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W&F 1986/5

Rüstung oder Überleben. Frieden mit der Natur als Voraussetzung für die Existenz von Zukunft

von Jürgen Schneider

Täglich müßte eigentlich die folgende Meldung auf den Titelseiten der Tageszeitungen stehen: „Heute wieder 300 vollbesetzte Jumbo Jets abgestürzt! Niemand hat überlebt. 30 % der Insassen waren Kinder.“ In jedem Jahr sterben über 40 Millionen Menschen an Hunger. Das sind täglich 40.000 Kinder und 80.000 Erwachsene, die jämmerlich krepieren während wir unser durchaus problematisches prosperierendes Wirtschaftswachstum bejubeln. Jede Minute stirbt auf der Welt 1 Kind an Hunger, während jede Minute 5,3 Millionen DM für die Rüstung ausgegeben werden. 1979, im UNICEF-Jahr des Kindes, hatte das Weltkinderhilfswerk für Hilfmaßnahmen soviel zur Verfügung, wie die Welt in 2 Stunden für die Rüstung ausgibt. Weltweit werden 50 mal mehr Mittel für die Ausbildung und Ausrüstung eines Soldaten aufgewendet als für die Ausbildung schulpflichtiger Kinder (SIVARD 1983). Es muß allerdings erklärt werden, ob der Hungertod von Menschen auf der Welt unausweichliches Schicksal ist oder ob dafür bestimmte Strukturen verantwortlich sind, an denen wir aktiv beteiligt sind und daher mitverantwortlich.

Eine nächste Schlagzeile müßte lauten: „Heute wieder 12 Tier- und Pflanzenarten ausgestorben.“ Um 1900 starb jedes Jahr 1 Tier- oder Pflanzenart aus, heute sind es 12 Arten pro Tag und am Ende dieses Jahrhunderts wird es - wenn wir so weitermachen - jede Stunde 1 Tier- oder Pflanzenart sein, die völlig und unwiederbringlich ausgerottet sein wird. Am Ende dieses Jahrhunderts wird dann etwa bis aller Pflanzen und Tiere vernichtet sein, das sind insgesamt etwa 2 Millionen Arten. Ein Massensterben, ein Genozid dieser Größenordnung und dieser Geschwindigkeit ist ohne Beispiel in der mehr als 4 Milliarden Jahre währenden Geschichte des Lebens auf der Erde.

Wir haben als Menschen das Tempo der Evolution nach 4 Milliarden Jahren der langsamen Entwicklung auf ein revolutionäres Tempo gesteigert. Die letzten 45 Jahre des Atomzeitalters sind nur ein hundertmillionstel der Erdgeschichte. Aber wir haben es geschafft, Natur schneller zu zerstören, als sie sich regenerieren kann. Wir zerstören z.B. unsere Böden, die in den letzten 10.000 Jahren entstanden sind in rapidem Tempo. Bis zum Jahr 2000 werden ca. 18 % der Ackerböden erodiert sein.

Wissenschaft und Technik sind zur Grundlage geworden nicht nur von Erkenntnis, sondern auch von Naturbemächtigung und Naturzerstörung bis hin zur Möglichkeit der Vernichtung des Lebens in einem letzten totalen Krieg. Der Verlust von Tier- und Pflanzenarten bei gleichzeitigem exponentiellem Bevölkerungswachstum, die zunehmende Entwaldung, die fortschreitende Erosion, die Wüstenbildung, der Verlust von Anbau- und Wohnfläche, immer weniger reines Trinkwasser, die Verschmutzung der Atmosphäre und der Hydrosphäre, die Erschöpfung der ungleich verteilten natürlichen Ressourcen, menschliches Leid, Hunger und Elend wachsen. Die Erde wird von uns geplündert, Luft und Boden werden verseucht, Wasser vergiftet, Pflanzen und Tiere werden ausgerottet. Die Zerstörung unseres Planeten hat lebensbedrohende Dimensionen angenommen. Gegen diese Erkenntnis hilft keine Beschönigung.

Der lautlose Tod, das stille Sterben von Pflanzen und Tieren findet statt, ohne daß die Mehrheit der Menschen davon angemessen Notiz nimmt. Wir befinden uns - wie H. v. Ditfurth sagt (Ditfurth 1985) - in der Schlußprüfung der Evolution. Die nächsten Jahrzehnte werden darüber entscheiden, ob wir diese Prüfung bestehen oder nicht.

Zur globalen Situation

Die Studie „Global 2000 - Der Bericht an den Präsidenten“ (Global 2000, 1980) enthält zu den voraussichtlichen Veränderungen der Bevölkerung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der Erde bis zum Ende dieses Jahrhunderts die heute wohl eindrucksvollste der Gesamtproblematik und zugleich das umfangreichste Datenmaterial dazu. Der Bericht zeigt unmißverständlich, was geschehen könnte, wenn wir keine Konsequenzen aus den Ergebnissen ziehen. Die Vertreter des US-Außenministeriums und des Council of Environment Quality schrieben im Vorwort an den damaligen Präsidenten Carter: „Die Schlußfolgerungen, zu denen wir gelangt sind, sind beunruhigend. Sie deuten bis zum Jahr 2000 auf ein Potential globaler Probleme von alarmierendem Ausmaß. Der Druck auf Umwelt und Ressourcen sowie der Bevölkerungsdruck verstärken sich und werden die Qualität menschlichen Lebens auf diesem Planeten zunehmend beeinflussen. - Angesichts der Dringlichkeit, Reichweite und Komplexität der vor uns liegenden Herausforderungen bleiben die jetzt auf der ganzen Welt in Gang gekommenen Anstrengungen allerdings weit hinter dem zurück, was erforderlich ist. Es muß eine neue Ära der globalen Zusammenarbeit und der gegenseitigen Verpflichtung beginnen, wie sie in der Geschichte ohne Beispiel ist.“

Hatte dieser Bericht über die bedrohliche globale Situation Konsequenzen? Präsident Carter hatte seine „brain power“ mit den Untersuchungen zu dieser Studie Global 2000 beauftragt, um aus den Ergebnissen politische Konsequenzen ziehen zu können. Präsident Reagan hat gleich nach seinem Amtsantritt alle 50 hauptamtlichen Mitarbeiter innerhalb eines Monats entlassen und die Studie eingestampft. Die Folgestudie „Global Future - It´s time to act“ (Global Future 1981) wurde gar nicht mehr veröffentlicht. Reagan´s „brain power“ soll SDI aufbauen und weitere immer raffiniertere und kostspieligere Waffensysteme erfinden. Angesichts der in Global 2000 geschilderten Probleme und Bedrohungen der Biosphäre und des Lebens halte ich ein solches Verhalten für schlicht ignorant und verantwortungslos.

Eine internationale Behandlung der Ergebnisse dieser Studie ist bis heute nicht erfolgt. Oder hat jemand einmal etwas davon gehört, daß diese real existierenden und bedrohlichen Probleme eine angemessene Rolle auf den mit so großem Pomp aufgezogenen Weltwirtschaftsgipfeln gespielt hätten? Im Gegenteil: Die Studie Global 2000 wird abgetan,. diffamiert, beschönigt, verdrängt. Der Deutsche Bundestag hat im Oktober 1982 eine 4 stündige Debatte über Global 2000 abgehalten. Der Forschungsminister warnte vor einer Resignation vor den Problemen. Dabei blieb es dann auch. Es gab keine Beschlüsse, keine Programme, kein Aufschrecken, keine wirklich durchgreifenden Konsequenzen, höchstens ein paar - gemessen am Ganzen - halbherzige Symptombekämpfungen in Form von Teilbereiche des Systems erfassenden Umweltgesetzen. Die jetzige US-Regierung hat die internationale Kooperation auf diesem Problemfeld abgeblasen. Die übrige Welt der Industrienationen schließt sich dem Verschweigen an. In Ost und West erleben wir auf diesem Feld eine offizielle Vernebelungsstrategie. Staats- und privatkapitalistische Systeme verhalten sich in diesem Punkt gleichermaßen ignorant.

Wenn sich die weltweit heute festzustellenden Tendenzen und Entwicklungen der Umweltzerstörung, des Hungers und der militärischen Vergeudung von lebensnotwendigen Ressourcen nicht innerhalb kurzer Zeit grundlegend ändert, dann treibt unser Planet mitsamt der Menschheit in eine Katastrophe, deren Ausmaß in der Geschichte des Lebens ohne Beispiel ist. Wo immer wir unseren Blick hinwenden auf der Welt, die Prognosen der Global 2000 Studie erweisen sich im wesentlichen als erschreckend richtig. Aber die Symptome werden nicht wahrgenommen bzw. offiziell verdrängt. „An die Existenz einer weltweiten Katastrophe zu glauben, die sich lautlos vollzieht, ohne Blitz und Donner und ohne Gestank, das haben wir noch nicht gelernt“, schreibt Hoimar von Ditfurth (v. Ditfurth, 1985). Der „3. Weltkrieg“ gegen die Natur und die Lebensgrundlagen der kommenden Generationen läuft - von den meisten nicht bemerkt - auf vollen Touren. Der Mensch ist dabei, einen stillen, aber wirkungsvollen Ausbeutungskrieg gegen Umwelt, Mitwelt und Nachwelt zu führen. Und er glaubt sogar, ihn gewinnen zu können durch immer mehr Einsatz an wissenschaftlich-technischer Intelligenz.

Fakten und Hintergründe der Bedrohung

Der Mensch hat unter gigantischem Fehleinsatz geistiger und materieller Fähigkeiten und Mittel die Möglichkeit entwickelt, mit seinem militärischen Vernichtungspotential in einem Weltkrieg, ja sogar in einem „begrenzten“ Atomkrieg den „nuklearen Winter“ auszulösen und damit alle ökologischen Kreisläufe zusammenbrechen zu lassen (z.B. Lobs, 1983). Dies würde das Ende jeder Zivilisation und jeder Kultur bedeuten. Die immer gewaltigere Rüstung dient dem Erreichen der Macht des Stärkeren. Dies ist Sozialdarwinismus in seiner perversesten Form.

Die exponentiell wachsende Ausbeutung der Erde wird unvermeidlich zu finalen Verteilungskämpfen um die letzten Ressourcen an Trinkwasser, Anbauflächen, Energie und metallischen sowie nichtmetallischen Rohstoffen führen.

Wir brauchen alle natürlichen und geistigen Ressourcen, alle Ideen zur Eindämmung des sicher für unsere Art aber auch für unsere natürliche Mitwelt tödlichen „3. Weltkrieges“, der heute gegen die Natur geführt wird. Rüstung als Vorbereitung auf einen möglicherweise zu führenden militärischen Weltkrieg wird absolut sinnlos' wenn der laufende Vernichtungskrieg gegen die Natur und unsere Lebensgrundlagen so weitergeht.

Von den 2,25 Millionen Wissenschaftlern in der weltweiten Forschung sind 500.000 mit militärischer Forschung und Entwicklung beschäftigt. Etwa 50 % aller Wissenschaftler und Ingenieure sind heute mit der Entwicklung von Waffen beschäftigt. Diese Menschen und ihr Sachverstand werden dringend gebraucht zur Bewältigung der existierenden Menschheitsprobleme. Aber nicht nur die Menschen werden gebraucht, sondern auch die Mittel, die in atemberaubend steigendem Maß in das Militär fließen:

„In der Welt kommen auf 100.000 Menschen 565 Soldaten und 65 Ärzte“ (Sivard 1983). In den 35 Jahren von 1946-1981 wurden 135 Milliarden Dollar für alle Entwicklungsprogramme der UNO inklusive Weltbank ausgegeben. Das erscheint eine große Summe. Aber das entspricht nur den heutigen Rüstungsausgaben von 7 Wochen. Die Kosten für ein Atom-U-Boot entsprechen heute dem Bildungsbudget von 23 Entwicklungsländern mit 160 Millionen Kindern im Schulalter. Eine makabre Verschiebung der Prioritäten.

Vor dem Hintergrund dieser Fakten sind die larmoyanten Reden der Regierungen der Industrienationen in West und Ost zu sehen, sie seien nicht in der Lage, ihre Entwicklungshilfeleistungen zu erhöhen. (Dazu ein Beispiel: Für die Lagerung der immensen Agrarüberschüsse geben die Länder der Europäischen Gemeinschaft jährlich 44 Milliarden DM aus. Damit kostete allein die Aufbewahrung der Butter- und Fleischberge (mit Strom auch aus Kernenergie) jährlich zehnmal mehr als die Bundesregierung weltweit für Entwicklungshilfe ausgibt (Stern v. 15.5.1986). Statt Entwicklungshilfe zu leisten, die den armen Ländern wirklich hilft, werden von den Industrienationen in Ost und West immer mehr technische Güter und Waffen exportiert. Die 3. Welt hat im letzten Jahrzehnt ihre Anteile am globalen Militärbudget auf 16 % erhöht. Diese Fakten sind nicht einfach nur Zahlen, sondern Dokumente der Verantwortungslosigkeit, aber auch der offensichtlichen Hilf- und Ratlosigkeit der gegenwärtigen offiziellen Außen- und Wirtschaftspolitik in Ost und West.

Moderne Industriestaaten sind in hohem Maße verwundbar durch wirtschaftliche Maßnahmen wie z. B. Schließung von Exportmärkten für Rohstoffe aller Art. Militärische Macht dient daher auch der Absicherung der ökonomischen Grundlagen für das exponentielle Wirtschaftswachstum der Industrienationen. 5-6 % aller Rohstoffe gehen heute in die Rüstung. Die Tendenz ist steigend. Damit sind langfristig nicht mehr beliebige Mengen an Rohstoffen vorhanden für das Wachstum der Rüstung und der zivilen wirtschaftlichen Ansprüche der Industrienationen, geschweige denn für die wachsenden Ansprüche der sich entwickelnden Länder mit ihrem z.T. äußerst rapiden Bevölkerungswachstum.

Das exponentielle Bevölkerungswachstum stellt uns global vor extreme Probleme. Die Industrieländer stellen heute 26 % der Weltbevölkerung, aber 78 % der Produktion an marktverwertbaren Gütern findet hier statt. Dabei verbrauchen wir 81 % der Energie, 70 % des Kunstdüngers,85 % der Traktoren, 88 % der Eisenerze und haben einen Anteil von 87 % an den Weltrüstungsausgaben. Die meisten der 2 Milliarden Menschen, die im Jahr 2000 mehr auf der Erde sein werden, leben in den unterentwickelten oder Entwicklungsländern. Dort existieren z.B. bereits heute 1,4 Milliarden Menschen ohne Zugang zu reinem Trinkwasser. Heute gibt es bereits ca.500 Millionen Arbeitslose in der 3. Welt und 30 Millionen Arbeitslose in den Industrieländern. Laut Studien der UN (UNEP 1983), der UNCTAD, der Weltbank und von SIPRI werden bis zum Jahr 2000 etwa 760 Millionen Menschen Arbeit suchen. Die meisten dieser Menschen leben bereits heute. Dies ist eine sozioökonomische Zeitbombe von höchster Brisanz. Unter der Annahme, daß ein Arbeitsplatz in der industriellen Produktion in einem Entwicklungsland 25.000 Dollar an Investitionen kostet (zum Vergleich: nach Angaben der Weltbank: in Bangladesch 1.000, in Südkorea 29.000, in Brasilien 40.000 Dollar und in einem Industrieland durchschnittlich 377.000 Dollar/Arbeitsplatz), dann wären bis zum Ende dieses Jahrhunderts 19 Billionen (19.000.000.000.000) Dollar nötig, um diese Arbeitsplätze in einer industriellen Produktion zu schaffen. Daß dies absolut unmöglich ist, ist leicht einzusehen. Die Konsequenz heißt aber auch: Herkömmliche Industrialisierung kann das Problem der Arbeitsplätze auf Dauer nicht lösen, weder in den Industrienationen noch gar in den Entwicklungsländern. Die an unseren Interessen, den Interessen der Industrieländer gemessenen Vorstellungen von Entwicklung und Entwicklungshilfe sind offensichtlich untauglich, um auch nur das Beschäftigungsproblem zu lösen. Angepaßte oder mittlere Technologie sind einzig mögliche Auswege.

Hunger und Not und ihre Gründe

Zuerst einmal muß der Versuch unternommen werden, das Problem des Hungers in den Griff zu bekommen. Der Hunger in den vielen Entwicklungsländern ist nicht primär das Problem mangelnder Düngemittel und Pestizide oder mangelnden Saatgutes, sondern ein strukturelles Problem (z. B. Brandt 1983, Mooney 1981).

D. h. zuallererst müssen die Besitzverhältnisse und die Verfügungsgewalt über die anbaufähigen Böden im Sinne der einheimischen Bevölkerungen gelöst werden. Dies ist nicht möglich, solange der Weltmarkt so funktioniert, wie er im Moment funktioniert. Auf großen Teilen der fruchtbaren Böden in den Entwicklungsländern werden nicht im Lande selbst benötigte Nahrungsmittel angebaut, sondern Nahrungsmittel für den Export, die Devisen bringen sollen (also „cash crop“, s. Mooney 1981), welche dann für zweifelhafte Industrialisierungsprojekte oder gar für aufwendige Rüstungsprogramme ausgegeben werden. Wenn diese Böden dann auch noch einem in- oder gar ausländischen Agrobusiness gehören, welches zentralisierte, technische und chemisierte Landwirtschaft betreibt, dann wird sich am bestehenden Hungerproblem gar nichts ändern.

Selbst konservative Berichterstatter wissen dies heute: „Gerade die steuerlich“ (d.h. politisch) „vielfach unterstützte Exporterzeugung von Nahrungsmitteln und Viehfutter ging auf Kosten des Anbaus der wenig attraktiven Basisnahrungsmittel wie Bohnen, Mais und Kartoffeln. Dafür trat die Agroindustrie ihren Siegeszug an. Sie stellte auf erstklassigen Böden hochmaschinell, technikintensiv und chemiekonzentriert erzeugte Nahrungsmittel in großen Volumina für den Export bereit. Doch Eiweiß für den Weltmarkt ist Eiweiß, das zu Hause fehlt. Die Agroindustrie konnte zwar (z. B.) Lateinamerikas Devisenhaushalte verbessern, aber nicht das Hungerproblem lösen. Angesichts der heutigen Überschuldung besteht auch keine Möglichkeit, von diesen Exporten abzurücken. Dieser Widerspruch zwischen Eiweißausfuhren und Eiweißmangel zu Hause wird die verbleibenden achtziger Jahre prägen“ (Handelsblatt, 30.8.1984, s. dazu auch Datta,1984).

Wenn die Karten der UN (s. Kidron & Segal, 1981) z. B. fast ganz Afrika als Nahrungsmittelüberschußregion ausweisen, d.h., daß dort hauptsächlich „cash crop“ angebaut wird, während dort die meisten Menschen hungern, dann ist das ein Beweis für die Ungerechtigkeit der sog. Weltwirtschaftsordnung. Ein „freier“ Weltmarkt nützt den Armen nichts, im Gegenteil. Die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Industrieländern steigt dadurch immer mehr und zugleich damit die Armut. Viele Entwicklungsländer dienen heute der Interessenlage der westlichen bzw. östlichen Industrienationen in mehrfacher Hinsicht, und dies macht verständlich, warum sie als Interessensphäre der jeweiligen Industrieländer reklamiert werden. Sie dienen vielen Industrieländern als Rohstofflieferanten (Energie- und mineralische Rohstoffe, Agrorohstoffe etc., s. z.B. Göricke & Reimann, 1982), sie dienen als Absatzfeld und auch als Versuchsfeld für neue und alte Waffen (Steigerung der Rüstungsausgaben in den Entwicklungsländern um bis zu 25 %), und nicht zuletzt dienen sie sogar als Natur- und Landschaftsreserve (z.T. stehen mehr Flächen in vielen unterentwickelten Ländern unter Naturschutz als bei uns). Entwicklungsländer sind auch vielfach der Produktions-„Hinterhof“ für die Billiglohnfertigung von bei uns benötigten oder scheinbar benötigten Produkten. Gleichzeitig dienen sie aber auch als Absatzhinterhof für die Überproduktion, die in den Industrienationen nicht vermarktet werden kann. Letzteres gilt besonders für den Agrarsektor, für Düngemittel, Pestizide, Pharmaka und Saatgüter, aber auch für andere Industrieprodukte. Immer mehr Gelder werden in die „Entwicklung“ dieser „Hinterhöfe“ der Industrienationen hineingesteckt, was zu weiterer Abhängigkeit führt. Die Schuldenlast der Entwicklungsländer ist inzwischen auf weit mehr als 2 Billionen DM angestiegen, eine astronomische Größenordnung. Die meisten dieser Länder werden ihre Schulden nie zurückzahlen können, im Gegenteil, sie müssen ständig neue Kredite auf dem internationalen Geldmarkt aufnehmen, um wenigstens die Zinsen bezahlen zu können. Die Handels- und Zahlungsbilanzdefizite nehmen in den meisten Entwicklungsländern zu. Viele Entwicklungsländer müssen inzwischen zur Bezahlung ihrer Schulden zwischen 5-10 % ihres Bruttosozialproduktes aufwenden. Das muß absehbar zu ihrem ökonomischen Ruin führen und damit zu einer weiteren Steigerung ihrer Abhängigkeit. Die Interessensphären der Industrienationen werden teilweise durch entsprechende Militärregime und militärische Unterdrückung in den Entwicklungsländern abgesichert. „Etwa die Hälfte der Regierungen in Entwicklungsländern werden gegenwärtig von Militär kontrolliert“ (Sivard 1983). Dies hält auch den internationalen Waffenhandel aufrecht und führt dazu, daß in den Entwicklungsländern immer mehr Devisen für Waffen und Militär ausgegeben werden. Damit steigt die internationale Abhängigkeit, steigen Hunger, Not, Armut und Arbeitslosigkeit bei der Mehrheit der Bevölkerung. Die Reichen werden trotzdem immer noch reicher und die Armen werden zwangsläufig immer ärmer. Die Gefahr lokaler militärischer Interventionen und globaler kriegerischer Konflikte steigt damit immer mehr an. Der bei uns ständig beschworene und wachgehaltene „Ost-West-Konflikt“, der schon für sich genommen bedrohlich genug ist, wird in unserer Wahrnehmung zunehmend zum Vorhang, hinter dem sich der Nord-Süd-Konflikt immer drängender und bedrohlicher entwickelt. Hierauf weist die Nord-Süd-Kommission seit Jahren hin, ohne daß dies von der Öffentlichkeit und der offiziellen Politik mit der gebührenden Aufmerksamkeit wahrgenommen würde. „Jede Verschärfung der Konflikte (mit den Entwicklungsländern) wie sie die unausweichliche Folge weiterer ökonomischer Ausplünderung und politisch-militärischer Intervention sein würde, verschlimmert nicht nur die unermeßlichen Leiden der Menschen dieser Region, sie könnte überall zu einem auslösenden Faktor eines nuklearen Weltkrieges werden“ (Kreye 1984).

Gleichzeitig gibt die Welt inzwischen über 2 Billionen DM pro Jahr für die Rüstung aus. Die Tendenz ist steigend. Ein Opfer dieses unkontrollierten Rüstungswettlaufes ist ohne jeden Zweifel die Weltwirtschaft. Für die hunderte von Millionen Menschen, die am Rande des Existenzminimums dahinleben, bedeuten die Militärausgaben unverminderte Armut ohne Hoffnung auf Erfüllung der elementaren Grundbedürfnisse. „Wie im Atomkrieg findet hier Völkermord statt“ (Sivard 1983).

Die Konsequenz

Die berechtigte Angst vor einem Nuklearkrieg und seinen katastrophalen Folgen darf uns nicht blind machen für die allgegenwärtige und real existierende Gefahr der Zerstörung unserer natürlichen und sozialen Umwelt, die schließlich auch die Umwelt der kommenden Generation ist. Die Menschheit ist nie zuvor einer größeren globalen Bedrohung ausgesetzt gewesen als unsere Generation. Das vernetzte System „Gaia“, unsere Erde mit ihrer Biosphäre, existiert seit mehr als 4 Milliarden Jahren. Weil sie immer mit negativ rückgekoppelten Systemen gearbeitet hat, hat die „Firma Natur“ in dieser langen Zeit der Erdgeschichte nicht Pleite gemacht. Dieses System Erde ist es wert, erforscht, verstanden und erhalten zu werden. Wir Menschen sind nicht die Krone der Schöpfung, aber wir haben durch unsere Vernunft und Einsichtsfähigkeit die Möglichkeit und die freie Entscheidung, dieses System zu erhalten oder zu zerstören.

Es ist eine zwingende Notwendigkeit, dem Frieden mit der Natur unbedingten Vorrang zu geben vor allen anderen Problemen. Sicherheitspolitik muß in allererster Linie Umwelt- und Zukunftssicherung sein. Militärische Sicherheitspolitik ist angesichts der globalen Probleme ein absoluter Anachronismus. Mit militärischen Mitteln lassen sich die globalen Probleme nicht lösen, höchstens vergrößern. Hier ist ein Umdenken bei Wählern und Politikern dringend erforderlich.

„Jede Waffe, die hergestellt wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel läuft, jede abgefeuerte Rakete verkörpert im Grunde einen Diebstahl an jenen, die hungern und nicht genährt, oder an jenen, die frieren und nicht bekleidet werden“, resümierte bereits Dwight D. Eisenhower. Die Vereinten Nationen erstellten einen umfangreichen Bericht über den Zusammenhang zwischen Abrüstung und Entwicklung. Darin wird die Notwendigkeit betont, Abrüstung als integralen Bestandteil von Entwicklung zu erkennen. Sicherheit, Abrüstung und Entwicklung sind unteilbar (z.B. Brock 1982 und UN-General Assembly 1981). „Rüstung und soziale Sicherheit geraten mehr und mehr in einen ökonomischen Gegensatz. In Zukunft wird beides zusammen nicht mehr zu haben sein“ (Steinweg, 1985). Militärausgaben sind eindeutig kontraproduktiv. Sie beeinflussen die zivilen Investitionen negativ (z.B. die dringende Entwicklung von alternativen Energiesystemen), sie lenken Forschungsaktivität auf Bereiche, die im zivilen Bereich kaum oder überhaupt nicht verlangt sind. Außerdem schaffen Militärausgaben weniger Arbeitsplätze als Ausgaben im zivilen Bereich. Konversionsprogramme (Umstellung militärischer auf zivile Produktion) müssen daher wichtige Bestandteile künftiger Wirtschaftspolitik und auch der kommenden Abrüstungsverhandlungen sein.

Es geht heute nicht mehr vorrangig um die Gegensätze zwischen Ideologien und Gesellschaftssystemen. Es geht um die Zukunft der Menschen und ihrer Lebensgrundlagen und darum, ob es überhaupt eine Zukunft gibt. Das gilt heute global, ob Ost, ob Nord, ob Süd. Dies müssen die Öffentlichkeit und unsere Politiker erkennen und daraus Konsequenzen ziehen, deren erste in ernsthafter und essentieller Abrüstung bestehen muß.

Es müssen in allen Ländern angemessen interdisziplinäre und durch unabhängige Fachleute besetzte Gremien geschaffen werden, die sich mit den künftigen Entwicklungen befassen und diese bewerten, um die Bevölkerungs- und globalen Ressourcen- und Umweltprobleme in allen Planungen, Programmen und Entscheidungsprozessen entsprechend zu berücksichtigen (Global Future 1981). Eine ganz wichtige Aufgabe ist es dabei, die geschilderten Probleme als Realität anzuerkennen, die Systemzusammenhänge zu durchleuchten und dies ohne jede Beschönigung öffentlich zu machen, damit politische Entscheidungen auch getragen werden können. Daher sind auch Programme zur Öffentlichkeitsarbeit in diesem Sinne aufzustellen. Die Schaffung öffentlichen Bewußtseins für die vernetzten globalen Probleme u.a. auch durch Einbeziehung dieser Problematik in die Lehre an Schulen und Universitäten in Form neuer Lehrpläne ist eine dringende Aufgabe. Nur durch genaue Kenntnis verantwortungsbewußter Bürger und Regierungen können die Probleme angegangen werden. Die Öffentlichkeit muß bewußt und aktiv an der Lösungsfindung beteiligt werden und teilnehmen. Offene und ehrliche Information, nicht Beschönigung und Verdrängung sind angesagt zur Bewältigung unserer Zukunftsprobleme.

Frieden durch Abrüstung und Frieden mit der Natur sind gleichwertig fundamentale Voraussetzungen für die Existenz von Zukunft. Ein Beginn auf diesem Weg ist der Abbau von Feindbildern nach innen und nach außen und eine neue Einstellung des Menschen der Natur gegenüber. Friedensforschung und Umweltforschung sind hervorragende Aufgaben und sind die wichtigste Herausforderung an uns, an unsere Hoffnungen und an unsere Fähigkeiten. Die Herstellung einer informierten und damit verantwortlichen Öffentlichkeit ist deshalb eine ganz wesentliche demokratische Aufgabe als erster Schritt auf dem Weg zu einer möglichen Zukunftsbewältigung.

LITERATURAUSWAHL

Brandt, W. (Hrsg., 1983): Hilfe in der Weltkrise - Ein Sofortprogramm - Der 2. Bericht der Nord-Süd-Kommission. - rororo aktuell, Verlag Rowohlt, Reinbek, Hamburg, 172 S.
Brock, L. (1982): Entwicklungspolitik und Rüstungswettlauf, Friedensforschung aktuell, Ausg. 4. Hess. Stiftg. f. Friedens- u. Konfliktforschg., Frankfurt S. 1-8.
Capra, F. (1985): Wendezeit - Bausteine für ein neues Weltbild. - Verlag Scherz, Bern, München, Wien, 512 S.
Datta, A. (1984): Welthandel und Welthunger. - Verlag dtv, München, 171 S.
Ditfurth, H.v. (1985): So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen - Es ist soweit. - Verlag Rasch & Rohring, Hamburg, 432 S.
Global 2000 (1980): Der Bericht an den Präsidenten. Zweitausendeins, Frankfurt, 1438 S.
Global Future, Es ist Zeit zu handeln (1981): Global 2000: Die Fortschreibung des Berichts an den Prasidenten. - Hrsg. d. dt. Ausgabe: A. Bechmann & G. Michelsen, Eine Veröffentl. d. Ökoinstituts Freiburg, Dreisam Verlag, Freiburg i. Brsg., 190 S.
Göricke, F. V. & Reimann, M. (1982): Treibstoff statt Nahrungsmittel - Wie eine falsche energiepolitische Alternative den Hunger vermehrt. - rororo aktuell, Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 181 S.
Kidron, M. & Segal, R. (1981): Hunger und Waffen - Ein politischer Weltatlas zu den Krisen der 80er Jahre. - Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
Kreye, O. (1984): Neue internationale Wirtschaftsordnung oder Rekolonialisierung der Entwicklungsländer? Zeitschr. f. Kulturaustausch, 34, H. 4, 325-333.
Lohs, K. (1983): Nach dem Atomschlag. - Pergamon Press, Kronberg/Taunus, 271 S.
Mooney, P.R. (1981): Saat-Multi und Welthunger - Wie die Konzerne die Nahrungsschätze der Welt plündern. rororo aktuell, Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 171 S.
Sivard, R.L. (1983): Entwicklung der Militär- und Sozialausgaben in 140 Ländern der Erde. UN-Report - 2. Deutsche Ausgabe, Militärpolitik Dokumentation, Extra 4, Verlag Haag & Herchen, Frankfurt, 44 S.
Steinweg, R. (1985): Rüstung und soziale Sicherheit. - Verlag Suhrkamp, Frankfurt, 448 S.
United Nations General Assembly, 36. Session (1981): Study on the relationship between disarmament and development. - Distr. General, A 36/356, 5. Oct. 1981, 177 S.
UNEP (1983): Umwelt - Weltweit, Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) 1972-1982, Beiträge zur Umweltgestaltung, Bd. A 88, Verlag E. Schmidt, Berlin, 674 S.

Jürgen Schneider ist Professor am Institut für Geologie und Dynamik der Lithosphäre der Universität Göttingen und Mitglied der Naturwissenschaftlerinitiative „Verantwortung für den Frieden“

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/5 Wege aus dem Wettrüsten, Seite