W&F 2006/2

Rückt Lateinamerika nach links?

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Argentinien 1978: Fußballweltmeisterschaft. Seit zwei Jahren regiert eine Militärjunta. Brigadegeneral Merlo und ein Militärstab haben das sportliche Großereignis vorbereitet; die Militärs »sichern« die Spiele und während im Stadion von Buenos Aires die Menschen jubeln, werden im Schutz der Lärmkulisse direkt nebenan in der Mechanikerschule des Militärs Menschen gefoltert und erschossen. Als die argentinische Junta 1984 abtreten muss, stehen 30.000 Verschwundene und Zehntausende Gefolterte auf ihrem Konto.

Chile 1973: In den ersten Tagen der Pinochet-Diktatur wird das Fußballstadion in Santiago de Chile zum Konzentrationslager. Viele werden es nicht mehr lebend verlassen. Tausende werden unter Pinochet ermordet. Unter der neuen chilenischen Präsidentin, Michelle Bachelet, wurden erst jetzt – 2006 – die Akten von 28.000 Gefolterten der Pinochet-Diktatur veröffentlicht.

Argentinien und Chile waren nicht die einzigen Länder Lateinamerikas, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Gewalt diktatorischer Regime standen. Im Gegenteil: Brasilien, Paraguay, Uruguay, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador, Haiti usw., kaum ein Land Lateinamerikas, dem das Militär – vielfach gestützt durch die USA – nicht seinen Stiefel ins Gesicht getreten hat.

In den letzten drei Jahrzehnten hat sich diese Situation grundlegend geändert: Alle Militärdiktaturen wurden abgelöst – in der Regel – durch neoliberale Systeme. Inzwischen ist auch der Neoliberalismus weitgehend in Verruf geraten, die Regierungen der größten und ökonomisch stärksten Länder Lateinamerikas betonen antineoliberale Positionen, bezeichnen sich selbst als Linke- oder Mitte-Links-Regierungen. Im Laufe des Jahres könnte sich diese »Linkstendenz« noch verstärken, denn in Peru und Mexiko stehen Wahlen an und es sieht so aus, als ob sich auch hier Präsidenten durchsetzten, die im Vergleich zu ihren Vorgängern links sind.

Wir erleben einen Veränderungsprozess. Auf der positiven Seite steht bisher:

die Beseitigung der Terrorregime und die Wiedererlangung demokratischer Rechte,

die Lösung einiger Länder aus der engen Anbindung an die USA, die die vorhergehenden Dekaden dominierte,

der Akzeptanzverlust des neoliberalen Herrschaftsmodells und damit die Chance für Alternativen, die zur Verbesserung der Lebenssituation der Verarmten führen,

die Reaktivierung alter sozialer Bewegungen und die Entstehung neuer sozialer Bewegungen und Protestformen.

Positiv ist sicher auch, dass in mehreren Ländern, wie z.B. Chile und Argentinien, verstärkt an der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärjunta gearbeitet wird und mit der Verfolgung der Täter begonnen wurde.

Das Erreichte darf also nicht unterschätzt werden – und doch sagt es noch nichts aus über die weitere gesellschaftliche Entwicklung.

Die Politik der »linken« Regierungen in den verschiedenen Ländern und ihre Verankerung in der Bevölkerung – d.h. auch ihre Stabilität – sind sehr unterschiedlich.

Die Regierungen in Brasilien und Chile können sich auf Parteien mit einer langen Tradition stützen, sie haben enge Verbindungen zu den alten sozialen Bewegungen und in die Mittelschichten hinein. Das hat den Vorteil, dass z.B. Lula in Brasilien – trotz zahlreicher nicht eingelöster Wahlversprechen – auf eine Wiederwahl hoffen kann.

Chaves in Venezuela und Morales in Bolivien können auf eine solche stabile Basis nicht zurückgreifen. Als charismatische Persönlichkeiten setzen sie stark auf ihren Einfluss unter den Marginalisierten, und sie mobilisieren die Massen auch schon mal mit nationalistischen Tönen. Haben sie keine sichtbaren Erfolge – z.B. in der Armutsbekämpfung – besteht die Gefahr, dass ihre Basis auseinander bricht und sie von der politischen Bühne verschwinden.

Ohne Zweifel: Die letzten Jahrzehnte betrachtet, ist Lateinamerika nach links gerückt! Und es wäre schon ein Fortschritt, wenn sich die Mitte-Links-Regierungen stabilisieren könnten, wenn sie schnell zumindest einen Teil der Erwartungen einlösen würden, die die Wähler in sie haben, und wenn sie auch langfristig eine konsequente Politik für ihre soziale Basis machten, d.h. wenn sie sich nicht nur in Worten sondern auch im ökonomischen Handeln vom neoliberalen Modell lösen würden. Eine engere Kooperation untereinander könnte dabei helfen, gegenüber den USA und den internationalen Finanzinstitutionen die eigenen Interessen durchzusetzen.

Werden die sozialen Bewegungen – die alten und die neuen – in diesen politischen Prozess einbezogen und gelingt es, demokratische Strukturen zu festigen – auch mit Hilfe der Aufarbeitung der Vergangenheit, könnten die Voraussetzungen entstehen für die Entwicklung eines sozialen, demokratischen und zukunftsfähigen Gesellschaftssystems.

Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/2 Lateinamerika im Umbruch?, Seite