W&F 2013/1

Renaissance der deutschen Geopolitik?

von Jürgen Oßenbrügge und Sören Scholvin

Der Begriff Geopolitik beschreibt allgemein das Zusammenspiel zwischen Geographie und Politik oder zwischen Raum und Macht. Konkreter wird der Begriff, wenn auf die mögliche Renaissance dieses Denkens eingegangen wird, denn geopolitische Denkfiguren und Legitimationen für politische Interessen sind in Deutschland bekanntlich bereits früher sehr wirkmächtig gewesen – und sie sind es heute wieder, wie im folgenden Beitrag ausgeführt wird.

Die »Glanzzeit« der Geopolitik in Deutschland ist zwischen den frühen 1920er Jahren und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu datieren. Wenn wir ihre damalige Außenwahrnehmung als Maßstab nehmen, kann man ihre Bedeutung kaum überschätzen: Die Westalliierten hielten die von Karl Haushofer nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaute geopolitische Schule für die intellektuelle Grundlage der nationalsozialistischen Expansionspolitik und betrachteten das von ihm geleitete Institut für Geopolitik in München als den wichtigsten »Thinktank« im Umfeld der Nationalsozialisten (Dodds 2007: S.23f). Eine genauere historische Analyse würde diesen Eindruck zwar relativieren, dennoch ist Geopolitik im Vorfeld und während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gleichzusetzen mit Großmachtpolitik »alter Art«, also mit Expansionismus, territorialer Kontrolle und Beherrschung inklusive Unterdrückung derjenigen, die nicht als Träger oder Unterstützer der Großmachtidee angesehen wurden.

Obgleich diese zu Recht diskreditierte Version der Geopolitik auch heute wieder eine Rolle spielt, bildet sie dennoch eine besondere (deutsche) Geschichte ab. Möchte man die Frage beantworten, inwieweit tatsächlich von einer Renaissance der deutschen Geopolitik gesprochen werden kann, so muss der Begriff deutlich breiter gefasst werden.

Geopolitik: ein schillernder Begriff

Jenseits des deutschen Sprachraums sind Analysen und Strategien auch nach dem Zweiten Weltkrieg relativ unvoreingenommen als Geopolitik bezeichnet worden. Unter dem Einfluss des »Kalten Krieges« ging es im internationalen Kontext um die Einfluss sphären der großen Machtblöcke und um die territoriale Kontrolle der nach Unabhängigkeit drängenden Staaten der »Dritten Welt«. Wichtige amerikanische Politikberater wie Zbigniew Brzeziñski und Henry Kissinger äußersten sich beispielsweise explizit geopolitisch und entwarfen Raumbilder über die vitalen Interessen der USA und des Westens.

Im deutschen Sprachraum verschwand der Begriff Geopolitik in der Nachkriegszeit dagegen aus Wissenschaft und Politikberatung. Erst nach der Auflösung der Blocklogik und angeregt durch die Wiedervereinigung nahmen Autoren auch hier wieder geopolitische Argumentationsmuster auf. Ausgangspunkt war ein vermeintliches »Machtvakuum«, das der Warschauer Pakt hinterlassen hätte und das nach einer räumlichen Neuordnung verlange. Auch regte die Wiedervereinigung Gedankenspiele über eine neue Rolle Deutschlands in der Weltpolitik an. Immer mehr Stimmen beziehen sich seitdem direkt und indirekt auf geopolitische Konzepte aus der Vergangenheit.

Daneben gibt es ein weiteres Spektrum von Beiträgen, das weniger darauf angelegt ist, Wege aufzuzeigen, wie ein besseres Raumverständnis Machtinteressen unterstützt. Vielmehr wird die Frage gestellt, ob naturräumliche Eigenschaften, Ressourcenbestände oder Bevölkerungsbewegungen einen relevanten Rahmen für Politik bilden. Gegenwärtig ist der Zugang zu Ölreserven ein typisches Beispiel für diese Form des Geodeterminismus. Aber auch andere Rohstoffe wie »seltene Erden« werden mit Blick auf Rohstoffsicherung untersucht. Weiterhin gibt es zahlreiche Spekulationen darüber, ob der Klimawandel eine veränderte Ressourcenverfügbarkeit sowie umweltbedingte Migrationsbewegungen und unkontrollierbare Verstädterungsprozesse befördert, somit möglicherweise Sicherheitsprobleme oder gar »Klimakriege« erzeugt.

Tab. 1: Typische Formen äußerer und innerer Geopolitik

Äußere Geopolitik Innere Geopolitik
Territorialitätsansprüche von Staaten einschließlich der Seerechtszonen Durchsetzungsformen und – probleme des staatlichen Gewaltmonopols im Staatsterritorium
Reichweite/Ausdehnung der Einflusszonen von Welt-, Groß- und Regionalmächten Sezessionistische und regionalistische Bewegungen, die die bestehende Staatlichkeit in Frage stellen
Zusammenschluss verschiedener Staaten zu regionalen Verbänden Konflikte zwischen Stammesgesellschaften, Clans oder Banden um die territoriale Kontrolle in Teilräumen eines Staates
Ausbreitung und räumliche Diffusion von politischen und religiösen Ideologien Nutzung natur- und kulturräumlicher Eigenschaften zur Legitimation von Machtansprüchen
Festlegung staatlicher Grenzen, die im Konflikt mit kultur- und naturräumlichen Gegebenheiten stehen Raumordnungs- und regionalpolitische Intervention des Staates
Sicherung der Rohstofflager und Handelswege (Geoökonomie) Wahlgeographische Gliederung demokratisch repräsentativer Staaten
nach Lacoste 1990, erweitert

Insgesamt besteht aber keine Klarheit über das Thema Geopolitik, die für die Konstitution einer wissenschaftlichen Perspektive hilfreich wäre. Lediglich die Dominanz räumlicher Konfigurationen für politische Prozesse kann als einendes Moment erkannt werden. Yves Lacoste, Gründungsmitglied und Herausgeber der Zeitschrift »Hérodote«, die seit 1976 die wichtigste Zeitschrift zum Thema darstellt, versteht unter Geopolitik zudem nicht nur naturräumliche und geostrategische, sondern auch die Vielzahl lokalspezifischer Einflussgrößen für Machtrivalitäten, Konflikte und Interaktionen zwischen globalen und lokalen Faktoren. Entscheidend ist für Lacoste die territoriale Perspektive (Lacoste 1990), die er als äußere und innere Geopolitik beschreibt (vgl. Tab. 1).

Auf eine umfassende Darstellung der damit verbundenen Themen muss an dieser Stelle verzichtet werden. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf zwei Aspekte: Als erstes zeigen wir die Argumentationsstränge auf, die sich mit der »alten« Geopolitik in der Tradition Haushofers in Verbindung bringen lassen und ein nationalistisch gefärbtes Großmachtdenken repräsentieren. Sodann gehen wir auf ressourcenpolitische Themen ein, die auf unterschiedlichen Wegen zu Empfehlungen für territoriale Kontrollregime führen und die wir in einen Zusammenhang mit dem »Krieg gegen den Terror« bringen. Dieses Vorgehen bildet sicher nicht das gesamte geopolitische Spektrum ab, soll jedoch zumindest die wichtigen Diskurse aufnehmen, die im deutschen Sprachraum zu finden sind.

Geopolitik als Machtpolitik des wiedervereinigten Deutschland

Die Renaissance der Geopolitik in Deutschland begann mit solchen Beiträgen, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung ein selbstbewussteres, an eigenen Interessen orientiertes Auftreten Deutschlands forderten. In Analogie zu den Arbeiten von Haushofer nach dem Ersten Weltkrieg wurden auch in den 1990er Jahren Argumente zur Begründung einer veränderten außenpolitischen Praxis Deutschlands mit dem Ziel bemüht, geopolitisches Wissen als Fundament der so genannten vitalen Interessen einzusetzen. Beispielsweise legte der Historiker und Berater der Kohl-Regierung, Hans-Peter Schwarz, 1994 ein Werk mit dem Titel »Die Zentralmacht Europas« vor, in dem er aus Deutschlands Lage, Größe und ökonomischer und kultureller Potenz ein „natürliches Streben“ nach einem Großmachtstatus ableitete (Schwarz 1994, ähnlich Schöllgen 1993). Auch Arnulf Baring war der Auffassung, Deutschland müsse über die „provinziell verengte Perspektive“ der Bonner Republik hinauswachsen. Wie vor 1945 falle dem wiedervereinigten Deutschland die „Aufgabe“ zu, sich „als relative Vormacht Europas zu etablieren“ (Baring 1992, S.29-36). Der Unterschied zur alten Geopolitik besteht bei diesen Autoren lediglich in der Aufgabe der Autarkieoption. So solle durch die feste Einbindung Deutschlands in europäische und transatlantische Bündnissysteme den etwaigen Vorbehalten anderer gegen den Machtzuwachs Deutschlands entgegengewirkt werden (Schöllgen 1993, S.127-133).1

Derartige Positionen sind nicht in Unkenntnis der Konzepte und Wirkungsgeschichte der alten Geopolitik entstanden. Eher ist vom Gegenteil auszugehen, denn mit Hans-Adolf Jacobsen (1994, S.39-40) fordert einer der besten Kenner des Lebens und des Werkes Haushofers, dass seitens politischer Entscheidungsträger die „unverkennbaren Herausforderungen eines jeden Staates durch seine geographische Umwelt“ und die „Wechselwirkungen zwischen politischer Lebensform und geographischem Milieu“ berücksichtigt werden müssten. Wie Haushofer nach Ende des Ersten Weltkrieges sah auch Jacobsen (ebd., S.40) Geopolitik als wissenschaftliche Politikberatung an, die sich auf geographische Konstanten wie beispielsweise die Mittellage Deutschlands bezieht.

Näher an der völkischen Tradition deutscher Geopolitik stehen Beiträge, die auch den „Beginn einer an deutschen Interessen ausgerichteten Außenpolitik“ einfordern, diese jedoch mit Hinweisen auf „Dichteräume“ und ein „deutsches Psychogramm“ verbinden und damit direkt an die pseudowissenschaftliche Geopolitik der Zwischenkriegszeit anknüpfen (Detlefs 1998). Auch Felix Buck betonte den Wert geopolitischer Kenntnisse und Standpunkte, um – geleitet von deutschen Interessenlagen – „die Gestaltung, die Beeinflussung, vornehmlich aber die Beherrschung von Räumen“ umzusetzen (Buck 1996, S.11). Zudem sei geopolitisches Wissen notwendig, um dem deutschen Volk „ein umfassendes und wirklichkeitsgerechtes Weltbild“ zu vermitteln, welches „unerlässliche Voraussetzung für die erfolgreiche Gestaltung“ der Zukunft Deutschlands sei (Buck 1996, S.69-70).

Als Zwischenbilanz sind zwei Gesichtspunkte nach unserer Meinung bedeutungsvoll: Zum einen wird seit einigen Jahren eine Neubelebung alter geopolitischer Denkstile sichtbar. Sie beschäftigen sich wie in der Entstehungsphase der deutschen Geopolitik in den 1920er Jahren mit dem Verhältnis von Macht und Raum in Europa vor dem Hintergrund des aufgelösten Ost-West-Gegensatzes und der europäischen Integration. Haushofers damalige Motivation war revisionistisch, geprägt durch deutsche Territorialverluste im Versailler Vertrag. Die modernen Formen sehen durch die Wiedervereinigung Deutschlands neue Möglichkeitsräume für territoriale Machtspiele, deren Nutzung empfohlen wird. In dieser Form dürfte sich auch in Zukunft ein machtorientierter Geopolitikdiskurs präsentieren und ein Streben nach einer eindeutigen Führungsrolle in Europa ausdrücken.

Zum anderen sollten die bisherigen geopolitischen Revitalisierungsversuche nicht überschätzt werden. Bislang taugt der Hinweis auf vermeintliche geopolitische Logiken nicht unbedingt, um Politiker und die politische Öffentlichkeit zu bewegen. Angesichts zunehmender globaler Vernetzungen und darin liegender Probleme scheint ein territoriales, primär auf das Gewicht und den Einflussbereich eines Nationalstaats ausgelegtes Machtkonzept nur ansatzweise zu überzeugen, um wirksam politische Meinungen und Handlungsweisen zu strukturieren. So zeigt eine Auszählung des Begriffs als Substantiv oder Adjektiv in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen zwar kontinuierlichen, aber keineswegs häufigen Gebrauch (Abb. 1). Es kommt hinzu, dass die Verwendung in den 1990er Jahren sich oft auf die Besprechung der oben genannten Literatur bezog, während in den letzten zehn Jahren zunehmend geopolitische Aspekte der Mensch-Umwelt-Beziehungen in den Vordergrund getreten sind, auf die wir im Folgenden eingehen.

Abb. 1: Der Begriff Geopolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Der Begriff Geopolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

(Nennungen pro Jahr)

Geopolitik und globale Kontrolle

Auch wenn der Geopolitik »alter Art« derzeit keine besondere Rolle zuzuschreiben ist, bildeten sich wirkmächtige »neue« Formen heraus. Mit der Bezeichnung »ungoverned territories« werden solche Räume bezeichnet, die sich einer staatlichen Kontrolle entziehen und damit ein Bedrohungspotential bilden. In großräumiger Perspektive hat Thomas Barnett bereits 2003 von der „nichtintegrierten Lücke“ gesprochen, die sich aus zusammenhängenden Regionen mit schwachen, zerfallenen Staaten und gravierenden Entwicklungsproblemen zusammensetzt (Barnett 2003). Dieser Raum wäre ein Rückzugs- und Operationsgebiet für terroristische Gruppen und daher eine latente Gefahr für den Westen. Der Krieg gegen den Terror müsse daher mit Anstrengungen verbunden werden, diese Teilräume unter Kontrolle zu bringen. Einige Jahre später legte die Rand Corporation in einer Studie für die US-Armee eine vertiefte Auseinandersetzung zum Thema »unregierbare Territorien« vor (Rabasa u.a. 2007; Schetter 2010). Danach liegen die »hot spots« der »nichtintegrierten Lücke« in schwer zugänglichen Gebieten (Gebirge, Wüsten, tropische Wälder), deren Erreichbarkeit durch große Distanzen und fehlende Infrastruktur erschwert wird. Inzwischen dehnt sich dieser Diskurs auch auf Megastädte aus, die als unregierbar gelten.

Die damit angedeutete neue geopolitische Sicherheitsdebatte wird seit einiger Zeit durch einen weiteren Faktor angereichert: den zunehmenden Bevölkerungs- und Umweltstress, der zu gewaltsamen Konflikten und umweltbedingter Migration führen könne. Die unkontrollierbaren Räume erweitern sich danach durch natur- und sozialräumliche Transformationsprozesse. Damit kehren wir zum deutschsprachigen geopolitischen Diskurs zurück, den wir am Beispiel des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2007) illustrieren.

Aufbauend auf ältere Arbeiten zum Syndrom-Ansatz wird in einem aufwendigen Gutachten das Argument entwickelt, dass der Klimawandel ein Auslöser für gesellschaftliche Destabilisierung und zahlreiche Konflikte sei. Nahrungsmittelknappheiten, Degradierung von Süßwasserreserven, der Meeresspiegelanstieg, Sturmgefahren sowie die umweltbedingte Migration stünden nicht nur für Krankheitsbilder des Erdsystems (Syndrome), sondern indizierten mögliche Konfliktkonstellationen. Sie erzeugten regionale Krisen und gesellschaftliche Destabilisierung, führten zu politischen Unruhen und beinhalteten einen weiteren staatlichen Kontrollverlust über das jeweilige Territorium. So mutieren die als »Sahel-Syndrom« angesprochenen Prozesse der Desertifikation (durch menschliche Nutzungsformen verstärktes Wachstum der Wüstenbildung) im Kontext der Klimadebatte und vor dem Hintergrund der Konflikte u.a. im Dafur, in Mali oder im Norden Kenias zu ersten Klimakriegen.

Folgt man dem WBGU und anderen sicherheitspolitisch motivierten Klimaforschern, dann wächst derzeit die desintegrierte Lücke und es entstehen neue Potentiale, die Gewaltformen auslösen oder verstärken. Eine besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang den »Klimaflüchtlingen« beigemessen, deren Größenordnung in mehrstelliger Millionenhöhe geschätzt wird. Das verstärkte Aufkommen dieser Migrationsform wird, so das Argument, die Land-Stadt-Wanderung beschleunigen und die bestehenden Probleme in den sehr schnell wachsenden Städten verstärken. Es wundert daher nicht, dass hier die neuen Orte der Unregier- und Unkontrollierbarkeit vermutet werden (Liotta, Miskell 2012). Auch könnten Klimaflüchtlinge große internationale Migrationsströme verstärken und ein zunehmendes Sicherheitsproblem für den globalen Norden darstellen.

Dieses bereits beängstigende Szenario wird durch eine anders gelagerte Perspektive auf Ressourcen weiter befeuert. Weltweit steigt nach wie vor die Nachfrage nach mineralischen, energetischen und biotischen Ressourcen. Die sich verstärkenden Konkurrenzbeziehungen auf den Rohstoffmärkten, gekoppelt mit neuen ressourcenbezogenen Sicherungsstrategien sowie der Erfahrung, dass Ressourcenextraktion häufig mit gewaltförmigen Auseinandersetzungen verbunden ist, verstärkt die Forderungen nach territorialer Kontrolle solcher Rohstoffgebiete, die strategische Bedeutung für die eigene Wirtschaft aufweisen. Dabei spielen Erdöl, einige mineralische Rohstoffe und landwirtschaftliche Nutzflächen derzeit die größte Rolle und prägen geopolitische Debatten der letzten Jahre in den USA, in Europa und in den Schwellenländern (Oßenbrügge 2013).

Zusammenfassend lassen sich also zwei Prozesse unterscheiden, die den Umweltwandel als Sicherheitsfrage erscheinen lassen: Einerseits werden noch vorhandene Ressourcenvorkommen derzeit durch eine steigende Nachfrage schnell abgebaut, was neben höheren Rohstoffpreisen auch zu einem Wettlauf um die verbliebenen Lagerstätten führt. Andererseits können Veränderungen im Klimasystem bei bereits knapper Verfügbarkeit von Ressourcen der dort lebenden Bevölkerung die Lebensgrundlage entziehen und als Folge Marginalisierung, Konflikte und Migration auslösen. Beide Prozesse werden in geopolitischen Debatten als »Krieg um Rohstoffe« oder »Klimakriege« aufgeladen.

Allerdings sind »harte« Belege für ein vermehrtes Auftreten solcher Umweltkonflikte bisher rar und umstritten. Daher wird in der Friedens- und Konfliktforschung auch vom Vorgang der „securitization“ gesprochen (Brzoska, Oels 2011/12). Danach würde der Verweis auf mögliche gesellschaftliche Destabilisierungen, die auf demographische und ökologische Transformationen bezogen werden, auch eine Rechtfertigung für militärische Einsätze darstellen. Sie beziehen sich auf die Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme territorialer Kontrollfunktionen, um die Orte und Räume, die als »hotspots« der Konfliktkonstellationen erkannt worden sind, zu sichern. Neben der Eindämmung möglicher ressourcenbezogener Konflikte geht es auch um die Rechtfertigung von Maßnahmen zur räumlichen Abschottung unerwünschter Migrationsformen.

Fazit

Der vorgelegte Beitrag gibt Hinweise auf die verschiedenen Wege, die eine Auffassung bestärken, es gäbe eine Renaissance der Geopolitik. Angesichts der Geschichte der Geopolitik sollte aber ein abschließendes Urteil sorgfältig zwischen einer ungebrochenen Wiederaufnahme des geopolitischen Denkens und modernisierten Formen unterscheiden. Eine Renaissance der Version einer Geopolitik, die Karl Haushofer in Deutschland begründete, ist nur ansatzweise zu erkennen. Auch wenn diese neueren Arbeiten kritisch kommentiert und eingeordnet werden müssen, ist eine Bedeutungszunahme nicht zu befürchten, da diese Art geopolitischer Argumentation zu unterkomplex ausgelegt ist. Angesichts heutiger globaler Verflechtungen überzeugen Konzepte nicht mehr, die den Nationalstaat als isoliert handelnden Akteur konzipieren und seine Macht mit dem Vermögen zur territorialen Kontrolle gleichsetzen. Selbst die USA haben gegenwärtig Schwierigkeiten, ihre Hegemonialstellung überall und zu jeder Zeit durchzusetzen. Zwar verweist das aktuell diskutierte deutsche Konzept der „Gestaltungsmächte“ (Kappel 2012) auf die Möglichkeit, gestufte hierarchische Systeme zu konzipieren, um eine Welt-Raumordnung umzusetzen. Jedoch würde so das Streben nach territorialer Kontrolle nur noch indirekt vermittelt, es wäre multilateral zu verhandeln und damit schwieriger durchsetzbar.

Wichtiger erscheint uns derzeit die vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit ressourcenbezogenen Zukunftsfragen zu sein, die durch zunehmende Nachfrage nach Rohstoffen oder den Klimawandel gesteuert werden. In diesem Zusammenhang werden als geopolitisch einzustufende Ansätze empfohlen, die auf Rohstoffsicherung und Eindämmung bestehender oder potentieller Ressourcenkonflikte abzielen. In der Summe regen diese Formen des Umgangs mit Ressourcen allerdings eine verstärkte Suche nach territorialen Kontrollregimen an, denen ein neoimperialer Charakter zuzuschreiben ist. Damit wird gleichzeitig der Bedarf nach einer »kritischen Geopolitik« unterstrichen, um territoriale und ressourcenbezogene Machtansprüche von Staaten und Gewaltakteuren auf ihre Motivationsgrundlage und strukturelle Einbettung sichtbar und kritikfähig zu machen.

Anmerkungen

1) Dieser Diskurs wurde auch durch die Bundeszentrale für Politische Bildung verbreitet, die beispielsweise Heinz Brills »Geopolitik heute« anpries.

Literatur

Baring, Arnulf (1992): Eine neue deutsche Interessenlage? Stuttgart.

Barnett, Thomas (2003): Die neue Weltkarte des Pentagon. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2003, S.554-564.

Brill, Heinz (1994): Geopolitik heute: Deutschlands Chance? Frankfurt.

Brzoska, Michael, Oels, Angela (2011/12): »Versicherheitlichung« des Klimawandels? Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung und ihre politischen Folgen. In: Brzoska u.a. (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte. Baden-Baden (AFK Friedensschriften), S.27-50.

Brzezinski, Zbigniew (1997): The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives. New York.

Buck, Felix (1996): Geopolitik 2000: Weltordnung im Wandel. Frankfurt.

Detlefs, Gerhard (1998): Deutschlands Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung: Geopolitik für das 21. Jahrhundert. Tübingen.

Dodds, Klaus (2007): Geopolitics. A very short introduction. Oxford.

Jacobsen, Hans-Adolf (1994): Geopolitik im Denken und Handeln deutscher Führungseliten: Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema. In: WeltTrend 4/1994, S.39-46.

Kappel, Robert (2012): Deutschland und die neuen Gestaltungsmächte. GIGA Focus, 2-2012.

Lacoste, Yves (1990): Geographie und politisches Handeln. Perspektiven einer neuen Geopolitik. Berlin.

Liotta, Peter, Miskell, James (2012): The Real Population Bomb. Megacities, Global Security & the Map of the Future. Washington.

Oßenbrügge, Jürgen (2013): Kontinuität der Ressourcenkonflikte und kommende Klimakriege? In: B. Korf u.a. (Hrsg.): Geographien der Gewalt. Stuttgart (im Erscheinen).

Rabasa u.a. (2007): Ungoverned territories: understanding and reducing terrorism risks. Santa Monica.

Schetter, Georg (2010): »Ungoverned territories«: eine konzeptuelle Innovation im »War on Terror«. In: Geogr. Helv. 65 (3), S.181-188.

Schöllgen, Gregor (1993): Angst vor der Macht: Die Deutschen und ihre Außenpolitik. Berlin.

Schwarz, Hans-Peter (1994): Die Zentralmacht Europas: Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Berlin.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin, Heidelberg.

Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge arbeitet im Fachgebiet Politische Geographie und Klimaforschung an der Universität Hamburg. Sören Scholvin ist Doktorand der »Hamburg International Graduate School for the Study of Regional Powers« am German Institute of Global and Area Studies (GIGA).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/1 Geopolitik, Seite 15–18