W&F 1983/1

Rationalität oder Irrationalität der Friedensbewegung

von Prof. Dr. Günter Hager und Prof. Dr. Ernst Tugendhat

Prof. Dr. Günter Hager

Der Marburger Zivilrechtler G. Hager äußerte auf einer Podiumsdiskussion in Marburg, daß ein Stationierungsgesetz seines Erachtens dringend geboten sei. „Es entspricht einer neueren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, daß die Grundrechte in den Grenzbereichen von Technik und Politik, wo also eine materielle Überprüfung kaum mehr möglich ist, die Grundrechte dadurch aktualisiert werden, d. h. Leben gewinnen, daß die Entscheidungen in einem bestimmten Verfahren fällen müssen. Paradebeispiel: Bei der Genehmigung von Atomkraftwerken haben wir ein Anhörungsverfahren. In diesem Anhörungsverfahren aktualisiert sich das Recht auf Leben. Aus diesem Gedanken folgt ganz zwingend, daß der Bundestag in dieser Frage das letzte Wort haben muß. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß dieser Verfahrensgesichtspunkt es erforderlich macht, eine Volksbefragung durchzufahren.“

Prof. Dr. Ernst Tugendhat

In seinem Beitrag „Rationalität und Irrationalität der Friedensbewegung“setzt sich Tugendhat auch mit der Vorstellung auseinander, Frieden und Freiheit seien gleichrangige ethische Werte (A. Mertes). Im Konfliktfall bedeute dies jedoch, sich für das freiheitliche politische System zu entscheiden unter Inkaufnahme eines Atomkrieges. Um welchen Preis spielt man mit diesem Risiko? „Auch wer bereit ist, das eigene politische System mit der Waffe zu verteidigen, ist gegebenenfalls nicht bereit, dafür die Existenz der Welt zu riskieren. Es war seit eh und jeder Sinn der Maxime „dulceet decorum est pro patria mori“, daß es für den einzelnen, weil er sich wesentlich als Teil des Ganzen versteht, sinnvoll ist, sich für die Erhaltung der Integrität des Ganzen zu opfern. Aber für welches Ganze opfern wir uns in einem Atomkrieg? In einem Atomkrieg opfert sich keiner mehr für das Ganze, sondern das Ganze würde von uns geopfert. „Die unbedingte Absage an den Atomkrieg entstamme gerade nicht der Präokkupation um das eigene bloße Überleben wie fälschlich unterstellt. Für diejenigen, die sich als Teil einer sie transzendierenden Ganzheit verstehen, bestünde das Neuartige am Atomkrieg in der Vernichtung des universalen Ganzen.

Zum Thema „Angst“ bemerkte Tugendhat: Häufig wird der Friedensbewegung vorgeworfen, daß sie irrational sei, weil sie von Angst bestimmt ist.

Man begeht hier den Fehler, anzunehmen, daß Affekte irrational sind. Aber Affekte sind nur dann irrational, wenn sie nicht realitätsgerecht sind, aber genauso irrational ist die Affektlosigkeit, wenn sie nicht realitätsgerecht ist.Angesichts einer wahrscheinlichen und ungeheuren Gefahr ist nicht die Angst, sondern die Angstfreiheit irrational.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1983/1 1983-1, Seite