Rechtliche Grenzen des Gehorsams
Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern
von Helga Wullweber
Nachdem der Irakkrieg am 20.03.2003 begonnen hatte, verweigerte ein Major der Bundeswehr die Weiterarbeit an einem IT-Projekt, weil er davon ausgehen musste, dass mit diesem Projekt die Beteiligung der Bundeswehr am Irak-Krieg unterstützt werde und seine Vorgesetzten das nicht ausschließen konnten.
Zur Beteiligung Deutschlands stellte das Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) am 21.06.2005 fest (Az.: 2 WD 12.04): Die Vorgesetzten waren vom Verteidigungsministerium darüber informiert worden, dass die Bundesregierung – obgleich sie erklärt hatte, ein militärisches Vorgehen gegen den Irak abzulehnen – den USA und Großbritannien vor Kriegsbeginn Überflugrechte, Nutzung der US-Einrichtungen in Deutschland und Schutz dieser Einrichtungen zugesagt hat. Hieraus resultiere, dass Deutschland »Drehscheibe« für den Einsatz der US-Streitkräfte im Irak ist.
Das BVerwG sprach den Soldaten vom Vorwurf des Dienstvergehens frei. Er habe nicht gegen die ihm nach dem Soldatengesetz obliegende Gehorsamspflicht verstoßen, weil er rational nachvollziehbar sich darauf berufen hat, dass ihn die Ausführung des militärischen Befehls in ernste Gewissensnöte gebracht hätte und ihm deshalb nicht zumutbar war.
Das BVerwG wertete die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht nur als eine ernsthafte und diskussionswürdige Meinung, deren Richtigkeit dahin stehen kann. Das BVerwG prüfte die Rechtslage, um Anhaltspunkte für die rationale Nachprüfbarkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten zu erlangen. Verblüffendes Ergebnis ist, dass die verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die Unterstützungsleistungen Deutschlands für den Irak-Krieg mit den Vorgaben der vom Bundesminister der Verteidigung erlassenen Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 15/2 vom August 1992 übereinstimmen.
Das BVerwG zeigt, dass das Grundrecht der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) auch für Soldaten gilt und nicht durch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. Abs. 3 GG) verdrängt wird. Bereits die Grundregelung zur Gehorsamspflicht eines Soldaten im Soldatengesetz (§ 11 Abs. 1 S. 2) beziehe sich auf die Freiheit des Gewissens, indem sie dem Soldaten auferlegt, einen Befehl „gewissenhaft“ auszuführen, also nicht gewissenlos, und fordere einen mitdenkenden und insbesondere die Folgen der Befehlsausführung – gerade im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen »Grenzmarken« des eigenen Gewissens – bedenkenden Gehorsam.
In dieser Grundregelung zur gewissenhaften, dem Gewissen verhafteten, Befehlsausübung scheint die Geschichte der Bundeswehr auf. Bei der in den Jahren 1955/56 erfolgten Aufstellung der Bundeswehr sei in den Wehrgesetzen ausdrücklich bestimmt worden, dass Soldaten die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger haben und die Soldaten „Staatsbürger in Uniform“ sind (§ 6 Satz 1 SG). Um jede Sonderstellung der Streitkräfte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) hinsichtlich der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verhindern, sei 1956 Art. 1 Abs. 3 GG dahingehend geändert worden, dass die Grundrechte außer für Gesetzgebung und Rechtssprechung für „die vollziehende Gewalt“, zu der die Streitkräfte zählen, gelten (statt wie vorher für „die Verwaltung“). Die Erteilung eines militärischen Befehls steht deshalb unter dem Vorbehalt seiner Grundrechtskonformität.
Das BVerwG betont, dass Gewissensfreiheit nicht heißt, willkürlich nach eigenem Gesetz zu leben und zu handeln. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit, um die Unzumutbarkeit der Befolgung eines Befehls zu begründen, wird als eine von mehreren rechtlichen Grenzen des Gehorsams (neben sechs weiteren rechtlichen Konstellationen) eines Soldaten aufgeführt. Diese rechtlichen Grenzen des soldatischen Gehorsams lassen erkennen, dass ein Soldat nicht vordergründig und leichtfertig Gründe geltend machen kann, will er einen Befehl unter Berufung auf seine Gewissensfreiheit verweigern. Für den Soldaten rechtlich unverbindlich ist u.a. auch ein Befehl, dessen Ausführung die Menschenwürde verletzen würde oder der nicht zu dienstlichen Zwecken, d.h. nicht zur Erfüllung der durch das Grundgesetz (abschließend) festgelegten Aufgaben der Bundeswehr, erteilt worden ist oder dessen Erteilung oder Ausführung als Handlung zu qualifizieren ist, die geeignet ist und in der Absicht vorgenommen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten (Art. 26 Abs.1 Satz 1 GG), oder dessen Erteilung oder Ausführung gegen die »allgemeinen Regeln des Völkerrechts« im Sinne des Art. 25 GG verstößt, zu denen u.a. das völkerrechtliche Gewaltverbot und die grundlegenden Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts gehören.
Als Gewissensentscheidung beschreibt das Bundesverwaltungsgericht jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von »Gut« und »Böse« orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Da der Gewissensappell »als innere Stimme« des Soldaten nur mittelbar aus entsprechenden Indizien und Signalen, die auf eine Gewissensentscheidung und Gewissensnot hinweisen, und zwar nur über das Medium der Sprache, erschlossen werden könne, prüft das BVerwG, ob eine nach außen tretende, rational mitteilbare und nach dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit (im Sinne einer absoluten Verbindlichkeit) der Gewissensentscheidung des angeklagten Soldaten positiv festgestellt werden kann.
Das BVerwG befasst sich deshalb mit der Konfliktsituation des Soldaten und stellt fest: Seine Gewissensentscheidung fand in einem Kontext statt, der von, auch für einen zum Waffeneinsatz nach wie vor bereiten Berufssoldaten, besonderen Umständen geprägt war. Hintergrund und Anlass für sein Handeln war der Krieg gegen den Irak, gegen den gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht bestanden und bestehen. Diese Situation habe der Soldat weder vordergründig noch leichtfertig angenommen noch bewusst herbeigeführt.
Sodann zeigt das BVerwG anhand der ZDv 15/02, dass die völkerrechtlichen Bedenken des Soldaten gegen die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zugesagten Unterstützungsleistungen, die für ihn Veranlassung zur Befehlsverweigerung waren, berechtigt waren und sind. Die Regelungen der ZDv 15/2 beinhalten in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht (V. Haager Abkommen vom 18.10.1907, in Deutschland in Kraft seit dem 25.10.1910), dass ein Staat, der an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten nicht beteiligt ist, den Status eines »neutralen Staates« hat. Das Gebiet eines »neutralen Staates« ist „unverletzlich“; jede Kriegshandlung ist darauf untersagt, insbesondere „Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen“ oder Nachrichten vermittelnde „Anlagen“ zu nutzen. Gemäß der ZDv 15/2 darf ein »neutraler Staat«, der die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den allein von den USA und ihren Verbündeten geführten Krieg gegen den Irak ist, auf seinem Territorium „keine der Konfliktparteien unterstützen“ und keine kriegsunterstützenden Handlungen dulden. Die ZDv 15/02 bestimmt u.a. auch, dass der »neutrale Staat« zum aktiven Tätigwerden und damit zum Einschreiten verpflichtet ist, wenn Neutralitätsverletzungen begangen werden. Die Streitkräfte einer Konfliktpartei, die sich auf dem Gebiet des »neutralen Staates« befinden, sind daran zu hindern, an den Kampfhandlungen teilzunehmen, und zu „internieren“.
Der Position der Bundesregierung, sie sei zu den Unterstützungsleistungen aufgrund der NATO-Verträge (incl. des Aufenthaltsvertrages für die US-Armee) politisch verpflichtet, widerspricht das BVerwG. Von den sich aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen sei Deutschland nicht dadurch freigestellt, dass es Mitglied der NATO ist, der auch die kriegführenden Staaten angehören. Es gebe keine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen.
Für die Gewissensentscheidung des Soldaten kam es nicht darauf an, dass er die sich aus dem als Verfassungsrecht geltenden Völkerrecht ergebende Rechtslage genau kannte. Der Soldat hatte zum einen vergeblich versucht, mit Hilfe seiner Vorgesetzten Klarheit zu gewinnen, ob er eventuell von fragwürdigen Grundlagen ausging. Zum anderen bedeuten – so das BVerwG – die rechtlichen Bedenken des Soldaten nicht, dass er nur die fehlende Legalität der deutschen Unterstützungsleistungen gerügt hätte: Für den Soldaten stellte vielmehr das geltende Völkerrecht das ethische Minimum dar. Das ist eine bedeutsame Facette der Befehlsverweigerung des Soldaten, weil in Erinnerung gerufen wird, dass UN-Charta und Menschenrechtskonvention keine beliebig veränderbaren Vertragswerke sind, sondern auf »überpositiven« Maßstäben beruhen, deren Kodifizierung wegen der Erfahrungen mit dem Faschismus und nach dem Inferno des 2. Weltkrieges gelang.
Wichtig ist schließlich der Hinweis des BVerwG darauf, dass die militärischen Vorgesetzten auch außerhalb des vom Soldatengesetz vorgeschriebenen staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterrichts verpflichtet sind, einem in einem Konfliktfall an der Rechtmäßigkeit eines Befehls zweifelnden Soldaten möglichst vollständig sowohl über die konfliktrelevanten Tatsachen als auch möglichst objektiv über die maßgebliche Rechtslage zu informieren: „Diese Unterrichtung muss sich – grundrechtskonform – daran orientieren, wie ein gegebenenfalls mit der Frage befasstes rechtsstaatliches Gericht die Sache voraussichtlich beurteilen würde.“ Die Vorgesetzten müssen sich also gründlich mit dem Verfassungs- und Völkerrecht befassen, dessen Beachtung ihnen überdies die Zentrale Dienstvorschrift aufgibt.
Im ersten »Mauerschützenurteil« vom 20.1.1992 hat das Landgericht Berlin den DDR-Grenzsoldaten zur Last gelegt, ihr Gewissen nicht „rechtzeitig“ geprüft zu haben. Um Wiederholungen zu verhindern, ist die rechtzeitige Information der Soldaten zu gewährleisten und dürfen Dritte, ob Soldaten oder nicht, nicht belangt werden, wenn sie Soldaten mit rechtlichen Zweifeln an ihrem Tun konfrontieren. Der Staatsbürger in Uniform ist verpflichtet, sich ein Urteil zu bilden über das, was er tut, um sein Gewissen prüfen zu können.
Helga Wullweber, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeits- und Sozialrecht in Berlin, ist Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der IALANA