W&F 2002/1

Reduzierung des Terrorismus auf den Islam führt in die Irre

von Mohssen Massarrat

„Was ist das für eine Religion, die solche Monster hervorruft“, fragte zwei Tage nach dem Inferno in New York die Redakteurin eines liberalen und einflussreichen deutschen Rundfunksenders einen Islamexperten. Welche Naivität und welche Unwissenheit! Die Journalistin steht aber gerade für die Unwissenheit des Westens über den Islam und die tief greifenden Hintergründe des Massenmords. Die allgemeine Ahnungslosigkeit in Verbindung mit dem Vorpreschen der militärisch-geostrategischen Kreise in den USA und der Nato, die ihre Stunde für eine weitere Militarisierung der internationalen Beziehungen gekommen sehen und nicht davor zurückschrecken, die weltweite Betroffenheit und Trauer um die Opfer des Terrors in den USA für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, droht zu einem gefährlichen Gemisch zu werden, das der Gewalteskalation einen neuen Schub mit ungeahnten Folgen geben dürfte.
Die Auswirkungen einer Gewalteskalation reichen weit über die arabisch-islamische Welt hinaus. Die menschliche Dimension des Verbrechens mahnt uns, uns mit dem Fundamentalismus zu beschäftigen. Dabei müssen wir allerdings auch fragen, wie es kommt, dass sich Milliarden Menschen, vor allem in der Dritten Welt, über die Zerstörung der Symbole des Reichtums und der Macht klammheimlich gefreut haben. Abertausende von ihnen könnten alsbald die Schwelle von passiver Zustimmung zum aktiven terroristischen Handeln überschreiten und überall in der Welt mit neuen Mitteln den gerade begonnenen globalisierten »Partisanenkrieg« weiterführen. Die Zerstörung der Legende von der Unverwundbarkeit der mit Abstand größten Militärmacht der Welt dürfte bei der großen Masse von Entrechteten und Gedemütigten dieser Welt zu einer Welle von terroristischen Nachahmern in den nächsten Jahren führen.

Nur zur Erinnerung: Die Zerstörung der Legende von der Unverwundbarkeit des durch die USA bis zu den Zähnen aufgerüsteten Schah-Regimes im Iran vor 22 Jahren hat in der islamischen Welt und darüber hinaus eine Welle von antiwestlichen Rebellionen ausgelöst.

Die Welt befindet sich jetzt in einer äußerst kritischen Situation. Durch den „ersten Krieg dieses Jahrhunderts“ (George W. Bush) wird der »Krieg der Zivilisationen« wahrscheinlicher, allerdings nicht in Huntingtons Sinne, sondern als ein Krieg, den die extremistischen Eliten der armen und der reichen Welt durch die Instrumentalisierung der jeweiligen kulturellen Werte für die eigenen Zwecke gegeneinander ausfechten. Die eigentlichen Opfer dieses Krieges sind auf beiden Seiten die Zivilbevölkerung, die Demokratie, andere zivilisatorische Errungenschaften und die Umwelt. Die Verhinderung dieses Szenarios ist daher m.E. die dringlichste politische Aufgabe. Dazu gehört die gründliche Analyse der Ursachen des globalen Terrorismus, den die Anhänger Osama Bin Ladens logistisch perfekt in New York und Washington inszeniert haben. Die Versuche in diese Richtung als Rechtfertigung des Terrorismus zu diffamieren, was dazu dient, die Komplexität des Problems auf »das Böse«, auf das »Krebsgeschwür« zu reduzieren und das politische Handeln auf die militärische Auslöschung des »Bösen« zu lenken, kommt einem Denkverbot gleich. Wir dürfen dieses Denkverbot nicht hinnehmen.

Woher aber kommt der offenbar über Jahrzehnte aufgestaute antiamerikanische Hass in der arabisch-islamischen Welt und in der Dritten Welt insgesamt? Ich möchte dazu vier fundamentale Aspekte skizzieren:

Erstens: Der Israel-Palästina-Konflikt ist zweifelsohne der wichtigste Kristallisationspunkt, aus dem alle antiwestlich arabisch-nationalistischen und islamisch-fundamentalistischen Bewegungen Kraft und Legitimation schöpfen. Israel ist die größte, auch mit Atomwaffen ausgerüstete Militärmacht im Nahen und Mittleren Osten und weigert sich, gerade wegen seiner militärischen Überlegenheit, seine Besatzungspolitik in Palästina zu beenden. Vielmehr stellt dieses Land tagtäglich seine Überlegenheit als Besatzungsmacht demonstrativ zur Schau, indem es palästinensische Häuser zerstört, palästinensischen Grund und Boden beschlagnahmt und die Palästinenser demütigt. Dadurch fühlen sich auch Millionen von Menschen in der arabisch-islamischen Welt gedemütigt. Die Palästinenser reagieren auf die von ihnen empfundene Ungerechtigkeit und Ohnmacht mit der Intifada bzw. mit terroristischen Anschlägen.1 Bei den Arabern und Moslems in der ganzen Welt verursacht die Demütigung der Palästinenser Wut und Ohnmachtgefühle, die sich im eigenen Land in Terror-Anschlägen gegen westliche Touristen (z.B. in Ägypten) entluden bzw. zu Anschlägen gegen eigene korrupte Regierungen führten, die sich mit Rücksicht auf die USA gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt eher in Zurückhaltung üben. Nun ist es Osama Bin Laden gelungen, die angestaute Wut durch die im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg gegen den Irak gegründete »internationale Brigade der arabischen Afghanen« und später die Al-Qaida in einen modernen »Partisanenkrieg« gegen die Weltmacht USA zu kanalisieren. Amerika gilt in den Augen der arabisch-islamischen Völker als entscheidende Schutzmacht der israelischen Besatzungspolitik und daher als mitverantwortlich für die Demütigung der Araber und Moslems. Zu den schmerzlichen Wahrheiten des auch nach dem Terroranschlag gegen die USA weiter eskalierenden Israel-Palästina-Konflikts gehört, dass Israel offensichtlich der Fortsetzung des gegenwärtigen Zustands der Besatzung auf der einen und der Intifada und des islamistischen Terrors auf der anderen Seite einen höheren Rang beimisst als der Aufgabe seiner Besatzungsmacht und der Schaffung eines dauerhaften Friedens. Die islamisch-fundamentalistische Hamas wurde ursprünglich nachweislich durch Israel unterstützt. Die Al-Fatah und Arafat sollten dadurch geschwächt und die Palästinenser gespalten werden. Nun wird Arafat für die Terroranschläge von Hamas verantwortlich gemacht, um den 1991 in Madrid begonnenen Friedensprozess zu torpedieren. Die Vereinigten Staaten haben offensichtlich auch nach dem 11. September kein ernsthaftes Interesse an einem dauerhaften Nahost-Frieden. Ich glaube seit längerem nicht an die Mär von der jüdischen Lobby in Amerika als eigentlichem Hindernis für die aktivere Rolle der USA im Friedensprozess. Vielmehr scheinen sich alle US-Regierungen hinter dieser Legende zu verstecken, weil Konflikteskalationen im Nahen Osten besser in die US-Geostrategie passen als ein dauerhafter Frieden.2

Zweitens: Die USA verfolgen seit einem halben Jahrhundert im Nahen und Mittleren Osten eine Politik der Destabilisierung und Konflikteskalation mit »kalkulierbarem Risiko« (low intensity war) – dazu gehört zentral der Israel-Palästina-Konflikt – und sie fördern und stärken durchweg nur korrupte und diktatorische Regime. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass die USA demokratische Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten unterstützt haben, ganz im Gegenteil. Sie haben 1953 die demokratisch gewählte Regierung Mossadegh im Iran mit Hilfe von CIA und Pentagon gestürzt (vor einem Jahr bezeichnete Madeleine Albright diese Aktion als einen Fehler), den Schah an die Macht zurückgeholt, dessen Regime zu einer militärisch-regionalen Supermacht aufgerüstet und dadurch einerseits einen gigantischen Rüstungswettlauf am Persischen Golf entfesselt und andererseits den islamischen Fundamentalismus im Iran gestärkt und somit indirekt der islamischen Revolution den Weg bereitet. Der Rüstungswettlauf entlud sich 1980 und 1989 in zwei Golfkriegen. Im ersten Golfkrieg unterstützten die USA Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran, machten den Irak zur stärksten Militärmacht am Persischen Golf und führten dann im zweiten Golfkrieg gegen das Regime von Saddam Hussein einen Krieg mit UN-Mandat, als dieser glaubte, die USA weiterhin auf seiner Seite zu wissen und daher Kuwait und dessen Ölquellen ungestraft annektieren zu können.

Nach der Befreiung Kuwaits wussten die Vereinigten Staaten nichts Besseres, als in den arabischen Staaten am Persischen Golf Militärstützpunkte zu errichten, so in Dahram und Riad (Saudi-Arabien) und in Kuwait City. Die Errichtung der Militärstützpunkte der »christlichen« Supermacht, vor allem in Saudi-Arabien als Statthalter der bedeutendsten islamischen Heiligtümer in Mekka und Medina, wird allerdings bei frommen Moslems nicht nur auf der arabischen Halbinsel, sondern in den arabischen Ländern und in der gesamten islamischen Welt als eine noch größere Demütigung empfunden als die Demütigung der israelischen Besatzungsmacht in Palästina. Osama Bin Laden und Al-Qaida haben unbestreitbar auf diesem fruchtbaren Boden des islamischen Fundamentalismus ihre furchterregende Größe und die Anhängerschaft gewonnen.3 Im Krieg Afghanistan gegen die Sowjetunion unterstützte der CIA den islamisch-afghanischen Widerstand, gewährte Partisanen, u.a. auch Osama Bin Laden, militärische Ausbildung und unterstützte später die mit pakistanischer Hilfe kreierte Talibanbewegung, als Afghanistan im geostrategischen Puzzlespiel der USA als Durchgangsterritorium zur Verlegung von Pipelines für die Erdgastransporte der Kaspischen-Meer-Region durch Pakistan bis zum Indischen Ozean als eine attraktive Option gehandelt wurde.4

Islamische Fundamentalisten im Iran, der Panarabist Saddam Hussein, das Taliban-Regime, aber auch die islamistische Bewegung um Osama Bin Laden und vor allem die Aggressivität dieser Herrschaften sind allesamt Produkte der US-amerikanischen Konflikt- und Eskalationspolitik im Mittleren Osten. Dadurch wurde die Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Persische Golf-Region in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtigster Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer. Nun hat sich durch den Terroranschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit »kalkulierbarem Risiko« als Bumerang erwiesen. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein nur kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten, allen voran die USA, eine beträchtliche Mitverantwortung für das Desaster in New York und Washington und für Tausende Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers.

Drittens: In der islamischen wie in der gesamten Dritten Welt vollzieht sich gegenwärtig eine historisch längst fällige gesellschaftliche Transformation und Industrialisierung, die mit tief greifenden sozialen Brüchen, mit Entfremdung, Entwurzelung und individuellen Identitätskrisen einhergeht. Der Globalisierungsdruck verstärkt diesen Prozess. Die nachhaltigste Form soziokultureller und sozialpsychologischer Aufarbeitung dieses unabdingbaren und konfliktträchtigen Prozesses, der in Europa über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten stattgefunden hat, ist die Demokratisierung und Selbstbestimmung. Durch Einmischung, Intervention und Unterstützung korrupter und diktatorischer Regime, so die Verhinderung der in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnenen Demokratisierung, und durch Aufpfropfen eigener Industrialisierungsmuster haben die großen westlichen Industriestaaten, allen voran aber die USA, mit dazu beigetragen, dass die sozialpsychologische und soziokulturelle Aufarbeitung der gesellschaftlichen Transformation unterbrochen und verzerrt wurde bzw. überhaupt nicht stattfand. Die große Masse der Entwurzelten durch alle sozialen Gruppen hindurch empfindet so die dabei erlittene Identitätskrise als einen fremdgesteuerten Angriff auf eigene kulturelle Werte und ist daher dazu prädestiniert, Feindbildern zu folgen, ihr Heil in nationalistischen bzw. fundamentalistischen Perspektiven zu suchen und gleichzeitig das Ausland, den Westen und Amerika für das eigene Leid verantwortlich zu machen.

Viertens: Die von der reichen Elite in der Welt, den internationalen Konzernen und den ihnen nahe stehenden Finanzinstitutionen gelenkte ökonomische Globalisierung hat die ungleiche Einkommensverteilung in der Welt in den letzten Jahrzehnten vergrößert. Über eine Milliarde Menschen in der Dritten Welt kämpfen um das tägliche Brot und fristen verzweifelt ihr Dasein. Die in dieser Ungerechtigkeit schlummernden sozialen und politischen Instabilitätsfaktoren können unmöglich militärisch eingedämmt werden. Die zahlreichen amerikanischen Militärstützpunkte in der Dritten Welt befinden sich somit auf einem Pulverfass. Die bittere Armut und kulturelle Entwurzelung bei gleichzeitiger Zurschaustellung des Reichtums der Eliten in den globalisierten Kommunikationssystemen stellen den fruchtbarsten Nährboden für den neuartigen globalen Terrorismus der Zukunft dar.

Die oben dargestellten Thesen, die für den tiefen antiamerikanischen Hass nicht nur in der islamischen Welt Anhaltspunkte liefern, entspringen nicht einer verschwörungstheoretischen Sichtweise, weil sie teilweise als unvorstellbar erscheinen. Sie sind alle durch systematische Auswertung der Ereignisse und Fakten wissenschaftlich nachweisbar. Auf dieser Grundlage soll nahe gelegt werden, dass eine Reduzierung der Ursachen des internationalen Terrorismus auf den Islam in die Irre führt. Vielmehr sind es die sozioökonomischen und kulturellen Defizite, Ungerechtigkeiten und Demütigungen sowie die Missachtung politischer, ökonomischer und kultureller Selbstbestimmung der Menschen, die den Extremismus und Gewaltbereitschaft hervorrufen und im islamischen Fundamentalismus und arabischen Nationalismus im Nahen und Mittleren Osten, im serbischen Nationalismus auf dem Balkan, im hinduistischen Fundamentalismus in Indien, in religiös kanalisierten Gewaltausbrüchen in Indonesien und im christlichen Fundamentalismus in den USA selbst ihre Ausdrucksform finden.

Anmerkungen

1) Über diesen Komplex vergleiche vor allem: Langer, Felicia, 1996: Laßt uns wie Menschen leben. Schein und Wirklichkeit in Palästina, Göttingen; Said, Edward, 1997: Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina 1993-1997, Heidelberg; Farhat-Naser, Sumaya, 1998: Die einen feiern, wir anderen trauern. 50 Jahre Israel, in: Frankfurter Rundschau vom 29. April 1998; Watzal, Ludwig, 2001: Feinde des Friedens. Der endlose Konflikt zwischen Israel und Palästina, Berlin.

2) Über geostrategische Hintergründe der US-Politik einer Konflikteskalation im Nahen und Mittleren Osten vgl. Massarrat, Mohssen, 1990: Die Krise am Persischen Golf. Dimensionen einer Regionalkrise nach dem Ende der Bipolarität, in: Peripherie, Nr. 39/40; derselbe: Die unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator, in: Wissenschaft & Frieden, 1/99; derselbe: Ölpreise, Ökosteuern und das Konzept einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2000; derselbe, 2000: Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen. 2., stark erweiterte Auflage, Marburg.

3) Vgl. dazu Duran, Khalid, 2001: Der einen Teufel, der anderen Held, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2001.

4) Der frühere Präsidentenberater, Zbiginiew Brezeinski, beschreibt in seinem Buch »Die einzige Supermacht« (2001, Frankfurt) offen und unumwunden die geostrategischen Interessen der USA im Mittleren Osten und in Zentralasien.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat ist Politikwissenschaftler iranischer Herkunft an der Universität Osnabrück. Schwerpunkte u.a. Friedens- und Konfliktforschung und Naher und Mittlerer Osten.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/1 Terror – Krieg – Kriegsterror, Seite