W&F 2024/2

Es stand in W&F


Rechte Radikalisierung

Nach Anschlägen auf Politiker*innen und Wahlkampfhelfer*innen ist die Aufmerksamkeit auf die Radikalisierung junger Täter*innen hoch. In Heft 1/2022 ordnete Fabian Virchow rechte Gewaltradikalisierung ein und kritisierte die häufig für diese Kontexte verwendete Erklärung vom »Einzeltäter«. Er zeigte, dass es keine klare psychologischen Erkenntnisse über gesteigerte Radikalisierungsanfälligkeit gibt, dass jedoch gesellschaftliche Polarisierung und die Vernetzung von späteren Täter*innen in entsprechenden Foren wesentliche Erklärungsfaktoren für ihr Handeln sind. Worte werden zu Taten.

Strukturelle Gewalt ahnden

Nicht selten wurde in den letzten Wochen auch die strafrechtliche Verfolgung von Hamas und israelischer Armee für ihre Taten im Krieg in Gaza diskutiert. In Heft 2/2021 erörterte Felix Boor die dafür maßgeblichen völkerrechtlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten für die Ahndung struktureller Gewalthandlungen (Apartheid-Systeme, Aushungern, u.a.) durch die internationale Strafgerichtsbarkeit – und die zu erwartenden Schwierigkeiten mit einer entsprechenden Verfolgung.

Frau, Leben, Freiheit

Es ist ruhig geworden um den iranischen Widerstand gegen das autoritäre Regime – auch die lautstarke Unterstützung durch die hiesige Politik ist schnell abgeebbt. Bei mittlerweile wohl über 100 Hinrichtungen in 2024 sind die Mitteilungen über weitere Hinrichtungen nur noch Randnotizen. Im Gastkommentar in Heft 1/2023 (und in der erweiterten Blogfassung) kritisierte Damon ­Taleghani das »Hijacking einer Revolution« durch liberale Kräfte, die den Interessen der Demonstrierenden zuwiderlaufen. Er forderte: „Gerade weil wir gewisse Freiheitsrechte und Ressourcen zur Verfügung haben, tragen wir auch die Verantwortung, uns kollektiv mit den geopolitischen Interessen der Staaten auseinanderzusetzen, in denen wir leben […].“ Gerade jetzt wäre zu fragen: Wie kann dem Backlash aktiv begegnet werden?

Berliner Notizen

Anmerkungen aus dem Politikbetrieb


Zivilschutzdebatte: Kriegstüchtigkeit auf allen Ebenen

Die »Kriegstüchtigkeit« soll auf allen Ebenen sichtbar werden – so zeigt die aufgeregte Debatte um den Zivilschutz. Noch im November 2023 wurde eine Petition durch den Petitionsausschuss weitergeleitet, die die Bundesregierung dazu aufforderte, den Zivilschutz voranzutreiben und Bunker wieder in Betrieb zu nehmen. Im Februar legte die Bundesregierung den »Bericht zur Risikoanalyse für den Zivilschutz 2023« (20/10476) vor, in dem sie postulierte, dass auch „die zivile Verteidigung als gleichwertiger Teil der Gesamtverteidigung […] einem beschleunigten Weiterentwicklungsprozess [unterliegt].“ Durch das Szenario wird die Vollintegration ziviler Verteidigung in die militärischen Verteidigungspraktiken festgeschrieben. Von einer ähnlichen Bedrohungsperzeption getrieben scheint das neue Forschungsförderungsprogramm der Bundesregierung zur zivilen Sicherheit (20/9800), das bis 2027 nach Maßgabe eines „Allgefahrenansatzes“ Forschung stärken möchte, die einer so verstandenen Resilienz von Staat und Gesellschaft zuarbeitet. In eine wiederum ähnliche Richtung zeigten die Beratungen des Gesundheitsausschusses im April 2024, der sich tatsächlich mit der »Ertüchtigung des Gesundheitssystems im Kriegsfall« beschäftigte.

Bundeswehr: Wunschkonzert und zunehmend tiefere »Integration«

Die Bundeswehr bleibt eine Einsatzarmee: Sie beteiligt sich nach Beschluss des Bundestages Ende April weiterhin an der europäischen EUNAVFOR Med Irini, die als Embargo-Operation gegen libysche Waffenimporte eingesetzt wurde (und seit 2020 drei Verstöße gefunden hat). Ebenso beteiligt sich die deutsche Marine seit Ende Februar am EUNAVFOR Einsatz zum Schutz der internationalen Handelsflotten bei der Durchfahrt durch das Rote Meer. Beide Missionen bzw. Missionsverlängerungen sind wie üblich auf ein Jahr begrenzt und kosten zusammen etwas mehr als 90 Mio. €.

Währenddessen beklagt die Wehrbeauftragte Eva Högl auch in ihrem Wehrbericht 2023, dass substanzielle Verbesserungen bei Personal, Material und Infrastruktur weiter auf sich warten ließen, obwohl die persönliche Ausrüstung der Soldat*innen sich derart verbessert haben soll, dass nunmehr der Mangel an Spinden das Problem sei. Dennoch bleiben wesentliche Veränderungen im Beschaffungswesen immer noch „abzuwarten“ – trotz eines um 8 Mrd. € höheren Etats der Bundeswehr. Das Rezept der Wehrbeauftragten: Ein „beständig steigender Wehretat“, denn dieser „wäre – einhergehend mit langfristigen Abnahmezusagen – Signal und Anreiz für die Industrie“. Die Probleme sollen mit immer mehr Geld gelöst werden.

Auch der Personal»mangel« scheint nicht wesentlich verändert. Kurz: Es tut sich wenig, trotz markiger Worte und großer Pläne des Verteidigungsministers. Lösen sollen es nach Ansicht der Wehrbeauftragten ein verstärkter Einsatz von Jugendoffizieren an Schulen, ein gezieltes Anwerben von Frauen und das vom Bundespräsidenten vorgeschlagene (aber verfassungsrechtlich problematische) »Gesellschaftsjahr«. Einen weiteren Schritt zur so vertieften »Integration« der Bundeswehr ging der Bundestag im April 2024 mit der offiziellen Einführung eines Veteranentags (15. Juni).

Afghanistan: Deutliche Differenzen

Im Untersuchungsausschuss zu Afghanistan wurde in den Befragungen deutlich, dass die dramatisch unterschiedlichen Lagebilder bei den jeweils fachlich betrauten Personen in Kabul, Berlin und Islamabad bis kurz vor dem Zusammenbruch der nationalen afghanischen Regierung im Sommer 2021 mit zu den Herausforderungen der Evakuation und den geradezu willkürlichen Entscheidungen am Flughafen führten, wer mitgenommen werden sollte und wer zurückgewiesen werden würde. Dass gerade die warnenden Einschätzungen des stellvertretenden Botschafters nicht gehört wurden, lässt sich wohl mit den „vielfältigen Interessen“ der Bundesregierung erklären, die der ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Markus Potzel, unverblümt zugab: So habe das Bundesinnenministerium noch kurz zuvor Rückführungen durchführen wollen. „Es war Wahlkampf in Deutschland“, so Potzel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/2 Fokus Mittelmeer, Seite 4