Religionsgemeinschaften und Gewalt
von Hans G. Kippenberg
Dass die Gewalttätigkeit von religiösen Gemeinschaften auch im Handeln ihres Gegenüber begründet sein kann, ist eine wichtige Erkenntnis religionswissenschaftlicher und -soziologischer Studien. Andere Konfliktdimensionen - etwa die dabei wirksame Anrufung von religiösen Erzählungen, der Stellenwert von Heilserwartungen oder auch die Relevanz semantischer Deutungsmuster - harren einer weitergehenden, insbesondere komparativen Forschung. Schließlich dürften insbesondere die Kategorie der Moral(ität) religiös motivierter Akteure zu kontroversen Beurteilungen führen.
Als im Zeitalter der Glaubenskriege Religionsgemeinschaften Europa mit Gewalt überzogen, sah Thomas Hobbes die Lösung in einem starken Staat, der allein die sozial destruktiven Kräfte der Religionsgemeinschaften bändigen könne. Zur selben Zeit vertrat Samuel Pufendorf die entgegengesetzte These, dass kein Staat ohne Religion Bestand haben könne, da nur die Religion ein soziales Band zwischen den Bürgern herstellen könne. Um seine Pflichten zu erkennen, benötige der Mensch keine Offenbarungsschriften, sondern müsse nur auf sein eigenes Gewissen hören. Was aber stimmt nun: Ist das soziale Band, soweit es von religiösen Gemeinschaften begründet wird, für das Gemeinwesen eine Gefahr oder ist es sein soziales Kapital? Solange Religionen in der Moderne eine Sache des Individuums wurden, verlor das Problem an Brisanz. Doch das stetige Wachstum religiöser Gemeinschaften weltweit bringt die alte Unsicherheit zurück.
Über den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt
Jan Assmann hat recht, dass der exklusive Monotheismus, den Moses in Israel durchsetzte, die eigene wahre Gottesverehrung scharf von der grundfalschen der Heiden unterschied (Assmann 1998). Allerdings hält er biblische Erzählungen von einer gewaltsamen Ausrottung der falschen Götter und ihrer Völker für ein semantisches Paradigma, mit dessen Hilfe die Durchsetzung des Monotheismus nur erinnert worden sei, das sich aber nicht auf reale Gewalthandlungen beziehe (Assmann 2003, S.36). Wo im Judentum überhaupt Gewalthandlungen bezeugt sind, dann allein nach innen gegen den Apostaten, nicht aber gegen Ungläubige.
Doch gibt es sehr wohl noch einen anders gelagerten Fall, den Assmann nicht einbezieht, der das Bild aber radikal verändert. Den Juden war von den Persern im 5. Jh. v. Chr. nach ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft das Privileg einer autonomen Rechtsgemeinschaft zugestanden worden. Diese Gemeinschaft verband mit der mosaischen Unterscheidung noch eine soziale: die zwischen Freiheit und Sklaverei. Die Sicherung der Gemeindemitglieder vor dauerhafter Versklavung durch Fremde wurde zu einer religiösen Pflicht aller Gläubigen. Als im 2. Jh. v. Chr. der Jerusalemer Tempel von hellenistischen Herrschern entweiht wurde und ein Jude sich bereit zeigte, auf Geheiß eines königlichen Beamten ein heidnisches Opfer zu bringen, tötete der Priester Matthias, Vater der Makkabäer, nicht nur den Abtrünnigen, sondern auch den Beamten. Mit dem Ruf: „Ein jeder, der für das Gesetz eifert und die Bundestreue hält, ziehe hinter mir her!“ flohen er und seine Söhne in die Berge (1. Makkabäerbuch 1-2). Die Apokalypse Daniel deutete die Verschärfung des Konflikts als Auftakt zu einer neuen Heilszeit. Wer im Kampf gegen die Gottlosen stirbt, ist ein Märtyrer und wird zum ewigen Leben erweckt. Gewalt zwecks Verteidigung des erwählten Volkes gegen seine Feinde war ein vorbildlicher Akt. Andererseits schlossen dieselben Aufständischen mit dem heidnischen Römischen Senat einen Freundschaftsvertrag, als dieser der jüdischen Gemeinschaft Autonomie zugestand (1. Makk. 8). Dieser lang erinnerte Fall zeigt, dass es keinen irgendwie zwingend notwendigen Zusammenhang zwischen dem Monotheismus und Gewalttätigkeit gibt. Er ist bedingt von einer Situation der Bedrohung der religiösen Gemeinschaft durch innere und äußere Feinde.
Religiöse Gewalteskalationen in den USA
Untersuchungen neuerer Fälle religiöser Gewalt haben eine Wendung genommen, die dies bestätigen. Der erste Fall, der so aufgearbeitet wurde, waren Mord und Massenselbstmord der nordamerikanischen Religionsgemeinschaft »People's Temple« in Jonestown, Guayana 1978. Jugendliche und Alte, Männer und Frauen, Arme und Wohlhabende, und - ungewöhnlich - Weiße und Schwarze hatten sich in Kalifornien gemeinsam dem Prediger und Heiler Jim Jones angeschlossen. Sie wollten eine revolutionäre Gemeinschaft bilden: ohne Rassendiskriminierung, ohne Privateigentum und ohne die sexuellen Normen des bürgerlichen Amerikas. Erboste Verwandte liefen Sturm gegen den »Kult«, wie es abschätzig hieß; Abtrünnige bestätigten die wildesten Vorurteile; in Medienkampagnen wurden Vorwürfe von Gehirnwäsche erhoben.
Als es der Gemeinschaft nicht gelang, die Angriffe gerichtlich abzuwehren, wanderte sie nach Mittelamerika aus. Als dort eine Delegation der Gegner mit einem Kongressabgeordneten an ihrer Spitze auftauchte und erste Gemeindemitglieder dem Druck nachgaben, ihre Rückkehr in die USA ankündigten und damit die Existenz der Gemeinschaft gefährdeten, entlud sich die Spannung in Gewalt. Gemeindemitglieder erschossen den Kongressabgeordneten und drei weitere Personen auf dem Flugfeld, als sie abfliegen wollten. Eine Stunde später begann die »Weiße Nacht«, in der die Gemeindemitglieder sich das Leben nahmen. Jim Jones hatte ihnen gepredigt, dass der Freitod eine bessere Lösung sei als erneute Unterwerfung unter die destruktiven Mächte dieser Welt. 911 Menschen verloren ihr Leben. In diesem fürchterlichen Ende sahen die Gegner eine nachträgliche Bestätigung dafür, dass die persönliche Überzeugung der Gemeindemitglieder nur erzwungen worden und Jim Jones nur ein falscher Prophet sein konnte. »Jonestown« wurde das warnende Beispiel dafür, wozu »Kulte« alles imstande seien.
Studien, die zehn Jahre später den Fall neu aufrollten, kamen jedoch zu einem anderen Ergebnis. John Hall scheibt: „Der Schlüssel zum Verstehen des Massenselbstmordes von Jonestown liegt in der Konfliktdynamik zwischen religiösen Gemeinschaften, die Autonomie beanspruchen, und äußeren politischen Ordnungen. Die Aufforderung, sich den äußeren Ordnungen unterzuordnen, zwingt die Gemeinschaft dazu, zwischen dem Heiligen und dem Bösen zu wählen. Dieser Wahlzwang macht religiöse Überzeugung zu einer Frage der Ehre und ist das Treibbeet für einen Märtyrertod.“ (Hall 1987, S.296). Erst der von außen kommende Druck hat die Gemeinschaft dazu gebracht, ihre Sozialform mit Gewalt zu verteidigen.
Die Schatten von Jonestown fielen noch auf Vorgänge in Waco (Texas) 15 Jahre später, als eine adventistische Religionsgemeinschaft in den Verdacht rechtswidriger Handlungen geriet - zu Unrecht, wie sich später herausstellte. Als Beamte bei der überfallartigen Durchsuchung des Anwesens auf Gegenwehr stießen, belagerte das FBI das Grundstück mehrere Wochen lang. Schließlich gingen die Einsatzkräfte zur gewaltsamen »Befreiung« über. 74 Tote wurden nach dem Angriff gezählt. Der Blick der Untersuchungskommission, die die Clinton-Regierung dazu einsetzte, fiel auch auf unausgesprochene Annahmen der Einsatzleitung. Die Beamten waren davon überzeugt, dass Religion ein innerer persönlicher Glaube sei, der mit äußeren gemeinschaftlichen, gar gewalttätigen Handlungen nichts zu tun haben könne (Sullivan 1993, S.213-234). Dass der religiöse Anführer den Überfall auf die Gemeinschaft und die folgende Belagerung mit Hilfe der Offenbarung Johannes deutete und in den Einsatzkräften die Mächte des widergöttlichen Babylon sah, entging ihnen völlig. So haben sie mit ihrer Gewalt dem Glauben der Adventisten, in einer Welt voller Ungerechtigkeit zu leben, noch zusätzlich Nahrung geliefert und zum Gewaltausbruch beigetragen (zu analogen Fällen: Hall, Schuyler & Trinh, 2000).
Bei einer späteren Besprechung dieser Vorgänge waren sich Beamte des FBI und Vertreter der American Academy of Religion darin einig, dass man in solchen Situationen »worldview translators« (Weltbildübersetzer) benötigt, um unbeabsichtigter Eskalation vorzubeugen (Rosenfeld 2000, S.347-351). Zwar rechnet christliche Apokalyptik immer mit einer Zunahme des Bösen in der Endzeit; ob aber den Gläubigen Geduld und Leidensbereitschaft abverlangt werden oder aber Kampf gegen das Böse bis zum Tod gegen die gottlosen Mächte, ist völlig offen und muss von den Gläubigen entschieden werden. Vorschnelle Anwendung von Gewalt kann aus einer duldsamen Gemeinschaft eine gewalttätige werden lassen. Angesichts dieser Untersuchung muss man ernsthaft damit rechnen, dass die Gewalttätigkeit von Religionsgemeinschaften ihren Ort in einem Handlungsverlauf hat, dass die zugrunde liegenden Konflikte sich auf das soziale Band der Religionsgemeinschaft beziehen und dass an der Eskalation Träger staatlicher Gewalt maßgeblich beteiligt sein können.
Der Nahostkonflikt: von einem Krieg zwischen Staaten zu einem zwischen religiösen Gemeinschaften
Auch für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gilt, dass religiöse Gewalt in einem Handlungsverlauf entstand. Der Konflikt um das von Israel 1967 besetzte palästinensische Territorium wurde nicht nur in Begriffen des Völkerrechts ausgetragen, sondern auch mit religiösen Ansprüchen. Nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg verlangten die Vereinten Nationen, dass sich die Staaten der Region gegenseitig anerkennen und dass Israel seine Streitkräfte aus Gebieten, die es während des jüngsten Konfliktes besetzt hat, zurückzieht. Doch ließen die Resolutionen offen, ob Israel nur besetzte Gebiete oder die besetzten Gebiete insgesamt räumen sollte. Der Streit darüber fiel in eine Zeit, als in Israel religiöse Zionisten die Eroberung der einst zum biblischen Land gehörenden Gebiete von Judäa und Samaria als Auftakt der messianischen Wiederherstellung deuteten und im verheißenen Land Siedlungen anlegten.
Die zionistische Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina war lange Zeit gerade nicht religiös begründet worden. Orthodoxe Juden hielten sie für eine Angelegenheit ausschließlich des Messias. Zwar war es Juden religiös gestattet, in Palästina leben - doch nur, um die Tora zu studieren; wenn sie aber das Land bewirtschafteten, würden sie unzulässig das Ende herbeizwingen wollen. Jedoch gab es im Lager der Orthodoxen einen Rabbiner, Abraham Isaak Kuk (1865-1935), der das säkulare zionistische Vorhaben geschichtsphilosophisch deutete. Der Messianismus schreite unabhängig von den säkularen Absichten der Akteure voran. Als dessen Sohn Rabbi Zvi Yehuda Kuk (1891-1982) wenige Tage vor dem Sechstagekrieg in einer Predigt unvermittelt in eine Klage darüber ausbrach, dass Hebron, Sichem, Jericho und Anathot 1948 bei der Teilung des Britischen Mandatsgebietes von Israel losgerissen worden seien, und nur wenige Tage später die Truppen Israels dieses Unglück ungeschehen machten, wurde er zu einem fast biblischen Propheten. Aus dieser Sicht war der Sechstagekrieg ein »Krieg der Erlösung«. Anhänger seiner Schule legten gegen eine zögernde Regierung der Arbeiterpartei Siedlungen in den besetzten Gebieten an. Als 1977 die rechtsgerichtete Likudpartei an die Macht kam, nahm die neue Regierung die Siedlungsaktivitäten selber in die Hand. Der sog. »Block der Getreuen« ging in den besetzten Gebieten nicht selten mit Gewalt und mit Unterstützung der Armee gegen sich widersetzende Palästinenser vor. Ehud Sprinzak, ein israelischer Politikwissenschaftler, zählte 3.000 Fälle von kommunalen Konflikten zwischen Siedlern und Palästinensern, bevor 1987 die Intifada losbrach (Sprinzak 1991, S.148). Die Rückgabe von Teilen des biblischen Landes im Zusammenhang mit einem Friedensvertrag betrachteten sie als Abfall vom Glauben. Als Ministerpräsident Yitzhak Rabin dazu ernsthafte Bereitschaft zeigte, wurde er 1995 von einem Theologiestudenten der Universität von Bar Ilan als Verräter ermordet.
Ähnliche Entwicklungen in der Deutung des Konfliktes gab es auf Seiten der Palästinenser. Die PLO begründete ihren Widerstand gegen Israel noch mit einem Kampf gegen den Imperialismus. Anders die Muslim-Brüder, die die Zeit für den bewaffneten Kampf gegen Israel noch nicht für gekommen hielten. Erst müsse die palästinensische Gesellschaft islamisiert werden, was sie mittels des Aufbaus sozialer Institutionen wie Moscheen, Schulen, einer Universität, Bibliotheken, Krankenhäusern und Entwicklungsgenossenschaften vorantrieben. Israel ließ sie als unpolitisches Gegengewicht zur PLO gewähren.
Als sich aber 1987 Palästinenser in den besetzten Gebieten gegen Israels Kriegsrecht erhoben, wollte das Oberhaupt der Muslim-Brüder die Koordination der Erhebung nicht den nationalen Kräften überlassen und rief im Dezember 1987 die »Islamische Widerstandsbewegung« (harakat al muqawama al-Islamiyya) ins Leben. Ihre Abkürzung Hamas bedeutet »Eifer«. Schon im ersten Kommunikee schlug sie andere Töne an. Die von der israelischen Armee Erschossenen seien Märtyrer auf dem Weg Gottes; ihr Tod sei ein Ausdruck für den Opfergeist der Palästinenser, die das ewige Leben mehr liebten als ihre Gegner das irdische. Sie werde den Banner Gottes über jedem Zipfel Palästinas aufpflanzen, heißt es in Artikel 6 ihrer Charta. „Die Muslime der Eroberungszeit haben [Palästina] den muslimischen Generationen bis zum Tag der Auferstehung als (unveräußerliches; HGK) waqf [Stiftungsland] übertragen“ (Art. 11). Darüber kann nicht verhandelt werden. Als dann auch nach den Oslo-Abkommen der Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten weiterging und im Oktober 2000 der Oppositionsführer Ariel Scharon den von Muslimen verwalteten Tempelberg mit einer bewaffneten Eskorte betrat, um den jüdischen Anspruch auf diesen von Muslimen verwalteten Bezirk zu demonstrieren, brach die zweite Intifada aus, die anders als die erste vor allem wegen der Märtyreroperationen gegen israelische Soldaten und Zivilisten ungleich blutiger verlief.
Der Übergang zum Religionskrieg hat auch vor den USA nicht halt gemacht. Unter Präsident Jimmy Carter hatte das Außenministerium noch die Vierte Genfer Konvention bekräftigt und die Errichtung jüdischer Siedungen in den von Israel besetzten Gebieten für illegal erklärt. Der neu gewählte amerikanische Präsident Ronald Reagan beurteilte den Sachverhalt plötzlich anders. Die Siedlungen seien nicht illegal. Es handele sich nicht um »besetzte«, sondern um »umstrittene« Gebiete; nicht nur Palästinenser, auch Israel habe berechtigte Ansprüche auf sie. Die Idee einer Wiederherstellung Israels im Heiligen Land konnte bei der neuen Regierung auf Verständnis rechnen. Die Bevorzugung von Ansprüchen Israels darf man jedoch nicht nur in Verbindung mit der jüdischen Lobby sehen. Sie wird auch von einem bestimmten Typus von Protestantismus genährt. Protestanten dieser Richtung glauben, dass die biblischen Verheißungen an Israel nicht an das Volk der Christen und damit die Kirche übergegangen sind - was in der christlichen Theologie sonst eine verbreitete Auffassung ist -, sondern dass sie nach wie vor dem jüdischen Volk gelten. Gegenwärtig habe der Prozess der Wiederherstellung Israels begonnen; die Geschichte stehe kurz vor dem Beginn des letzten Millenniums. Die politischen Ereignisse rund um die Gründung des Staates Israel sind wie der Zeiger auf der apokalyptischen Uhr. Als einen der nächsten Schritte erwarten diese Protestanten die Wiederherstellung des Jüdischen Tempels, nachdem zuvor der islamische Felsendom zerstört worden ist. Romane und DVDs (»Left behind«) haben diese Geschichtsauffassung so sehr populär gemacht, dass heute vierzig bis fünfzig Millionen Amerikaner mit ihr sympathisieren und ein Wählerreservoir darstellen, das die Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush für sich mobilisieren konnten.
Globaler Jihadismus
Fälschlich wird der globale Jihadismus z.B. von al-Qa'ida mit den Gewaltakten von Hamas in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber operiert er auf der Basis einer anderen Definition der heutigen Lage des Islams. Für seine Vertreter ist die gegenwärtige Welt einschließlich der islamischen Länder so sehr von der gottlosen Kultur des Westens verdorben, dass der wahre Islam nur noch an einem einzigen Ort anzutreffen ist: in der reinen Intention der wenigen verbliebenen wahren Gläubigen. Wie der Prophet Mohammed in einer ähnlichen Situation überfallartige Kriege (ghazwas; »Razzia«) gegen die Feinde führte, so inszenierten die Jihadisten den Anschlag vom 11. September 2001. Ihre Gründe, die USA anzugreifen, finden sich in einer Erklärung der »Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler«: die Besetzung der arabischen Halbinsel und der dort liegenden heiligsten islamischen Stätten durch amerikanische Truppen; das Embargo gegen den Irak, das vielen Menschen das Leben gekostet hat; die Zerstückelung des Irak sowie anderer Staaten der Region in wehrlose Kleinstaaten, um Israels Überlegenheit über die arabischen Nachbarstaaten zu garantieren. Diese Handlungen seien eine Kriegserklärung an Gott. Es sei jetzt die individuelle Glaubenspflicht eines jeden Muslims in jedem Land, Amerikaner und ihre Verbündeten, Zivilisten und Militärs zu töten, um die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und die Heilige Moschee von Mekka aus ihrer Gewalt zu befreien, sodass sich alle ihre Armeen aus der islamischen Welt zurückziehen, besiegt und unfähig, noch irgendeinen Muslim zu bedrohen (Lawrence 2005, S.61). Tatsächlich angegriffen am 11. September 2001 wurden gezielt die Machtzentren der USA: das ökonomische im World Trade Center, das militärische im Pentagon und das politische im Capitol, das wegen des Absturzes der Maschine in Pennsylvania nicht getroffen wurde; doch wurde der Tod zahlloser unschuldiger Zivilisten dabei billigend in Kauf genommen.
Die Dämonisierung des Feindes
Der Übergang zum Religionskrieg hat sich in neuen Definitionen des Feindes niedergeschlagen. 1977 sah ein Zusatzprotokoll (I) zur Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen vor, dass auch Menschen, die „gegen Kolonialherrschaft, fremde Besetzung und rassistische Regime in Ausübung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, kämpfen“, in den Genuss des Schutzes kommen sollten. Damit hatten auch palästinensische Widerstandsorganisationen ein Anrecht auf Behandlung entsprechend den Genfer Konventionen - vorausgesetzt, sie hielten sich selber daran. Diese neue Rechtslage rief in Israel und den USA heftige Gegenreaktionen hervor. Zwei Konferenzen in Jerusalem und Washington hatten die erklärte Absicht, die „Vorstellung, dass des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer ist“ zu widerlegen. „Das ist es, was die Terroristen uns glauben machen wollen“. Man müsse Terrorismus anders definieren: als absichtliche und systematische Ermordung, Verstümmelung und Bedrohung von Unschuldigen, um aus politischen Gründen Furcht zu verbreiten (Netanyahu, 1986).
Diese neue Definition setzte sich bald durch. Wer heute von Terroristen spricht, lässt bei den Zuhörern jeden Wunsch schwinden, etwas über die Gründe ihres Handelns erfahren zu wollen; er lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, ob vielleicht die Politik der eigenen Staaten zu dem Entstehen der Erscheinung mit beigetragen haben könnte; er suggeriert, es sei widersinnig, mit solchen Menschen überhaupt zu verhandeln; Terroristen seien moralische Nihilisten und stünden außerhalb der Rechtsordnung. Betrachtet man aus dieser Sicht Hamas oder auch den globalen Jihadismus, ist der Terrorbegriff, wie er in der französischen Revolution gebildet wurde, tauglicher. Terror sei, so Robbespierre, „nichts anderes als strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend“. Nicht ein Mangel, sondern ein Übermaß an Moralität treibt Hamas und die Jihadisten. Der neue Terrorbegriff lässt die Ambivalenz des Umstandes, dass Menschen für berechtigte Anliegen mit verwerflichen Mitteln kämpfen, verschwinden. So schwer es fällt, es anzuerkennen: der verbrecherische Gewalttäter und der Märtyrer für eine heilige Ordnung können dieselbe Person sein.
Eine gleiche Veränderung des Feindbildes finden wir bei Hamas. Auch sie eliminiert alle einhegenden Momente des internationalen Kriegsrechtes zu Gunsten einer Dämonisierung des Feindes. In ihrer Charta beschwört sie in Art. 7 eine Propheten-Überlieferung, die einen Kampf der Muslime mit den Juden am Ende der Zeit voraussieht (Oliver/ Steinberg, 2005, S.19-24), und greift die antisemitische Verschwörungstheorie der »Protokolle der Weisen von Zion« auf. Graffiti, Videos und Flugblätter dämonisieren Juden in Anlehnung an Koran Sure 5, 60 als „Söhne von Affen und Schweinen“, malen ihr Ende sadistisch aus und schwelgen in der Vorstellung, welche Angst ihr Herz beim Anblick eines „lebenden“ Märtyrers erfasst (Oliver/ Steinberg, 2005, 72-76). Häufig wird in diesem Zusammenhang von Antisemitismus gesprochen. Doch ist diese Begriffsbildung eher irreführend, da es vor dem Nahost-Konflikt im Islam keinen Antisemitismus wie in Europa gab. Auch war der Antizionismus nicht rassistisch, obwohl man sehen muss, dass im Laufe des Konfliktes die Unterscheidung zwischen Zionisten und Juden häufig verschwand. Es war dieses Verschwinden, das die Bürger Israels darin bestärkt, in der Feindschaft der Palästinenser die Manifestation eines altbekannten Antisemitismus wiederzuerkennen.
Religiöse Handlungsoptionen jenseits von Gewalt
Die neuen Formen gewalttätiger gemeinschaftlicher Religion aktivieren heilsgeschichtliche Handlungsentwürfe. Erleichtert wird ihre Existenz dadurch, dass bestehende Rechtsformen es Laien erlauben, religiöse Vereinigungen unabhängig von staatlichen Privilegien sowie von traditionellen religiösen Institutionen oder Autoritäten zu gründen. In diesen Vereinigungen werden aktuelle Probleme, drängende Sorgen, demütigende Erfahrungen und hochgespannte Erwartungen der Religionsangehörigen intellektuell und solidarisch bewältigt. Verbreitet haben sie sich vor allem dort, wo staatliche Ordnungen in Krisen und Kriegen zerbrechen, und Sozialstaatlichkeit schwach oder gar nicht ausgebildet ist. Wo weder der Staat, noch verwandtschaftliche oder tribale Loyalitäten den Einzelnen Sicherheiten in Notlagen verheißen, wird die Brüderlichkeitsethik religiöser Gemeinschaften zu einem begehrten Sozialkapital.
Die neuen Formen gemeinschaftlicher Religion aktivieren heilsgeschichtliche Handlungsentwürfe. In ihnen sind jedoch mehr Optionen angelegt, als Bezeichnungen wie Kult, Fundamentalismus oder Terrorismus erwarten lassen. Neben dem Aufruf zur Aktion stand immer gleichwertig das Lob der Geduld; neben einer kriegerischen Gesinnungsethik die Verantwortung für die soziale Gemeinschaft insgesamt. Die Geschichte des jüdischen Monotheismus liefert Beispiele dafür, dass Gläubige mit Gottlosen Verträge abschließen konnten, vorausgesetzt sie dienten dem Wohl der Gemeinschaft. Unbeirrt von diesen Optionen gegen Hamas Krieg zu führen und palästinensische Hilfsorganisationen, die über die Muslim-Brüder und damit Hamas Mittel in den besetzten Gebieten an Bedürftige verteilen lassen, zu kriminalisieren, lässt Feindschaft und Hass von Seiten der Palästinenser und der Muslime allgemein nur weiter eskalieren. Auch Zyklen der Gewalt sind Handlungen, die voraussetzungsreich sind und daher nicht notwendig. Die Beziehung von Religion und Gewalt ist weder unmöglich, noch zwingend notwendig; sie ist kontingent.
Der vorliegende Beitrag stützt sich auf das kürzlich im Verlag C.H. Beck erschienene Buch von Hans G. Kippenberg „Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung“.
Literatur
Assmann, Jan (1998): Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München.
Assmann, Jan (1987): Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München.
Hall, John R. (1987): Gone from the Promised Land: Jonestown in American Cultural History. New Brunswick & London.
Sullivan, Lawrence E. (1996): No longer the Messiah': US Federal Law Enforcement Views of Religion in Connection with the 1993 Siege of Mount Carmel near Waco, Texas, in: Numen 43 (1996), S.213-234.
Hall, John R.; Schuyler, Philip D.; Trinh, Sylvaine (2000): Apocalypse Observed: Religious Movements and Violence in North America, Europe and Japan. London & New York.
Lawrence, Bruce (Hrsg.) (2005): Messages to the World. The Statements of Osama bin Laden. Translated by James Howarth. London & New York 2005.
Netanyahu, Benjamin (Hrsg.) (1986): Terrorism. How the West Can Win. New York.
Oliver, Anne Marie & Steinberg, Paul F. (2005): The Road to Martyrs' Square. A Journey into the World of the Suicide Bomber. Oxford.
Rosenfeld, Jean E. (2000): A Brief History of Millennialism and Suggestions for a New Paradigm for Use in Critical Incidents, in: Wessinger, Catherine (Hrsg.): Millennialism, Persecution, and Violence. Historical Cases. Syracuse & New York, S.347-351.
Sprinzak, Ehud (1991): The Ascendance of Israel's Radical Right. New York.
Prof. Dr. Hans G. Kippenbergs ist Professor für Religionswissenschaften am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt.