Religiöse Hintergründe des Terrors
von Werner Thiede
Schon bald nach den monströsen Terrorattacken von New York und Washington, als sich der islamistische Hintergrund herauskristallisierte, wurde der Islam als solcher vielstimmig als »Religion des Friedens« beschworen. Demgegenüber betont der Autor des vorliegenden Beitrags die moralische Ambivalenz von Religion im Allgemeinen und im Hinblick auf politische Gewalt die Ambivalenz des Islam im Besonderen. Vor allem in der Gegenüberstellung zum Christentum im dritten Schritt mag diese Position weiteren Diskussionsbedarf wecken. Einen entsprechenden Folgebeitrag würde die Redaktion begrüßen.
In den öffentlichen Diskussionen über die Hintergründe der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA macht sich in drei wichtigen Punkten vielfach religionswissenschaftliche bzw. theologische Unkenntnis bemerkbar. Und das ist nicht nur religionswissenschaftlich oder theologisch ärgerlich, sondern unter Umständen auch politisch folgenreich.
Religion ist nicht gleich Moral
Nicht selten wurde behauptet, die Terroranschläge hätten nichts mit Religion zu tun gehabt. So bildete einen Höhepunkt der öffentlichen Trauerfeier in New York am 23.9.2001 die energische Beteuerung eines muslimischen Geistlichen, dass die Anschläge nicht von gottesgläubigen Menschen vollbracht worden seien. Saudi-Arabien hatte bald darauf mit entsprechender Begründung die diplomatischen Beziehungen zur afghanischen Taliban-Regierung abgebrochen, die schlicht »Kriminelle« schützten. Auch Papst Johannes Paul II. sprach während seines Besuchs in Kasachstan den Terroristen die Berechtigung ab, ihre Verbrechen religiös zu begründen: „Hass, Fanatismus und Terrorismus entweihen den Namen Gottes.“ Vor dem Deutschen Bundestag hatte damals Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstrichen, der Terrorismus von New York und Washington habe „in keiner, aber auch gar keiner Weise“ mit Religion zu tun.
Derlei Thesen gehen in der Sache rundum fehl. Den Attentätern ihre islamische Motivation abzusprechen, ist zwar ein legitimer, ja kathartisch notwendiger Akt für viele authentische Vertreter der großen Weltreligion Islam. Religionswissenschaftliche Analyse wird indessen differenziert urteilen müssen. Wer Terror und Religion apriorisch sauber trennen zu können meint, verwendet einen kaum reflektierten Religionsbegriff, wie er seit der späten Aufklärung hierzulande gängig, aber religionswissenschaftlich und auch theologisch längst nicht mehr zulässig ist (vgl. Feil, 2000). Bildhaft hat bereits der erste Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern, Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack, vor über zwei Jahrzehnten dem verbreiteten Missverständnis einer Identität von Religion und humanistischer Moral entgegengehalten: Religion ist potenziell so ambivalent wie ein Messer; sie kann dazu dienen, Brot zu schneiden, aber auch dazu verwendet werden, Menschen zu töten. Im Umfeld von so genannten Sekten (zum Begriff vgl. Thiede, 1999, bes. Kap. I) kann diese Ambivalenz besonders augenfällig werden; man denke etwa an den verheerenden Giftgasanschlag von Tokio, an die Diskussionen um den religiösen Charakter der Scientology-Church (vgl. Thiede, 19952 ) und an die Massensuizide im Kontext sektiererischer Gruppen während des letzten Vierteljahrhunderts. Darum sind diejenigen nicht im Unrecht, die den Begriff des Sektiererischen mit den Terror-Anschlägen in den USA in Zusammenhang gebracht oder einfach von religiösem Fanatismus gesprochen haben. Damit kommen sie der Sache weitaus näher als etwa Gerhard Schröder mit seinem Versuch, den verschwommenen Begriff der Religion von jeder Vermengung mit Bösem rein zu halten.
„Sekunden vor dem Ziel sollten deine letzten Worte sein: Es gibt keinen Gott außer Allah!“1 Mit diesen Worten aus der terroristischen Handlungsanweisung haben die Flugzeuglenker am 11. September wohl ihre Untaten vollendet. Wer nach wie vor meint, jene Anschläge hätten nichts mit Religion zu tun, täuscht sich gewaltig. Illustrativ sind diesbezüglich im Einzelnen ebenso die Formulierungen des in den Printmedien veröffentlichten Testaments von Mohammed Atta, jenem Piloten, der die Boeing 757 in den Nordturm des World Trade Center steuerte: Als guter Muslim zu sterben war sein offenkundiges Bestreben.
In einer Hinsicht allerdings haben die Bestreiter des religiösen Charakters jenes Terrors recht: Es ist mitnichten die Religion pauschal, die zur Legitimation von Terrorismus herangezogen werden kann. Im Grunde gibt es »die« Religion in dieser Abstraktion gar nicht: Wie Sprache immer nur konkret im Plural, also als Sprachen, vorkommt, so gibt es nur eine Fülle konkreter Religionen in all ihrer Buntheit und Widersprüchlichkeit. Gewiss nicht jede Religion, auch nicht jede Weltreligion ist per se als Nährboden für Terrorismus geeignet. Ob es Zufall ist, dass die meisten der vom deutschen Verfassungsschutz beobachteten Gemeinschaften islamistischer Prägung sind?
Islamistisches Weltherrschaftsstreben?
Zu den Oberflächlichkeiten der einschlägigen neueren Diskussion gehört ein zu kurz greifendes Reden vom so genannten Zusammenprall der Kulturen gemäß S. P. Huntington (1998) – und zwar so, als ob dieser »Clash« gleichsam durch zwei zeitgleich aufeinander zulaufende Wellen zu Stande käme. Handelt es sich statt dessen nicht vor allem um eine einzige »Welle«, nämlich um das Erwachen des Islam in Gestalt des fundamentalistischen Islamismus, um seine Identitätsfindung als Gegenkraft gegen die ältere Säkularisierungswelle der Moderne (vgl. Kepel, 1991)? Gegen deren wachsende Aggressivität versucht sich der Westen aktuell zu verteidigen. Die zahlreichen Beteuerungen westlicher Politiker, keinen »Zusammenprall der Kulturen« zu wollen, sind glaubwürdig, weil ihrem freiheitlich-demokratischen Grundkonzept entsprechend. Womit freilich nicht gesagt sein soll, dass die abendländische Politik gegenüber islamisch geprägten Ländern stets frei von Fehlern gewesen wäre!
Der Islamismus, dessen prominentester Vertreter spätestens seit jenem Anschlag Usama Bin Laden ist, geht in seinen Aufbrüchen auf die kritische Absetzung des Islam von den geistigen und moralischen Auswüchsen der Moderne im 19. Jahrhundert zurück. Neuen Auftrieb hatte er im Gefolge der politischen Gegebenheiten seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 erhalten. Damals begann mit den »68ern« zugleich eine nicht nur aufs Abendland beschränkte Teilverabschiedung der Säkularisierung; rudimentäre Spiritualisierungstendenzen in verschiedenster Gestalt – nicht zuletzt in Gestalt der Esoterikwelle (vgl. Thiede, 1995) – sind seither interkulturell zu beobachten. Der Bruch mit dem Geist der Säkularisierung aber, wie er Re-Islamisierungsbewegungen2 allenthalben kennzeichnet, stellt schon in sich ein religiöses Phänomen dar – näherhin ein fundamentalistisches.
Tatsächlich wird der religiöse Gehalt des Islam durch seine Ideologisierung ansatzweise, aber keineswegs völlig, auf den Kopf gestellt. Nüchtern gilt es wahrzunehmen, dass er als Weltreligion schon im Ansatz wie keine andere zu einer Identifizierung von Religion und Politik neigt. Seine heteronome Grundstruktur fördert die Verinnerlichung einer Gesetzlichkeit, die das gesamte Leben individuell, aber auch gesamtgesellschaftlich bestimmen soll (vgl. Zirker, 1993). Wenn heute auf der Welt ein Pluralismus von Religionen herrscht, den der Koran hinzunehmen bereit ist (Sure 2,148; Sure 5,48), so haben Muslime dennoch die Pflicht, sich um die Herstellung der universalen Herrschaft des Islam zu bemühen (vgl. Khoury, 1991, S. 268). Die Ordnungsvorstellungen, die der Islam als Ausgestaltung des göttlichen Gesetzes ausgibt, gelten als bessere Alternative zum politischen System des Ostens und zu den demokratischen Institutionen des Westens.
Nachhaltig fordert der Koran zum Dschihad auf (Sure 9,41), d.h. zum Kampf gegen Ungläubige. Dieser Begriff kommt nicht im Plural vor und ist nicht ganz korrekt mit »Heiliger Krieg« übersetzt (vgl. Colpe, 1994; Riße, 1987). Die Pflicht zum Dschihad meint vielmehr einen Dauerzustand und betrifft die rechtgläubige Gemeinschaft im Ganzen, bis die Welt insgesamt zum Gebiet des Islam oder des Friedens geworden ist. Wer ihr genügt, wird mit der Vergebung der Sünden und dem Eintritt ins Paradies belohnt werden (Sure 47,4-7). Inwieweit dieser religiöse Kampf allerdings ein gewaltsamer und nicht etwa nur mit Worten geführter sein soll, stellt sich als Interpretationsfrage dar. Das normale Ja zum Dschihad umschließt zunächst einmal die Bereitschaft zur Selbstläuterung und zur Verteidigung der Religionsfreiheit. Erst der ideologisierte Dschihadismus, der aus dem Islamismus hervorgegangen ist, zielt unzweideutig auf die Unterwerfung der Ungläubigen und auf Weltherrschaft; erst er transformiert die Bereitschaft zur Selbstläuterung in die zur Selbstaufgabe im »Märtyrertod« bei der Bekämpfung der Gegenmächte. Von daher hat Bin Laden die Verheißung des Koran auf sein totalitäres Programm gemünzt mit der rhetorischen Frage: Wie stehen wir denn am Tage des Gerichts da, wenn wir gefragt werden, ob wir unsere Aufgabe erfüllt haben?
Muslime kennen in der Regel den Respekt vor Andersgläubigen – insbesondere vor denen der Schriftreligionen. Es gibt tiefe mystische Ströme (vgl. Schimmel, 1995) und viele friedliebende Theologen im Islam. Bekanntlich hat ein Großteil der islamischen Welt die Terror-Anschläge in den USA ohne Zögern verurteilt. Nicht zuletzt gegen einen theologisch besonnenen Islam aber richtet sich der militante Islamismus: In oft antiklerikaler Haltung pflegt er das »Geblubber« (Gerede) moslemischer Gelehrter zu verachten. Da jedoch der Islam – global betrachtet – äußerst vielgestaltig ist und über dem Koran keine zentrale Letzt-Autorität kennt, kann der radikale Islamismus ein gewisses Recht auf eigenständige Interpretation der Quellen zu beanspruchen versuchen. Und das tut er denn auch mit einer Leidenschaft, die als solche viele Moslems emotional in den Bann schlägt. Dass sein religiöses Streben nach einer weltweiten Gottesordnung den Weltfrieden herausfordert und als eine »Ideologie des Zusammenpralls« regelrecht bedroht, hat der liberale Reform-Muslim Bassam Tibi bereits vor den Anschlägen vom 11. September betont.
Die schon kurz vor den Terroranschlägen von New York und Washington vorbereitete gesetzliche Streichung des Religionsprivilegs bei Vereinen zeugt von dem durchaus vorhandenen Bewusstsein in deutschen Regierungskreisen: Terror und »Religionen« schließen einander keineswegs aus. Indem Bundeskanzler Schröder und andere Vertreter der westlichen Welt angesichts der dramatischen Lage diesen Sachverhalt dennoch verkannten, begingen sie einen vielleicht noch folgenschweren Wahrnehmungsfehler. Ihre Intention liegt zutage: Sie wollten der Vermischung von Islam und Islamismus wehren, wollten die Weltreligion von ihrer terroristischen Funktionalisierung trennen. Damit verfolgten sie nicht nur das respektable Ziel weitest gehender Vermeidung von Belästigungen gegenüber Mitbürgern, die dem Islam angehören und mit Terror nichts zu tun haben wollen. Vielmehr suggerierten sie auf diese Weise, die Annahme sei abwegig, die Religion des Islam würde sich im Verlauf der bevorstehenden Ereignisse mit den »nichtreligiösen« islamistischen Extremisten identifizieren.
Ist jedoch, wie dargelegt, die Grundthese unhaltbar, der terroristische Islamismus habe mit „Religion nichts, aber auch gar nichts“ zu tun, so ist auch die genannte Folgerung falsch. Es fragt sich, ob und wieweit sich die saubere Unterscheidung zwischen der Weltreligion des Islam und islamistischem Extremismus wird durchhalten lassen.3 So wenig Religion und Fundamentalismus schlechthin zweierlei sind, so sehr könnten der Islam und seine ideologisch transformierte Gestalt sich spätestens dann als zueinander gehörig erweisen, wenn die Folge der Ereignisse Muslime auch auf der nichtradikalen Seite zu einer Identifizierung mit den bedrängten Radikalen drängt. Nach einer Überlieferung des Propheten Muhammad ist jegliches Bündnis mit dem »Feind« strikt untersagt. Gemäß islamischer Tradition halten Muslime zusammen, um gegen die »Feinde des Islam« Front zu machen. Die massiven Protestaktionen in Pakistan, im Iran, in der Türkei, in Indonesien und auf den Philippinen gegen den amerikanischen Militäreinsatz haben genau diesen Hintergrund. Die meisten islamischen Regierungen waren besonnen genug, sich angesichts der brutalen Terroranschläge nicht auf die Seite der Terroristen zu stellen. Ob sich diese Politik aber über längere Zeit durchhalten lassen wird – wer wollte dafür garantieren?
»Gottesherrschaft« – eine eschatologische Kategorie
Beteuerungen führender westlicher Politiker, keinen »Kreuzzug«, keinen Religionskrieg gegen den Islam zu beabsichtigen, lassen sich zugleich als Distanzierung von den Irrtümern der Vergangenheit im Abendland lesen. Waren das übrigens nicht auch religiöse Irrtümer gewesen? Vielfach hat man in den neueren Debatten aber das Argument zu hören bekommen, es bringe ja doch jede Weltreligion Fundamentalismus und religiös motivierten Terrorismus hervor. Diese Gleichmacherei ist aber der dritte große Fehlschluss, der derzeit zu falschen Konsequenzen führen kann. Die Fundamentalismen der verschiedenen großen Religionen sind nämlich bei näherer Betrachtung durchaus recht unterschiedlich strukturiert – je nach dem Charakter ihrer Basisreligion (vgl. Kochanek, 1991; Hemminger, 1991).
Bassam Tibi (2000) begreift Fundamentalismus als „Politisierung von Religion“ – und damit hat er mitnichten eine Aufhebung, vielmehr eine Funktionalisierung des Religiösen im Blick. Der Göttinger Professor macht insbesondere deutlich, dass sich unter den Fundamentalismen der Weltreligionen die intensive Verbindung von politischer Religion und Weltpolitik allein im Fall des Islam beobachten lässt. Im Kontext gerade dieser Weltreligion sei der Fundamentalismus neben Kommunismus und Faschismus zu einer dritten Spielart des Totalitarismus der neueren Zeit geworden, und zwar zu einer anti-westlichen.
Was das Christentum anbelangt, so wird hier gern an die Kreuzzüge des Mittelalters erinnert (vgl. u.a. Gabrieli, 1976). Man übersieht dabei aber, dass jene Kreuzzugspolitik aus dem neutestamentlich nicht gedeckten Irrglauben an das Ineinander von weltlicher und geistlicher Macht im damaligen Papstamt und an das vermeintliche Recht auf bestimmte heilige Territorien hervorging. So belastend die Hypothek aus jener Zeit der Kirchengeschichte immer noch ist, so authentisch und glaubwürdig ist die längst erfolgte Distanzierung aller christlichen Kirchen von jener dunklen Phase, die sich – noch einmal sei es unterstrichen – in keinster Weise mit der Botschaft von Jesus Christus in Einklang bringen lässt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der endlich 1875 erklärte Verzicht des Papstes auf den Weltherrschaftsanspruch. Im Neuen Testament ist der Weltherrschaftsanspruch Gottes selbst ein eschatologischer, d.h. ein von Gott bzw. seinem Messias allein durchzusetzender: Er wird sich im unmittelbaren Umbruch der Wirklichkeit zur vollendeten Schöpfung insgesamt vollziehen und ist bis dahin allein im Glauben gewaltlos erfahrbar.
Gern wird zudem pauschalisierend auf den Terrorismus von »Christen« in Nordirland hingewiesen. Man übersieht dabei, dass es sich zum einen um ein vergleichsweise lokales Phänomen handelt und dass zum andern in diesem Fall nicht die Religion als solche die Ursache des Konflikts ist. Mit einem Terrorismus, dem es um die Weltherrschaft seiner Religion geht, hat der nordirische Terrorismus so wenig zu tun wie mit dem Wesen des Christentums.
Mitunter geht die Pauschalisierung der Fundamentalismen im Blick auf das Christentum auch mit dem Hinweis auf die ab und an hervortretenden kriegerischen Züge des alttestamentlichen Gottes einher. Man verkennt hierbei elementar, dass es im Neuen Testament keinerlei Rückbezug auf diesen »Kriegsgott« in seiner Korrelation zu dem von ihm geführten politisch-religiösen Volk gibt – es sei denn in der transformierten Gestalt klarer Spiritualisierung, die sein Königtum eschatologisch im Heraufführen der zukünftigen, erlösten Schöpfungswelt erblickt.
Zudem sollte sich herumgesprochen haben: Die Heilige Schrift der Christenheit besteht aus Dokumenten, die in über 1000 Jahren gewachsen sind und gesammelt wurden, während der Koran innerhalb kurzer Zeit entstanden ist und radikal für sich beansprucht, als Schrift exakt von Allah inspiriert worden zu sein. Im Unterschied zur Bibel stellt er hermeneutisch gesehen also viel eher so etwas wie eine einheitliche Fläche dar. Die Bergpredigt Jesu macht deutlich, dass mit dem Messias etwas entscheidend Neues hereingebrochen ist: „Den Alten ist gesagt (…) Ich aber sage euch (…)“ Sofern christliche Fundamentalismen oder christliches Sektierertum die Bibel einflächig lesen, tun sie das sozusagen gegen ihren Strich und gegen alle hermeneutische Vernunft. Der Koran bietet sich für eine solch eindimensionale Leseweise, die nach Belieben bestimmte Stellen herausstreicht, vergleichsweise eher an, obgleich selbst er im Grunde nicht ungeschichtlich gelesen werden sollte! Jesu Reich versteht sich indessen definitiv nicht als politisches (Joh 18,36). Und so, wie der Friede Gottes nach christlicher Überzeugung höher ist als alle Vernunft (Phil 4,7), meint auch Jesu Gebot der Feindesliebe keine der säkularen Vernunft entstammende Friedensethik. Das alles bedeutet mitnichten, dass Christentum unpolitisch wäre; aber es gewinnt seine politische Dimension aus einer eschatologischen Liebesgesinnung heraus, die Terrorismus ausschließt, allerdings im Extremfall etwa Tyrannenmord bejahen kann (D. Bonhoeffer!).
Wo christliche Fundamentalisten in bestimmten Varianten apokalyptisch denken, kann es sogar innerhalb des Christentums zu wirklich gefährlichen Vermischungen von Religion und Politik kommen (vgl. Riesebrodt, 1987; Stöhr, 1991). Doch selbst hieraus, also aus der einen oder anderen „Verkehrung des biblischen Denkens“ (Stöhr, S. 111) erwächst in aller Regel4 kein Nährboden für einen sich neutestamentlich legitimierenden Terrorismus. Vom Islam lässt sich Entsprechendes so klar leider nicht sagen (vgl. Nehls, 1985)5. Umso mehr ist der Arabischen Liga zu danken, dass ihre Außenminister am 4. November 2001 sich klar von Bin Laden und seinem »gegen die Welt« gerichteten Terror distanziert haben. Im Übrigen wäre es zu begrüßen, wenn islamische Theologen und Philosophen (vgl. Lech, 2000) noch stärker und deutlicher, als sie es bisher getan haben6, mit Argumenten ihrer Religion Bin Laden und seinen Getreuen ins Wort fallen würden. Der oft gehörte Hinweis, »Islam« selbst bedeute doch schon »Frieden«, genügt hier nicht; denn sollte damit nicht ein Frieden unter den Herrschaftsbedingungen des Islam selbst gemeint sein?
Literatur
Colpe, C. (1994): Der heilige Krieg. Bodenheim: Hain.
Feil, E. (Hrsg.) (2000): Streitfall »Religion«. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs. Münster: Hopf.
Gabrieli, B. F. (1976): Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, München: Artemis.
Hemminger, H. (Hrsg.) (1991): Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart: Quell.
Huntington, S. P. (1998): Kampf der Kulturen. Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Goldmann.
Kepel, G. (1991): Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. München/Zürich: Piper.
Khoury, A. T. (1991): Fundamentalismus im heutigen Islam. In: H. Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit (S. 266-276). Freiburg i. Br.: Herder.
Kochanek, H. (Hrsg.) (1991): Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen. Freiburg i. Br.: Herder.
Lech, W. G. (2000): Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam. Düsseldorf: Patmos.
Nehls, G. (1985): Christen fragen Moslems. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.
Pott, M. (1999): Allahs falsche Propheten. Die arabische Welt in der Krise. Bergisch Gladbach: Lübbe.
Riesebrodt, M. (1987): Protestantischer Fundamentalismus in den USA. Die religiöse Rechte im Zeitalter der elektronischen Medien. EZW-Texte: Information Nr. 102, Stuttgart: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.
Riße, G. (1987): Art. Djihad. In H. Waldenfels (Hrsg.): Lexikon der Religionen (S. 124). Freiburg i. Br.: Herder.
Schimmel, A. (1995): Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Frankfurt/M.: Insel.
Stöhr, M. (1990): Denken in Beton. Protestantischer Fundamentalismus in den USA, in Südafrika und bei uns. In U. Birnstein (Hrsg.): „Gottes einzige Antwort…“ Christliche Fundamentalisten im Vormarsch. Wuppertal: Peter Hammer, S. 106-117.
Thiede, W. (19952 ): Scientology – Religion oder Geistesmagie? Neukirchen-Vluyn: Bahn.
Thiede, W. (1995): Esoterik – die postreligiöse Dauerwelle. Neukirchen-Vluyn: Bahn.
Thiede, W. (1999): Sektierertum – Unkraut unter dem Weizen? Gesammelte Aufsätze zur praktisch- und systematisch-theologischen Apologetik. Neukirchen-Vluyn: Bahn.
Tibi, B. (2000): Fundamentalismus im Islam – Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt: Primus.
Zirker, H. (1993): Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen. Düsseldorf: Patmos.
Anmerkungen
1) Vgl. den Abdruck der vollständigen Handlungsanweisung in: FOCUS 40/2001, S. 268; ferner den ausführlicheren Text der spirituellen Anleitung für den Selbstmordanschlag auf das World Trade Center: »Der Himmel lächelt, mein junger Sohn« in: Der Spiegel 40/2001, S. 36-38.
2) Reislamisierung bedeutet „die Rückkehr zu den politischen und wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die im islamischen Reich während des Mittelalters ausgearbeitet worden sind, oder – noch radikaler – die Rückkehr zu den gesellschaftlichen Mechanismen und den politischen Institutionen der frühen islamischen Gemeinde zu Medina“ (Khoury, 1991, S. 266).
3) Dieser Artikel wurde am 5. November 2001 abgeschlossen, als längst Tausende von Pakistanern die Grenze nach Afghanistan überschritten hatten, um in den »Heiligen Krieg« zu ziehen; es ist leicht möglich, dass manches hier Gesagte bei seinem Erscheinen durch die Fakten überholt sein wird.
4) Jede Regel kennt das Extrem(istische) der Ausnahmen: Man denke etwa an gezielte, wohl fundamentalistisch motivierte Anschläge gegen Abtreibungskliniken in den USA. Solch fanatische Taten können sich aber nicht aufs Neue Testament berufen. Enthält nicht demgegenüber der Koran Stellen, die u.U. durchaus als Aufruf zu mordender Gewalt gedeutet werden können (z.B. Sure 2,191+216; 4,89; 9,5), zumal sich das Tötungsverbot in Sure 5,32 nur auf den Herrschaftsbereich des Islam zu beziehen scheint?
5) Ein Dialog der Religionen ist jedenfalls zu begrüßen, wenn er ihre Vertreter authentisch sein lässt. Mit Gründen hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Kock, sich im Oktober 2001 dafür ausgesprochen, im Dialog mit dem Islam das Trennende nicht auszusparen. Ähnlich äußerten sich die römisch-katholischen Bischöfe auf ihrer Herbsttagung in Fulda, wo sie zugleich postulierten, Christen müssten in islamischen Ländern ebenso unbeeinträchtigt ihrem Glauben entsprechend leben können wie Muslime hierzulande.
6) Vgl. auch die EZW-Dokumentation »Muslimische Verbände zu den Anschlägen in den USA«. In Materialdienst. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 64, 11/2001, S. 371-373.
Dr. Werner Thiede ist Privatdozent im Fach Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.