem Wettrüsten kein gleichgewichtiger Gegner ist. Dennoch sind die angekündigten russischen Gegenmaßnahmen gegen NMD ebenso ernst zu nehmen wie Versuche, durch diplomatische Initiativen, durch Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folgen abzuschwächen.

Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Auf beiden Seiten gibt es ein Interesse an Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle, selbst wenn NMD weitergeht. Von Interesse sind hier die Vorschläge Putins vom 13. November 2000. Er bietet den USA an, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe unter die Grenze von 1500 zu senken, also in einen Bereich, in dem eine begrenzte Abwehrfähigkeit der USA bedeutsam werden könnte. Der Kommandeur der russischen nuklearen Raketenstreitkräfte, General Wladimir Jakowlew, schlug als Gegengewicht zur US-amerikanischen Raketenabwehr vor, „einen konstanten allgemeinen Index für strategische Rüstung einzuführen, in den neben den nuklearen Offensivwaffen auch die Anti-Raketen-Abwehrsysteme aufgenommen werden''.5 Ein Land, das die Abwehrkomponente verstärken wolle, müsse somit zugleich die Bedrohung gegenüber anderen Staaten verringern.

Mit solchen Vorschlägen, befürchtete Instabilitäten durch NMD kooperativ abzumildern, wird der in Reykjavik angesprochene Zusammenhang zwischen Raketenabwehr, Rüstungskontrolle und Stabilität wieder aktuell. Damals wie heute stellt sich der Moskauer Führung die Frage: Soll Russland an seiner grundsätzlichen Ablehnung von NMD festhalten und dabei riskieren, dass die USA alleine agieren, oder soll Russland sich auf einen Deal mit den USA beim ABM-Vertrag einlassen, um als Akteur im Raketenabwehrspiel noch eine Rolle zu spielen?

Zwar richtet sich NMD offiziell gegen kleiner Raketenmächte aber das Verhältnis USA-Russland wäre unmittelbar betroffen, selbst dann, wenn die Führer beider Staaten sich auf ein kooperatives Management verständigen. Bei einem gleichzeitigen Prozess »Offensive runter – Defensive rauf« wird irgendwann der Zeitpunkt der Parität erreicht, an dem die Abwehr rechnerisch die Offensive unwirksam macht. Weder kann dann ein Angreifer sicher sein, strategische Ziele zu erreichen, noch die angegriffene Seite ihrer Zweitschlagkapazität. Eine solche Unsicherheit kann die Entscheidungsträger zur Vorsicht veranlassen, im Falle gegenseitigen Misstrauens jedoch das Gegenteil bewirken.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung von definierbaren Offensivkapazitäten und Abwehrschwellen nicht haltbar ist. Zum einen gibt es große Unsicherheiten über die Rüstungspotenziale, zum anderen macht die durch Raketenabwehr vervielfachte Komplexität der Sicherheitspolitik eine Prognose nahezu unmöglich, zumal wenn Weltraumkomponenten ins Spiel kommen. Wenn schon eine durchdringende Rakete genügt, um New York in Schutt und Asche zu legen, nützt es den USA wenig, eine statistische Abwehrfähigkeit gegen 50 Raketen zu besitzen.

Der Ost-West-Konflikt ist vorbei, aber damit nicht notwendig die Furcht vor Atomwaffen oder die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern gegenüber Word-Case-Szenarien. Wie würden die USA reagieren, wenn sie in einer Krise befürchten müssten, dass ihr komplexes Abwehrsystem durch Sabotage, Cyber War oder direkte Angriffe außer Kraft gesetzt wird? Wer will garantieren, dass Ängste vor einem Erstschlag, der die Zweitschlagfähigkeit unter die Abwehrschwelle schrumpfen ließe, keine Rolle mehr spielen? Ist es wirklich auszuschließen, dass in Moskau Kräfte an die Macht kommen, die glauben die russische Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA sichern zu müssen? Wie würde dann die Führungselite der USA reagieren, die schon heute zu überzogenen Bedrohungswahrnehmungen gegenüber vermuteten kleinen Raketenmächten neigt? Warum sollen sich die Führer anderer Staaten rationaler verhalten, obwohl bekannt ist, dass die USA sich das Recht zur militärischen Intervention und Counterproliferation herausnehmen?

Ob eine stabile Einführung der Raketenabwehr kooperativ abgesichert werden kann, hängt von der Fähigkeit der Kernwaffenmächte ab, die großen Unsicherheiten durch gegenseitige Überwachung und Informationsaustausch zu minimieren, und ihrer Bereitschaft, auf Worst-Case-Denken zu verzichten und den potenziellen Gegenspielern zu vertrauen. Diese »kooperative Rüstungssteuerung« bedeutet eher mehr Rüstungskontrolle als bisher und die Verständigung auf eine Zielperspektive. Wenn das Ziel ist, die Raketenbedrohung zu verringern oder gar die nukleare Abschreckung zu beenden, stellt sich die Frage, ob Raketenabwehr angesichts der Kosten und Risiken ein dazu geeigneter Weg ist oder nicht eher in die Sackgasse führt. Offenkundig gibt es die Alternative, die Bedrohung kooperativ und in überprüfbarer Weise herunterzufahren. Ein solcher Abrüstungsprozess müsste ebenfalls durch Rüstungskontrolle abgesichert werden, wäre aber einfacher zu realisieren als bei gleichzeitiger Einführung von Raketenabwehr.

Im Unterschied zur traditionellen Rüstungskontrolle, die vorwiegend auf die Stabilisierung, Risikominderung und Kostensenkung in der Rüstungsdynamik zielt, geht es beim Konzept der präventiven Rüstungskontrolle darum, rechtzeitig auf destabilisierende Rüstungsentwicklungen hinzuweisen und bereits im Frühstadium der rüstungstechnischen Forschung und Entwicklung geeignete Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten aufzuzeigen.6 Folgende Bereiche der Rüstungskontrolle sind von NMD unmittelbar betroffen: die Kontrolle von Kernwaffen, ballistischen Raketen, Raketenabwehrsystemen und Weltraumrüstung. Zu allen vier Bereichen sollen kurz einige Optionen angesprochen werden, ohne hier ins Detail gehen zu können.

Nukleare Abrüstung

Die Kontrolle nuklearer Rüstung hatte nach dem zweiten Weltkrieg einen hohen Stellenwert in den internationalen Beziehungen, auch wenn konkrete Fortschritte lange auf sich warten ließen (Nichtverbreitungsvertrag, Kernwaffenfreie Zonen, SALT, INF, START, Teststopp-Vertrag). Während lange versucht wurde, die Gefahren eines Wettrüstens und die Risiken eines Atomkrieges zu minimieren, steht seit Mitte der neunziger Jahre die Beseitigung der Kernwaffen auf der internationalen Tagesordnung von Staaten (NVV-Konferenzen, Canberra-Komission, Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, New Agenda Coalition, UNO-Resolutionen) und Nichtregierungsorganisationen (Abolition 2000, Studien zur kernwaffenfreien Welt, Nuklearwaffenkonvention). Ein Streitpunkt betrifft das geeignete Verhältnis zwischen kurzfristig möglichen Schritten und dem längerfristigen Konzept einer kernwaffenfreien Welt. Mit der Vorlage eines Modellentwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention wurde versucht, die Konkretisierung der Zielperspektive mit einzelnen Schritten zu verknüpfen.7 Unter anderem aufgrund der Kernwaffentests in Südasien und der Blockade durch den US-Kongress ist der Abrüstungsprozess ins Stocken geraten.

Ein kleiner Lichtblick auf der deklaratorischen Ebene ist die im November 2000 mit großer Mehrheit in der UNO-Generalversammlung verabschiedete Resolution der »New Agenda Coalition« für eine kernwaffenfreie Welt, die erstmals die Zustimmung aller NATO-Staaten erhielt, einschließlich USA, bei Enthaltung Frankreichs und Russlands. Auch die russische Ratifizierung von START II und Teststoppvertrag schafft günstigere Bedingungen, ist jedoch an die Einhaltung des ABM-Vertrages gekoppelt. Ein nächster Schritt wäre der in Genf verhandelte Produktionsstopp für spaltbare Materialien. Darüber hinaus muss auch über die Beseitigung aller Kernwaffen verhandelt werden, ein Ziel, das bei einer NMD-Stationierung noch schwieriger zu erreichen wäre. Das Stabilitätsproblem stellt sich auch bei der Abrüstung auf sehr niedrige Kernwaffenzahlen, wäre aber weniger brisant als mit Raketenabwehr und höheren Kernwaffenzahlen.

Internationale Kontrolle ballistischer Raketen

Bislang verfügen lediglich die fünf Kernwaffenmächte über Interkontinentalraketen, während andere Staaten nur Raketen kurzer und mittlerer Reichweite haben. Die Bedrohungseinschätzungen der US-Geheimdienste, die auch NMD zu Grunde liegen, sind bislang nicht eingetreten. Mit diplomatischen Initiativen, wie jüngst im Falle Nordkoreas, lassen sich möglicherweise selbst die als »irrational handelnd« angesehenen Mächte von einer Weiterentwicklung ihrer Raketen abbringen.

Bisher gibt es kein multilaterales Abkommen zur Begrenzung oder Abrüstung ballistischer Raketen. Für Raketen mittlerer und langer Reichweite wurden Verträge zwischen den USA und der UdSSR bzw. Russland unterzeichnet. Das Missile Technology Control Regime (MTCR) konnte die Verbreitung von Raketentechnik durch Exportkontrollen der Lieferländer zwar verlangsamen, aber nicht verhindern. Solange es keine internationale Norm gegen ballistische Raketen gibt, kann kein Staat einem anderen die Möglichkeit zu einer eigenständigen Raketenentwicklung verwehren.8 Ein Ausgangspunkt ist der schon erwähnte ZBM-Vorschlag der FAS, die 1992 nicht nur einen vollständigen Vertragsentwurf zur Beseitigung ballistischer Raketenwaffen vorlegte, sondern zugleich einen stufenweisen Prozess zum Ziel anvisierte.9 Das ZBM-Konzept benennt unterschiedliche Aufgabenteilungen zwischen Staaten, je nach Stand ihrer Raketenentwicklung, und schlägt die Einrichtung raketenfreier Zonen vor. Von wesentlicher Bedeutung wäre es, die Erprobung ballistischer Raketen zu beschränken oder ganz einzustellen (Raketenteststopp)10 und keine weiteren Raketen aufzustellen, um die Raketenentwicklung auf dem derzeitigen Stand einzufrieren (Freeze).

Ein Raketentest-Moratorium wäre am besten überprüfbar, denn ein Raketenstart ist ein weit sichtbares Ereignis. Bei umfassender Raketenabrüstung wäre der Aufbau eines internationalen Überwachungssystems erforderlich, das satelliten- und luftgestützte Aufklärung ebenso umfasst wie Radaranlagen und Sensoren am Boden, die in den Weltraum gerichtet sind.11 Um die Verwendung von Weltraumraketen als ballistische Fernwaffen zu verhindern, muss auch die Überprüfung vor Ort an wichtigen Weltraumanlagen erfolgen, unter Einsatz zerstörungsfreier Messverfahren. Der Austausch von Informationen, etwa über Raketenstarts und Startgelände, ist eine weitere Quelle, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Vorschläge zur verbesserten Raketenfrühwarnung und -überwachung wurden von der russischen Regierung mit ihrem globalen Raketenkontrollsystem vorgelegt und auch bei einem Rundtischgespräch in Ottawa im März 2000 diskutiert.12

Kontrolle der Raketenabwehr

Der ABM-Vertrag untersagt beiden Staaten den Aufbau einer landesweiten Raketenabwehr (Art. I), einschließlich Entwicklung, Erprobung und Stationierung (Art. V), bis auf 100 Abschussvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei Versuchsgebiete. Weitere Paragraphen untersagen, Nicht-ABM-Systeme mit einer »ABM-Fähigkeit« auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien in andere Staaten (Art. IX). Nach der gemeinsamen Interpretation D sollen spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein.

Der Vertrag ist doppelt unter Druck. Auf der einen Seite versucht die US-Führung seit Jahren, diesen Vertrag aufzuweichen oder gar abzuschaffen. Zum anderen untergraben neue rüstungstechnische Entwicklungen die Wirksamkeit des Vertrages, insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen, taktische Raketenabwehrsysteme (TMD: Tactical Missile Defense), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und »exotische« Technologien wie Laserwaffen. Daher bedarf der ABM-Vertrag der Anpassung an veränderte Gegebenheiten, nicht im Sinne einer weiten Interpretation, die die Grenzen des Erlaubten überdehnt, sondern zur Konkretisierung und Stärkung der Vertragsbestimmungen.

Um definitorische Probleme zu minimieren hatte FAS-Wissenschaftler John Pike schon auf dem Hamburger Kongress 1986 quantitative und überprüfbare Grenzen für die verschiedenen ABM-Komponenten vorgeschlagen. Diese betreffen etwa die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Abfangversuchen; die Zahl und den Ort für große phasengesteuerte Radaranlagen; Grenzen für die Helligkeit von Lasern oder die Öffnungsweite von Sensoren oder Laserspiegeln.13 Physikalische Betrachtungen über mögliche Grenzziehungen für Laserwaffen und taktische Raketenabwehr finden sich in zwei Studien von Jürgen Altmann.14 Mit dem Demarcation Agreement gab Russland dem Drängen der USA teilweise nach, ihr TMD-Programm zu legitimieren, was dem US-Senat aber noch nicht weit genug ging. General Wladimir Jakowlew wollte der FAZ vom 14.11.2000 zufolge ein weiteres Einlenken in der Frage des ABM-Vertrages nicht ausschließen, was aber umgehend dementiert wurde.

Rüstungskontrolle im Weltraum

Ein wichtiger Beitrag nicht nur zur Stärkung des ABM-Vertrages, sondern auch zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum wäre das Verbot von Weltraumwaffen. Ballistische Raketen langer Reichweite fliegen durch den Weltraum und Raketenabwehrsysteme nutzen zu ihrer Bekämpfung den Weltraum. Auch wenn in den Konzepten eines begrenzten Raketenabwehrsystems zunächst nur der Einsatz einzelner Komponenten (insbesondere Sensoren) im Weltraum geplant ist, ergeben sich völkerrechtliche Fragen. Zum Ersten steht die Erprobung und Stationierung solcher Komponenten im Weltraum in Konflikt mit Art. V des ABM-Vertrages. Zum Zweiten könnten weltraumgestützte Komponenten zur Zielscheibe von ASAT-Waffen werden. Bei einem weiteren Ausbau von NMD ist auch die Stationierung von Waffen in einer Umlaufbahn nicht mehr ausgeschlossen. Letztlich kann jede Waffe, die eine ballistische Rakete oberhalb der Atmosphäre treffen kann, auch Satelliten zerstören. Besondere Aktualität bekommt dies durch die Pläne des US Space Command, die Dominanz der USA im All auch militärisch zu festigen und missliebige Weltraumobjekte anderer Staaten bei Bedarf abschießen zu können.

Dies widerspricht den Interessen der Völkergemeinschaft. Grundpfeiler des Weltraumrechts ist der Weltraumvertrag von 1967, einschließlich der Zusatzabkommen. Darin verpflichten sich die Staaten zur friedlichen Nutzung des Weltraums, die im Interesse aller Staaten erfolgen soll. Militärische Einrichtungen auf Himmelskörpern sind ebenso verboten wie Massenvernichtungswaffen in der Erdumlaufbahn, andere Waffen jedoch nicht. Der Wunsch zur friedlichen Nutzung kommt auch in vielen Resolutionen der Vereinten Nationen zum Ausdruck, so in der 1999 ohne Gegenstimmen (bei Enthaltungen der USA und Israels) angenommenen UNO-Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum«. Diese betont, „dass zur Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum weitere Maßnahmen mit geeigneten wirksamen Verifikationsbestimmungen notwendig sind.“

Trotz überwältigender Zustimmung zu diesen Zielen hapert es mit der Umsetzung, denn weder die Genfer Abrüstungskonferenz noch der UN-Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums wollen oder können sich angesichts des Widerstands der USA dieser Frage annehmen. Ältere Initiativen gegen eine Bewaffnung des Weltraums sind die 1983 und 1984 vorgelegten Vorschläge Frankreichs und der Sowjetunion zum Verbot von ASAT bzw. zur Begrenzung von Weltraumwaffen. Die Union of Concerned Scientists erarbeitete Anfang 1983 einen Vertragsentwurf zum Verbot von Anti-Satellitenwaffen, der von deutschen Wissenschaftlern zu einem »Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums« erweitert und im Juli 1984 anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses gegen die Weltraumrüstung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.15 Der Entwurf war im Herbst 1984 auf Initiative der SPD Gegenstand einer Bundestagsdebatte und fand die Unterstützung der Grünen, stieß aber auf Ablehnung der damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP.

Verboten werden sollen Waffen gegen Weltraumobjekte (ASAT) und weltraumgestützte Waffen gegen beliebige Ziele, einschließlich Entwicklung, Test und Stationierung. Mit dem Testverbot könnte die Herstellung fortgeschrittener Weltraumwaffen noch verhindert werden. Stabilisierende Funktionen von Satelliten sollen durch den Entwurf nicht eingeschränkt werden; vorgeschlagen wird lediglich, die Benutzung weltraumgestützter Systeme zur direkten Lenkung von Nuklearwaffen und die Errichtung bemannter militärischer Kommandozentralen zu verbieten. Auch wenn der Göttinger Vertragsentwurf ein Kind seiner Zeit ist, bleibt das Anliegen relevant: die Risiken einer Rüstungsdynamik im Weltraum in überprüfbarer Weise zu verhindern.16

Anmerkungen

1) V. Falin: Die sowjetische Sicht der Ereignisse des Reykjavik-Gipfels, in: W. Kerby, R. Rilling (Hrsg.): Wege aus dem Wettrüsten, Marburg, 1987, S. 38.

2) J. Scheffran: Strategic Defense, Disarmament and Stability, Doktorarbeit, Marburg, IAFA, 1989. Darin finden sich Modellrechnungen und eine Literaturübersicht.

3) G.H. Canavan, E. Teller: Strategic defence for the 1990s, Nature, Vol. 344, 19 April 1990, pp. 699-704.

4) Siehe J. Scheffran, J. Altmann, W. Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Dokumentation der Frankfurter Rundschau, 9.4.1992; eine längere Version mit G. Neuneck, B. W. Kubbig und K. Fuchs findet sich in: Von SDI zu GPALS, Dossier Nr. 10, Wissenschaft und Frieden, 2/1992.

5) Widersprüchliche Signale zum ABM-Vertrag, FAZ, 14.11.00.

6) Vgl. J. Altmann, W. Liebert, G. Neuneck, J. Scheffran: Preventive Arms Control as a Prerequisite for Conversion of Military R&D, in: J. Reppy, V. Avduyevsky, J. Rotblat (eds.): Conversion of Military R&D, Macmillan Press, 1999, S. 255-271.

7) M. B. Kalinowski, W. Liebert, J. Scheffran: Ist die Zeit reif für die Nuklearwaffenkonvention?, Sicherheit und Frieden (S+F) 2/98, S. 108-114; IALANA/INESAP/IPPNW: Security and Survival. The Case for a Nuclear Weapons Convention, Cambridge, MA, 1999 (auf deutsch: Berlin 2000).

8) J. Scheffran, G. Neuneck: Schritte zur Abschaffung ballistischer Raketen, in: Wissenschaft und Frieden 13, 1/95, S. 30, 49-51; J. Scheffran: Raketenkontrolle: Verteidigen ist gut – Kontrolle ist besser, Spektrum der Wissenschaft, Sept.2000, S. 94-99.

9) Revisiting Zero Ballistic Missiles – Reagan's Forgotten Dream, in: F.A.S. Public Interest Report, May/June 1992; A. Frye: Zero Ballistic Missiles, Foreign Policy, No. 88, Fall 1992, S. 12-17.

10) Siehe U. Schelb: Raketenzielgenauigkeit und Raketenteststopp, Marburg, 1988; L. Lumpe: A Flight Test Ban as a Tool for Curbing Ballistic Missile Proliferation, INESAP Information Bulletin, No.4, January 1995, pp. 15-18.

11) J. Scheffran: Ein internationales Überprüfungssystem für die Nicht-Verbreitung und Abrüstung ballistischer Raketen, in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, DPG/FONAS, 1996, S. 260-288.

12) Ballistic Missiles Foreign Experts Roundtable Report, March 30-31, 2000, Canadian Centre for Foreign Policy Development, April 7, 2000.

13) J. Pike: Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen, Wissenschaft und Frieden, 88/1.

14) J. Altmann: Laserwaffen, Marburg, IAFA-Schriftenreihe Nr. 2, 1986; J. Altmann: SDI for Europe?, Frankfurt, HSFK Research Report 3/1998.

15) Siehe H. Fischer, R. Labusch, E. Maus, J. Scheffran: Entwurf eines Vertrages zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums, in: R. Labusch, E. Maus, W. Send (Hrsg.): Weltraum ohne Waffen, München, Bertelsmann, 1984, S. 175-187. Auf englisch: Treaty on the Limitation of the Military Use of Outer Space, in: J. Holdren, J. Rotblat (eds.): Strategic Defences and the Future of the Arms Race, New York, St. Martin's Press, 1987. Ein neu kommentierter Diskussionsentwurf wurde von mir anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses zur Raketenabwehr am 4.11.2000 vorgelegt.

16) Optionen finden sich in: J. Scheffran: Rüstungskontrolle bei Antisatellitenwaffen – Risiken und Verifikationsmöglichkeiten, Frankfurt, HSFK-Report, Nr. 6, Okt. 1986; J. Scheffran: Die Überprüfbarkeit eines Abkommens zur Begrenzung von Anti-Satelliten-Waffen, in: B. Kubbig (Hrsg.): Die militärische Eroberung des Weltraums, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 418-447.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt und Redakteur von W&F

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/1 Von SDI zu NMD, Seite