Russlands Sicherheitsinteressen
und die instabile Südflanke
von Jürgen Nieth
Liebe Leserinnen, liebe Leser, 1991 zerfiel die Sowjetunion und der Warschauer Pakt löste sich auf. Das Militärbündnis war vier Jahrzehnte auf der Weltbühne Gegenpol zur NATO gewesen. Russland blieb in der Folge zwar eine der beiden großen Atommächte, verlor aber seine Weltmachtrolle. Die NATO nutzte unter Führung der USA die »Gunst der Stunde«, um für sich – endlich unbehindert durch das östliche Militärbündnis – neue Zuständigkeiten zu reklamieren und ihr Operationsgebiet auszudehnen.
Für Russlands Sicherheitsinteressen eine fatale Entwicklung. Heute reicht die ständige Truppenpräsenz der NATO bis fast an seine Westgrenze und sie soll noch weiter vorgeschoben werden: Die Ukraine und Georgien bleiben im Gespräch als neue NATO-Mitglieder.
Doch nicht nur durch die NATO-Osterweiterung musste sich Russland bedroht fühlen. Auch die Entwicklungen an seiner Südflanke beeinträchtigten seine Sicherheitsinteressen. Genannt seien nur
die bewaffneten Konflikte im eigenen Süden: Tschetschenien und Inguschetschien;
die Kriege und Aufstände in ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus: um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, in den georgischen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien;
instabile Staaten im post-sowjetischen Raum Zentralasiens;
der Krieg in Afghanistan.
Russland reagierte auf die Entwicklung in seinem Süden politisch und ökonomisch. Dafür stehen u.a. die unterschiedlichen Bündnisse mit ehemaligen Sowjetrepubliken und angrenzenden Ländern, wie die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SchOZ) sowie eine Reihe bilateraler Abkommen.
Russland reagierte aber auch militärisch. Dafür stehen zwei lange Tschetschenienkriege und dafür steht der erste Militäreinsatz gegen ein anderes Land: Georgien 2008. Die russische Regierung nutzte den Überfall der georgischen Armee auf die ossetische Minderheit im eigenen Land, um militärisch einzugreifen und nach einem gewonnenen Fünf-Tage-Krieg Abchasien und Südossetien als selbstständige Staaten anzuerkennen. Dass dieser Schritt nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht war, konnte negiert werden, schließlich hatte der Westen mit der Anerkennung des Kosovo vorher den Präzedenzfall geschaffen.
Die militärische Karte wird auch weiter in der Hand gehalten. So gab es im Sommer gemeinsame Militärübungen der beiden mächtigsten Staaten der SchOZ, China und Russland, in den nordchinesischen Provinzen Jilin und Shandong. Auch hier haben sie vom Westen gelernt, die Übungen standen unter dem Thema »Kampf gegen den Terrorismus«.
Jetzt hat Barak Obama das Lieblingsprojekt seines Vorgängers, die Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen, gestrichen, das die Russen immer als gegen sich gerichtet betrachtet haben. Vor der UNO hat Obama eine atomwaffenfreie Welt propagiert und sich für eine Verkleinerung der A-Waffen-Arsenale ausgesprochen.
Gibt es eine neue Phase der Vertrauensbildung, vertraglich vereinbarter Rüstungsbegrenzungs- oder sogar Abrüstungsabkommen? Punktuell – auf einige internationale Vereinbarungen bezogen – scheint es dafür eine Chance zu geben. Sicher ist auch diese Entwicklung nicht, schließlich liegen bereits Pläne der US-Militärs auf dem Tisch, die Raketenabwehr, die für Polen und Tschechien gestrichen wurde, jetzt seegestützt zu installieren und US-Verteidigungsminister Robert Gates möchte – trotz Obamas Vision – eine neue Generation von Atomsprengköpfen erproben lassen.
Kommt hinzu: In anderen Bereichen prallen die Interessengegensätze zwischen den USA, Russland, China u.a. auf jeden Fall weiterhin aufeinander. Das trifft auch für die Kaukasusregion und Zentralasien zu:
Es darf bezweifelt werden, dass die US-amerikanischen (und NATO-)Truppen nur zur Taliban-Bekämpfung nach Afghanistan entsandt wurden, die Bush-Administration hatte bereits vor 9/11 an einer Dauerstationierung US-amerikanischer Truppen in diesem Raum ein strategisches Interesse.
Auch für die NATO war die Sicherung der Rohstoffressourcen und ihrer Transportwege längst vor den Terroranschlägen von New York erklärtes strategisches Ziel und der Mittlere Osten damit im Fokus. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
In den autoritär regierten Zentralasiatischen Staaten wächst extrem die Kluft zwischen Armut und Reichtum, es bildet sich ein Nährboden für eine zunehmende politische Instrumentalisierung des Islam und die Instabilität der Regime ebnet den Weg für eine Einflussnahme von außen.
Vor diesem Hintergrund hat W&F den Schwerpunkt dieser Ausgabe beschlossen: Darauf hoffend, dass wir Ihnen einen näheren Einblick vermitteln können in die komplizierte Gemengelage in dieser Region und einige Anregungen dafür, wie eine Politik aussehen sollte, die konfliktreduzierend wirkt.
Ihr Jürgen Nieth