Schablonen im Kopf
Koloniale Kontinuitäten im Wahrnehmen, Denken und Handeln
von Michaela Zöhrer
Unsere Gegenwart steht in einer kolonialen Tradition. Darauf machen nicht nur Neokolonialismus-Kritiken aufmerksam, die Kontinuitäten oder »Neuauflagen« des Kolonialismus in aktuellen politischen und vor allem ökonomischen Verhältnissen feststellen. In diesen und vielen weiteren globalen Zusammenhängen sind darüber hinaus historisch tradierte eurozentrische Selbst-, Fremd- und Weltbilder bis heute wirkmächtig, die sich aus neuen und zugleich »altbekannten« Geschichten und Bildern speisen. Der Beitrag betrachtet die kulturelle Dimension europäischer Expansion, um sich darüber gegenwärtigen kolonialen Kontinuitäten in unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln – und einem möglichen selbstkritischen Umgang damit – zu nähern.
In unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln? Im Weiteren werde ich schwerpunktmäßig auf die Rolle »des Westens« oder genauer gesagt auf das eingehen, was als »westlicher Blick« verstanden werden kann. Auch bei einer solch selbstkritischen Betrachtung gilt es mit zu berücksichtigen, dass wir als Menschen alle Teil der sogenannten Nord-Süd-Beziehungen sind, auch wenn wir in diesen sehr unterschiedliche Positionen einnehmen und jeweils anders auf die Welt, uns selbst und andere blicken. Und wir alle sind Nachfahren und zeitgenössische Protagonist*innen geteilter Geschichte(n). Aus globalgeschichtlicher und zugleich eurozentrismuskritischer Perspektive handelt es sich in doppelter und ambivalenter Hinsicht um eine geteilte Geschichte (Conrad und Randeria 2013, S. 39): Sie ist eine gemeinsame (shared), aber auch von Abgrenzung und Hierarchisierung gekennzeichnete (divided) Geschichte des Austauschs und der Interaktion.
Kolonialismus »daheim«
Die „Imperien waren immer auch ‚zu Hause‘ präsent“ (Conrad 2012, S. 6): Über die Jahrhunderte hinweg fertigten »entdeckende«, erobernde und missionierende Europäer*innen Reise- und Augenzeugenberichte sowie Zeichnungen an, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort illustrieren sollten. Dabei wurden auch die kolonisierten Bewohner*innen der Karibik und Amerikas, Ozeaniens, Südasiens, des Nahen Ostens und Afrikas dargestellt und fantasiert: vor allem als »Barbaren«, »Exoten« und »edle Wilde«. Es wurden jedoch nicht nur Geschichten und Bilder mit in die Metropolen gebracht, sondern auch (zynisch formuliert) diverse »Souvenirs«. Darunter waren vielfältige kulturelle Raubgüter, deren Rückführung nach wie vor aussteht. Aber auch Menschen wurden in die Heimatländer der Kolonialmächte verschleppt und etwa in Völkerschauen ausgestellt, um deren vorgeblich »primitive«, »naturverbundene« und »unzivilisierte« Lebensweisen vorzuführen.
Während frühe Berichte und Zeichnungen (wie auch die aus den Kolonien importierten Waren und Genussmittel) lange Zeit vor allem für elitäre Kreise verfügbar waren, sollten Ende des 19. Jahrhunderts verschiedenste Bevölkerungsschichten regelmäßig in Berührung mit einem nunmehr massentauglichen und konsumierbaren Kolonialismus kommen: etwa über entsprechende Bild-Aufdrucke auf Streichholzschachteln, Keksdosen oder Schokoladentafeln.
Viele der verbreiteten Geschichten und Bilder dienten dazu, Erfolge und Fortschritte der Kolonisierungspraxis vorzuführen, um die Daheimgebliebenen auch zu Kompliz*innen »im Geiste« zu machen. Grundlegend wurden mit deren Verbreitung solche kulturellen Vorstellungsbilder propagiert, „die koloniale Expansion und Herrschaft überhaupt attraktiv und akzeptabel – und noch grundlegender: denkbar – machten“ (Conrad 2012, S. 7). Gleichzeitig beschränkte sich koloniale Wissensproduktion nicht auf Propaganda in den und für die Metropolen.
Koloniales »Wissensmanagement« und Rassismus
Europäische Expansion ging von Beginn an – das heißt spätestens seit der realitätsverzerrend als »Entdeckung« umschriebenen Vereinnahmung der sogenannten Neuen Welt ab 1492 – mit der Produktion von Wissen einher. Zugleich war ein zentrales Mittel zur Herrschaftsgewinnung und -sicherung die Verdrängung und Vernichtung anderer Kulturen. Mit den Worten Ngũgĩ wa Thiong’os (1995 [1993], S. 74) gab es „einen systematischen Angriff auf die Sprachen der Völker, ihre Literatur, Tänze, Namen, Geschichte, Hautfarbe, ihre Religionen, in der Tat auf jedes Mittel der Selbstdefinition“. Diese Delegitimierung, Exklusion und Auslöschung von Kultur und Wissen ging einher mit der machtvollen und zerstörerischen Verbreitung und Durchsetzung jenes Wissens, das vorgeblich über Höherwertigkeit und Allgemeingültigkeit verfügt.
Die wohl wichtigste Ideologie, die der Legitimierung von Versklavung und Kolonialismus sowie der im Zuge dessen verübten Gräueltaten und installierten Ausbeutungsverhältnisse diente, ist der Rassismus. Für den kolonialen Rassismus hält Albert Memmi (2016, S. 148) fest: „Ein ständiges Bemühen der Kolonialisten besteht darin, in Worten und Verhalten den Platz und das Schicksal des Kolonisierten, seines Partners im kolonialen Drama, zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten, d.h., letzten Endes das Kolonialsystem und damit seinen eigenen Platz zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten“. Dafür wurden Repräsentationen der »Anderen« – in Abgrenzung zu einem Selbst – wirkmächtig in die Welt gesetzt, entlang von dichotom organisierten und gegeneinander wertend in Stellung gebrachten Differenzen: nicht-weiß/weiß, barbarisch/zivilisiert, irrational/rational, kindlich/erwachsen, weiblich/männlich usw. Die behaupteten Differenzen wurden wie ahistorische und apolitische Gewissheiten behandelt und folglich naturalisiert; sie wurden absolut gesetzt, indem sie als endgültig ausgegeben wurden und sich das eigene Handeln (der Kolonisierenden) darauf ausrichtete, dass sie es auch werden (ebd.).
Kolonial-rassistische Wissensproduktion mündete oftmals in einem perfiden und folgenschweren Paradox: „Das hier produzierte Wissen ermöglicht[e] den ‚Zivilisierten‘ die Anwendung ‚barbarischer‘ Praktiken und untermauert[e] dabei gleichzeitig die Konstruktion der Täteridentität als zivilisiert und der Opfer als unzivilisiert“ (Ziai 2006, S. 34). Rassismus war Ermöglichungsbedingung und Ausdruck des gewaltvollen und entmenschlichenden Handelns der Täter*innen. Mit ihm wurden identitätsbildende Differenzen und Hierarchien etabliert, um die Gräuel und Ungerechtigkeiten (vor sich selbst) rechtfertigen zu können.
Trotz des immer auch bestehenden Widerstands vonseiten kolonisierter und versklavter Menschen, haben Imperialismus und Kolonialismus in vielen Weltregionen, die heute dem Globalen Süden zugerechnet werden, aber auch in sogenannten Siedlerkolonien wie den USA, Kanada, Australien oder Neuseeland gravierende Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in den Selbst-, Fremd- und Weltbildern der Kolonisierten und nachfolgender Generationen. Zeitgleich bestimmen aus der Kolonialzeit stammende Vorstellungsbilder bis heute ein »westliches« Wahrnehmen, Denken und Handeln.
Koloniale Kontinuitäten
Noch heute schöpfen Menschen überall auf der Welt – bewusst oder unbewusst – aus jenem »Wissensarchiv«, das sich über die Jahrhunderte der Versklavung und Kolonisierung hinweg selektiv füllte: mit noch heute wirkmächtigen Repräsentationen, die die Welt einteilen und Gruppen von Menschen voneinander abgrenzen und hierarchisieren. Wie Stuart Hall (2012, S. 167) festhält: Die Welt wird (aus Sicht des Westens) „symbolisch geteilt, in gut-böse, wir-sie, anziehend-abstoßend, zivilisiert-unzivilisiert, der Westen-der Rest“, wobei »der Rest« als etwas festgeschrieben wird, „das der Westen nicht ist – sein Spiegelbild“. Auch in der globalen Gegenwartsgesellschaft gilt: Die Selbstvergewisserung und Selbstaufwertung der einen und die Abwertung der als »Andere« Hervorgebrachten gehen Hand in Hand miteinander. Ein gesteigertes Selbstwertgefühl von Kollektiven geht immer auf Kosten anderer – mithin auf Kosten derjenigen, die als »per se« minderwertig oder als »noch nicht« auf einer (Entwicklungs-)Stufe mit dem eigenen kollektiven Selbst wahrgenommen und entsprechend behandelt werden. Diejenigen, die bis heute die Kriterien und Maßstäbe definieren und durchsetzen können, welche der Zuweisung der Plätze auf der Stufenleiter – und der Behauptung der Existenz und Relevanz der Stufenleiter selbst – dienen, sind dabei dieselben, die sich gleichsam obenauf wähnen können.
Wenn nun von kolonialen Kontinuitäten im kollektiven Wahrnehmen, Denken und Handeln gegenüber anderen Weltregionen und als »fremd« erlebten Menschen – übrigens auch im eigenen Land – die Rede ist, dann lässt sich an recht verschiedene konkrete Beispiele denken, die mal mehr, mal weniger explizit oder klar ersichtlich in einer kolonialen Tradition stehen. Da wären zuerst »Restbestände« eines Kolonialkults, etwa manch rassistische Straßen- und Geschäftsnamen oder »Kolonialhelden« verherrlichende Statuen, die besonders offenkundig von einer fehlenden Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit zeugen. Daneben gibt es Fälle, in denen in der Kolonialzeit tradierte Darstellungsweisen noch heute mehr oder minder identisch reproduziert werden. So ließ zum Beispiel vor wenigen Jahren Seifenprodukt-Werbung ein gängiges rassistisches Narrativ aus der Hochzeit des Imperialismus in dem Moment wieder aufleben, in dem sie die Verknüpfung »Schwarze Menschen = dreckig, weiße Menschen = sauber« bediente.
Darüber hinaus gibt es unzählige weniger offenkundige Beispiele anhand derer Vorstellungsbilder von Differenz und Dominanz wachgerufen und wachgehalten werden, die sich über die Jahrhunderte europäischer Expansion »festgesetzt« haben. Ich denke etwa an stereotype Darstellungen fremder, vor allem indigener, Kulturen in Schulbüchern. Oder an mancherlei Spendenplakate von Hilfsorganisationen, auf denen »Andere« – im Gegensatz zu »uns«, deren Unterstützung sie zu benötigen scheinen – immer noch anhand von Differenzmarkern repräsentiert werden, die schon für einen kolonialen Rassismus konstitutiv waren: Schwarz (statt weiß), krank (statt gesund), kindlich (statt erwachsen), passiv (statt aktiv), ungebildet (statt gebildet). Um hier von einer kolonialen Kontinuität zu sprechen, muss im Übrigen nicht notgedrungen ein »Hungerkind« mit »weißem Helfer« fotografisch abgelichtet sein. Es kann genügen, den afrikanischen Kontinent als schwarze Leere gerahmt von weißer Schulkreide zu zeigen und zu verkünden: „Ohne Bildung hat Afrika keine Zukunft“, „Wir schließen Bildungslücken“ (zur Plakat-Diskussion: Kiesel und Bendix 2010).
Bedeutsam ist zudem, wer und was nicht sichtbar wird – zumindest nicht als Sinnbild oder Inbegriff der jeweils unterstellten Norm, sondern wenn überhaupt als defizitäre oder exotische Abweichung. Zum Beispiel lohnt es sich mit Blick auf Darstellungsroutinen in Film, Fernsehen und Werbung zu fragen: Wer und was wird eigentlich ausgeblendet, wenn nach wie vor vornehmlich »primitive Stammeskulturen«, »hungernde Kinder«, »korrupte Diktatoren« oder auch »wilde Tiere« gezeigt werden, wenn es um den Kontinent Afrika geht? Oder warum werden in Deutschland lebende Menschen of Color fast ausschließlich in Klischeerollen – als etwa »kriminelle, ungebildete Ausländer*innen« – sichtbar, kaum jedoch als Mitbürger*innen mit ihren individuellen, tatsächlich ganz normalen Ecken und Kanten?
Jenseits des Eurozentrismus?
Werbung, Schulbücher, Spendenplakate, aber auch Auslandsberichterstattung, wissenschaftliche Konfliktanalysen, Aufdrucke auf Kaffeeverpackungen oder Reiseführer: Geschichten und Bilder von den (vermeintlichen) Lebenswirklichkeiten im Globalen Süden erreichen uns in Deutschland auf ganz unterschiedlichen Wegen und oft geradezu beiläufig. Diese mögen gegenwärtig anders aussehen und anderes betonen als jene Geschichten und Bilder, die zu der Zeit formal-politischer Kolonisation Verbreitung fanden. Sie erneuern nichtsdestotrotz häufig die gleichen Selbst-, Fremd- und Weltbilder, die bis heute ganz wesentlich dazu beitragen, dass Praktiken der Marginalisierung, Diskriminierung und Ausbeutung wie auch globale soziale Ungleichheiten und neokoloniale Verhältnisse für gerechtfertigt oder eben »normal« erachtet werden.
Was also tun? Aus meiner Sicht müssen wir in einem ersten, immer wieder aufs Neue zu tätigenden Schritt bewusst an unseren Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsroutinen arbeiten, an den Schablonen in unseren Köpfen, die sich auch in unserem Handeln niederschlagen. Ein Bestandteil dieser Arbeit ist die Berücksichtigung geteilter globaler Geschichte(n) und damit der Versuch, einem internalisierten und zudem kulturell geradezu omnipräsenten Eurozentrismus aktiv zu begegnen: So wie Kolonialismus in den Kolonien und zur selben Zeit in Europa stattfand, mit jeweils sehr unterschiedlichen Auswirkungen und doch unumgänglich miteinander verflochten, so sind auch gegenwärtige koloniale Kontinuitäten immer global, wie lokal sie sich auch manifestieren mögen. Um einen Eurozentrismus möglichst zu überwinden, gilt es mit wenigstens zwei seiner zentralen Grundannahmen zu brechen (Conrad und Randeria 2013): Erstens mit der Annahme, dass die „moderne Geschichte als Ausbreitung europäischer und ‚westlicher‘ Errungenschaften – des Kapitalismus, politisch-militärischer Macht, von Kultur und Institutionen –“ (ebd., S. 35) zu verstehen sei. Was kolonialgeschichtlich in der sogenannten Zivilisierungsmission seinen Höhepunkt fand, findet heutzutage sein Spiegelbild in der Haltung des Westens, beispielsweise »Demokratie« oder »Bildung« in Regionen des Globalen Südens bringen zu müssen.
Zweitens haben wir uns von der Vorstellung zu verabschieden, dass die europäische Geschichte des Fortschritts als eine rein innereuropäische Geschichte konzipiert werden könnte, dass also die Bedingungsmöglichkeiten »westlicher Errungenschaften« wie der Industrialisierung, aber etwa auch aktueller ökonomischer Dominanz, ausschließlich innerhalb Europas oder des Westens zu verorten wären. Mit einer solchen Vorstellung wird zum einen die Vielfalt globalen wechselseitigen Austauschs über die Jahrhunderte hinweg vernachlässigt. Zum anderen werden die vielen Schattenseiten der westlichen Modernisierung ausgeblendet: etwa die Relevanz, die den über Kolonialismus und Versklavung gewonnenen – auch menschlichen – »Ressourcen« in der Geschichte zukam. Und wie sieht es eigentlich aktuell am anderen Ende der Lieferketten aus?
Literatur
Conrad, S. (2012): Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62(44-45), S. 3-9.
Conrad, S.; Randeria, S. (2013): Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 9-49.
Hall, S. (2012 [1992]): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Ders. (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag, S. 137-179.
Kiesel, T.; Bendix, D. (2010): White Charity. Eine postkoloniale, rassismuskritische Analyse der entwicklungspolitischen Plakatwerbung in Deutschland. Peripherie – Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 30(3), S. 482-495.
Memmi, A. (2016 [1957]): Der Eingeborene und der Privilegierte. Der Rassismus. Mythisches Porträt des Kolonialisierten. (Ausschnitte aus Der Kolonisator und der Kolonialisierte). In: Kimmich, D.; Lavorano, S.; Bergmann, F. (Hrsg.): Was ist Rassismus? Stuttgart: Reclam, S. 145-162.
Ngũgĩ wa Thiong’o (1995 [1993]): Moving the Centre. Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen. Münster: Unrast.
Ziai, A. (2006): Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Michaela Zöhrer ist Friedens- und Konfliktforscherin und politische Bildnerin. Gelegentlich steht sie zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Seite, die ihre (Bild-)Sprache eurozentrismus- und rassismuskritisch unter die Lupe nehmen möchten.