Scham und Ehre
Die verborgene Dimension von Konflikt und Gewalt
von Stephan Marks
Die sozialpsychologische Konfliktanalyse oszilliert seit Jahrzehnten zwischen einem auf Bedürfnisse und Interessen konzentrierten »realistischen« Ansatz und dem Identitäts- und Beziehungsfragen hervorhebenden »symbolischen« Verständnis. Der Autor des vorliegenden Beitrags bringt in eindrucksvoller Weise die Scham-und-Ehre-Dynamik im Konfliktgeschehen zur Sprache. Damit macht er zumindest plausibel, dass eine systematische Berücksichtigung entsprechender »symbolischer« Größen ebenso für ein vertieftes Verständnis im Besonderen auch von interkulturellen Konflikten angezeigt ist wie für einen konstruktiv(er)en Umgang mit ihnen.
Internationale Gewaltkonflikte werden i.d.R. gedeutet als Auseinandersetzungen um Interessen (Besitz, Macht), die sich verselbstständigen oder gegen die eigenen Überlebensinteressen verkehren können. Diese sozialpsychologische Dimension wird bisweilen übersetzt in die Leitworte »greed and grievance«. Einen weiteren Gesichtspunkt fügte Galtung (1998; 2004) mit dem Begriff der »deep culture« hinzu: Was Gesellschaften als erstrebenswert oder als verabscheuungswürdig verstehen und wofür und wogegen sie kämpfen, ist vorgeprägt von kollektiven Wertsystemen und historischen Erfahrungen. Gesellschaften unterscheiden sich in diesen vorbewussten Deutungsmustern, wodurch eine Verständigung oft erschwert wird. Entsprechend kann es unter den »root causes« eines Konflikts neben physischer und struktureller Gewalt auch Dominanzverhältnisse zwischen Deutungsmustern geben, die Galtung »kulturelle Gewalt« nennt.
»Greed« und »grievance« sind oft verwurzelt in kollektiven Erfahrungen und Selbstbildern und damit verbunden mit Ehre und Scham. Durch Beschämung bzw. »Schande« als Gefühl(e) der elementaren Bedrohung können ungeheure Energien mobilisiert werden. Im Bemühen der Schamabwehr, die sich im Gegenbegriff der Ehrenrettung verdichtet, sind Menschen zu jeder Gewalttat fähig, die auch vor Selbstschädigung nicht Halt macht. In äußerster Konsequenz erscheint sogar Selbstmord als angemessener Preis dafür, die eigene Ehre zu retten. Ohne diesen Mechanismus sind die aktuellen Selbstmord-Attentate kaum zu verstehen. Wie viel zerstörerische Energie aus Abwehr von Schamaffekten mobilisiert werden kann, illustriert bereits die Ilias. Auch die Attraktivität des Nationalsozialismus für seine Anhänger lässt sich - neben anderen Gründen - aus dieser Dynamik erklären, wie in Interviews mit NS-Anhängern im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Geschichte und Erinnerung deutlich wurde (vgl. Marks 2007a).
Mit diesem Beitrag möchte ich die Friedenswissenschaft anregen, sich eingehender mit Scham und Ehre auseinanderzusetzen. Zunächst werden einige Grund-Determinanten von Scham und Schamabwehr vorgestellt. Anschließend illustriere ich deren Bedeutung am Beispiel des sog. »clash of civilizations« zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Dies kann hier nur kursorisch geschehen.
Scham und Konfliktdynamik
Alle Menschen kennen Scham, wenn auch in geschlechts- und kulturspezifischer Ausprägung. Scham kann von verschiedener Intensität sein und akut bis chronisch. Obwohl schmerzhaft, hat sie auch entwicklungsfördernde Funktionen: Sie wahrt die Grenzen zwischen Ich und Mitmenschen (Intimitäts-Scham), Zugehörigkeit (Anpassungs-Scham) und Integrität (Gewissens-Scham) (Marks 2007b). Ein Zuviel an Scham ist pathologisch: Wenn das Ich sich von Schamgefühlen wie überflutet, minderwertig, fühlt (Hilgers 2006). Solche Scham ist die Folge traumatischer oder kumulativ-traumatischer Grenzverletzung wie Missbrauch, Folter, Vergewaltigung (traumatische Scham) oder massiver Verletzungen von Zugehörigkeit oder Gewissensnormen. Scham wird häufig an die folgende Generation weitergereicht (Marks 2007a), da der Umgang mit ihr meistens unbewusst ist. Scham ist für viele Berufsgruppen (noch) kein Thema, obwohl sie in allen zwischenmenschlichen Begegnungen und vor allem in Konflikten akut werden kann.
Für den Umgang mit Konflikten ist entscheidend, wie sie von den Betroffenen jeweils wahrgenommen und verarbeitet werden. Einen grundlegenden Unterschied macht es, ob dies nach dem Scham-Modus oder nach dem Schuld-Modus geschieht: Scham und Schuld werden häufig verwechselt. Sie sind keine absoluten Gegensätze, unterscheiden sich aber idealtypischerweise in Folgendem:
Scham ist ein Gefühl, während Schuld einen Tatbestand bezeichnet. Oft liegt der Scham keine Schuld zugrunde, z.B. wenn Menschen sich dafür schämen, arm oder krank zu sein oder wenn sie erniedrigt wurden.
Die Kontrollinstanz ist bei der Scham außen (der Blick der Anderen), bei der Schuld-Verarbeitung intern (Gewissen).
Bei der Scham besteht die Sanktion in negativen Gefühlen, die durch die Gesellschaft verstärkt werden können durch öffentliche Anprangerung, Ehrverlust, Ächtung. Schande ist ein Makel, der die ganze Person (oft auch Familie, Gruppe oder Nation) trifft und der - wenn überhaupt - nur durch eine bestimmte Aktion zur Wiederherstellung der Ehre getilgt werden kann. Bei der Schuld besteht die Sanktion in Gewissensbissen. Durch Bestrafung und Wiedergutmachung kann Schuld abgetragen werden wie eine finanzielle Verschuldung.
Scham ist monologisch, erkennbar auch an der Körpersprache. Das erschwert die Klärung eines Konflikts. Im Unterschied dazu ist Schuldverarbeitung dialogisch.
Im Scham- bzw. Schuld-Modus sind unterschiedliche Gehirnregionen involviert: Scham ist wie ein kognitiver Schock, der höhere Funktionen der Gehirnrinde zum Entgleisen bringt (Nathanson 1987). Vernunft, Gedächtnis, Sprachvermögen oder Affekt-Regulierung sind dann nicht verfügbar. Das Ich befindet sich in existenzieller Angst und dabei werden primitivere neuronale Systeme aktiviert als z.B. bei Wertschätzung. Das Nervensystem ist ganz darauf ausgerichtet, der Angstquelle zu entkommen und verfällt auf die simpelsten Muster: angreifen, fliehen oder verstecken, im-Boden-versinken-wollen (Schore 1998).
Scham ist eins der schmerzhaftesten Gefühle, kaum auszuhalten, daher wird sie meistens unbewusst abgewehrt, d.h. durch erträglichere Verhaltensweisen ersetzt (Lewis 1993). Die wichtigsten Abwehrformen sind folgende:
Da »weiche« Gefühle wie Hoffnung, Liebe, Mitgefühl oder Reue verletzbar machen, werden sie hinter einer steinernen Maske verborgen oder »eingefroren«. Diese emotionale Erstarrung kann zu einer alles durchdringenden, chronischen Langeweile werden und zum Suizid führen (Wurmser 1997).
Durch Projektion werden andere mit den Eigenschaften ausgestattet, für die man sich selbst schämt (z.B. Schwäche, Angst), und mit den entsprechenden Ausdrücken - als »Schwächling«, »Feigling« o.ä. - beschimpft.
Durch Beschämung wird Passiv in Aktiv verwandelt: Andere werden verhöhnt, verachtet, schikaniert, gedemütigt, zu Objekten gemacht, ausgeschlossen oder vernichtet.
Das Kerngefühl, ein Nichts zu sein, kann auch abgewehrt werden durch Arroganz oder protzige Männlichkeit, mit der Selbstsicherheit vorgetäuscht wird. Vergleichbare Abwehrformen sind Trotz, Idealisierung, Größenphantasien u.a.
Da Fehler als selbstbedrohlich erlebt werden, müssen sie geleugnet werden, z.B. durch Lügen oder Rechtfertigungstiraden.
Durch »Reaktionsbildung« werden Schamgefühle abgewehrt, indem demonstrativ Schamlosigkeit gezeigt wird: Unverfroren werden Rücksichtslosigkeit, Verachtung von Idealen, Missbrauch zur Schau getragen.
Scham wird auch oft ersetzt durch Wut, die leicht zu Gewalt werden kann (Lewis 1993).
Wer von Schande betroffen ist, sucht seine verlorene Ehre wieder herzustellen.
Schamabwehr verursacht nicht nur Konflikte zwischen Individuen, sondern auch zwischen Nationen: Durch den Angriff auf andere erleichtert sich eine Gesellschaft ihrer Scham (Galtung & Tschudi 2003). Charakteristischerweise beginnt die militärische Grundausbildung damit, dass Rekruten beschämt werden. Das fördert ihre Gewaltbereitschaft, die von der Führung benutzt und gegen einen »Feind« gerichtet werden kann.
Gelegentlich werden besondere Verletzungen der Menschenwürde in der Bundeswehr publik; etwa wie die in Coesfeld, wo Rekruten mit Tritten und Elektroschocks gequält wurden. Zuvor waren sie informiert worden, dass diejenigen, die die Situation nicht mehr aushalten, von der Übung befreit werden könnten durch ein Losungswort: »Tiffy« - nach der rosafarbigen Vogelpuppe der Kinderfernsehsendung Sesamstraße, womit der Betreffende sich lächerlich gemacht hätte. Daher wagten viele nicht, das erlösende Wort zu sagen. Offizielle Sprecher beeilen sich nach solchen Vorfällen stets, sie als »Einzelfälle« zu banalisieren - ohne die allgemeinen Entwürdigungen der Rekruten zur Sprache zu bringen.
Menschen tun unglaubliche Dinge um ihre »verlorene Ehre« wieder herzustellen: Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, duellieren sich oder ziehen in den Krieg. Verwandte Begriffe sind Würde, Wertschätzung, Stolz, Ansehen, Achtung oder Respekt. Was unter Ehre und Schande zu verstehen ist, ist jeweils in einer Gesellschaft definiert. So hängt in manchen patriarchalischen Kulturen die Ehre des Mannes und seiner Familie vom ehrenhaften Verhalten seiner weiblichen Familienangehörigen ab. Ein Mann, der seine Ehre verloren hat und versäumt, diese wieder herzustellen, wird - mitsamt seiner Familie - aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und geächtet. Um diese Schande zu tilgen und die Ehre wieder herzustellen, muss z.B. die betreffende Tochter verstoßen oder ermordet werden (»Ehrenmorde«).
Von anderen Menschen nehmen wir i.d.R. zunächst nur ihre Maske wahr (z.B. emotionale Erstarrung, Arroganz oder Gewalttätigkeit), hinter der ihre Schamgefühle verborgen werden. Ein konstruktiver Umgang mit Konflikten wird ermöglicht, wenn wir zwischen Maske und Mensch unterscheiden. Dies setzt allerdings voraus, dass die eigene Scham-Geschichte bewusst gemacht und aufgearbeitet wurde. Andernfalls besteht die Gefahr, dass durch die Schamabwehr des Anderen die eigene Scham aktualisiert wird: Wenn wir z.B. vom Gegenüber verächtlich behandelt werden, werden eigene Schamgefühle geweckt, die es wiederum abzuwehren gilt, indem der andere beschämt wird etc. In der Folge eskaliert der Konflikt, da alle Beteiligten primär darauf bedacht sind, ihre Ehre zu retten.
Scham und Ehre im »clash of civilizations«
Um die politischen Entscheidungen einer Gesellschaft zu verstehen, ist es hilfreich, ihre Geschichte aus der Sicht der Scham-Psychologie zu betrachten. Dies soll im Hinblick auf den von Huntington (1997) prognostizierten »Kampf der Kulturen« an den Beispielen USA und Naher Osten/Islam skizziert werden.
US-amerikanische Scham-Verstrickung
Ein großer Teil der Einwanderer in die USA war vor Demütigung, Verfolgung oder Krieg aus ihren Heimatländern geflohen: Traumatische Erfahrungen und massive Verletzungen von Zugehörigkeit hinterlassen charakteristischerweise Scham. Diese Flüchtlinge bauten eine neue Gesellschaft auf mit dem festen Willen, sich nie wieder demütigen zu lassen. Diese Haltung ist verkörpert in Vorstellungen von Männlichkeit und einem Schande-Ehre-Kodex, wie sie vor allem in den Südstaaten bis in die Gegenwart vorherrschen (Lindner 2006).
Akkumuliert im kollektiven Gedächtnis der USA ist zudem die traumatische Scham der jahrhundertelang gedemütigten Ureinwohner und versklavten Schwarzen sowie die ihrer Kriegsveteranen (aktuell fast neun Prozent der US-Bevölkerung). Hinzu kommt Gewissens-Scham über die von den Weißen begangenen Verbrechen an ihren indianischen und schwarzen Mitbürgern, über die Rolle der USA bei der Ausbeutung der »Dritten Welt« (die durch mehr als 130 Kriege und militärische Interventionen bekräftigt wurde, vgl. Sagan 1988) sowie über die Kriegsverbrechen in Hiroshima, Nagasaki und Vietnam.
Noch mehr Scham resultiert aus Ereignissen, die aus Sicht vieler US-Bürger als demütigend erlebt wurden, wie das unrühmliche Ende des Vietnam-Krieges, die Geiselnahme in Teheran 1979-81 sowie die Angriffe vom 11. September 2001. Darüber hinaus anti-amerikanische Proteste. Schon die Distanzierung von der US-Politik (z.B. Frankreichs und Deutschlands beim jüngsten Irak-Krieg) wird als Beschämung erlebt.
Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die akkumulierte Scham von der US-Gesellschaft vorwiegend durch Größenphantasien und Selbst-Idealisierungen (»greatest nation«) abgewehrt wird sowie durch eine Außenpolitik, die durch Trotz, Schamlosigkeit und protzige Militäreinsätze gekennzeichnet ist. Dazu werden äußere Feinde benötigt, die per Projektion geschaffen werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion - von R. Reagans »Reich des Bösen« - drängte sich der islamistische Terrorismus als Feindbildersatz auf.
Vor allem die Bush jun.-Administration ist stark durch den Schande-Ehre-Kodex der Südstaaten geprägt (Lindner 2006). Danach wird erfahrenes Unrecht als Beleidigung erlebt und ein Mann, der diese hinnimmt, gilt als unmännlich. Verhandeln ist Feigheit, Nachdenklichkeit ist Schwäche (Cohen et al. 1998). Terroristen sind feige - »verstecken sich hinter Zivilisten« - und haben den Anspruch verwirkt, wie Menschen behandelt zu werden (Lindner 2006). Einen Fehler einsehen ist davonlaufen; verlieren ist schändlich und muss geleugnet werden. Etwa beim Irak-Krieg: „Aufzugeben würde heißen, dass Amerika nicht den Mumm hat, diesen Kampf durchzustehen“ (Cheney am 24.01.2007, zit. n. M. Günther 2007, S.5). So scheint mir die US-Politik in einem Teufelskreis der Schamabwehr gefangen: Außenpolitische Entscheidungen, getroffen um Scham abzuwehren, provozieren bei anderen Akteuren Gegenreaktionen, die in den USA wiederum als Beschämung erlebt und abgewehrt werden.
Scham-Verstrickung im Nahen Osten
Auch die Menschen im Nahen Osten sind durch massive Grenzverletzungen in ihrer Geschichte geprägt; vor allem durch die Kreuzzüge, denen unzählige Menschen zum Opfer fielen. Von dieser „Gewaltorgie“ (Bednarz et al. 2006, S.76) hat sich diese Region seelisch nie erholt. An das Trauma der Kreuzzüge appellieren Islamisten, indem sie Israel als Verbündeten der Kreuzzügler darstellen, die heilige Stätten besetzen. Diese Wahrnehmung wird gefördert, wenn von westlicher Seite der Kampf gegen den islamistischen Terror als »Kreuzzug« propagiert wird. Das Trauma der Kreuzzüge wurde durch den Kolonialismus vertieft, durch den Verlust von Ländereien infolge der jüdischen Besiedlung Palästinas, durch militärische Niederlagen gegen Israel sowie durch Ohnmacht, Armut und den Flüchtlingsstatus von Millionen Palästinensern.
Die daraus resultierende Scham ist umso schmerzhafter, als Würde und Ehre im Islam von zentraler Bedeutung sind: „Für die Ehre (namus) leben Frauen und Männer, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise“ (König 1989, S.244). Das männliche Oberhaupt der Familie ist verpflichtet, seine Familie zu ernähren und die Ehre seiner Familie zu bewahren bzw. wieder herzustellen, etwa wenn ein Familienmitglied beleidigt wird oder wenn die Grenzen des Haushalts verletzt werden. Ein Mann, der dies versäumt, gilt als unmännlich und wird mit seiner ganzen Familie aus der Gesellschaft ausgestoßen (König 1989; Breuer 1998).
Vor diesem Hintergrund wird verstehbar, weshalb viele Palästinenser die israelische bzw. westliche Politik als Erniedrigung erleben und sich ihres Flüchtlingsstatus schämen, wie Dan Bar-On (2007) beobachtet. Augenscheinlich wird diese Scham durch den islamistischen Terrorismus instrumentalisiert. Nach Ansicht des arabischen Kulturphilosophen Hassan Abbas ist die Hisbollah so attraktiv, weil sie „unser gepeinigtes Selbstwertgefühl (poliert)“ (zit. n. Zand 2006, S.99). So mag nach der Logik des Scham-Modus ein Selbstmord-Attentat die ultimative Tat zur Rettung der Ehre darstellen, besteht sie doch im ultimativen Opfer: dem des eigenen Lebens. 36 Prozent der Jugendlichen in Gaza gaben als ihr Lebensziel an, »schahid« (Märtyrer) werden zu wollen (I. Günther 2004).
Im Westen wird die zentrale Bedeutung von Würde bzw. Scham für islamische Kulturen i.d.R. übersehen. Der türkische Romancier Orhan Pamuk weist darauf hin: „Der Westen ist sich kaum des überwältigenden Gefühls der Demütigung bewusst, das die Mehrheit der Weltbevölkerung empfindet“ (zit. n. Lau 2001). Im Gegenteil, im Westen wird z.B. die Empörung von Muslimen gegen karikaturistische Darstellungen des Propheten gerne zum Anlass genommen, sich umso abwertender über den Islam auszulassen. So spottet etwa Broder über diese „Ausbrüche kollektiver Hysterie“ von „Irren“, die „chronisch zum Beleidigtsein neigen“, ausgelöst durch „ein paar harmlose Karikaturen“ (Broder 2006, S.38-40). Einsichten in die Dynamik von Scham und Ehre, welche die wütenden Proteste von Millionen von Menschen verstehbar machen könnten, werden ersetzt durch antiislamische Verachtung, welche die west-islamische Spirale gegenseitiger Entwertungen und Gewalt noch weiter antreibt.
Diese Entwertung geschieht in vielfältiger, auch struktureller Form. Zum Beispiel drückt sich das Sendungsbewusstsein der USA (vgl. Huntington 1997, S.292) in einer arroganten Haltung gegenüber dem Irak aus, wonach die USA dort „Babysitter in einem Bürgerkrieg“ spielen, so Barack Obama (zit. n. Ilsemann & Mascolo 2007, S.100). Die Entwertung der Muslime erfolgt auch durch tendenziöse Berichterstattung in den Medien (Schiffer 2005) und eine öffentliche Wahrnehmung, die oft nicht zwischen Islam und islamistischem Terrorismus differenziert. Erniedrigend wirken auch die Photographien aus Abu Ghraib und Zuschreibungen wie z.B. „Ziegenficker“, die der ermordete Regisseur Theo van Gogh häufig benutzt haben soll.
Ausblick
In den USA wie im Nahen Osten wurde über die Jahrhunderte auf unterschiedliche Weise massiv Scham akkumuliert, die zu Abwehr drängt. Die Abwehrtechniken werden durch Projektionen, Denkschablonen und das Verhalten der jeweils anderen Seite scheinbar legitimiert. Zusätzliche Brisanz erhält die Konfrontation von Westen und Islam dadurch, dass ersterer durch ein Christentum geprägt ist, das seit Jahrhunderten vorwiegend die Unwürdigkeit des Menschen predigt, während letzterer seine Anhänger für ihre Würde und deren Verletzung in besonderem Maße sensibilisiert (auch wenn Würde hier patriarchalisch definiert wird).
Gibt es einen Ausweg? So sehr unbewusste, abgewehrte Scham zwischenmenschliche Beziehungen vergiftet, so sehr vermag bewusste Schamverarbeitung Solidarität und Zusammengehörigkeit stiften, weil Scham ein Gefühl ist, dass alle Menschen kennen. Pamuk spricht von der befreienden Wirkung, „verborgene Schamgefühle mit anderen zu teilen“ (Pamuk 2005, S.17). Dies zeigte sich z.B. in einem Seminar des Autors mit deutschen, israelischen und palästinensischen Teilnehmenden: Die ersten Tage waren durch die politischen Meinungsverschiedenheiten dieser drei Gruppen bestimmt. Das änderte sich, sobald Scham zum Thema gemacht wurde: Es entstand eine tiefe emotionale Verbundenheit.
Anmerkung
Ich danke Tilman Evers für die Mitarbeit an diesem Artikel.
Literatur
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Dr. Stephan Marks, Sozialwissenschaftler, arbeitete 5 Jahre in den USA für Gewaltfreiheit, ist Leiter des Forschungsprojekts Geschichte und Erinnerung, bildet Berufstätige in pädagogischen und psychosozialen Arbeitsfeldern über Scham und Menschenwürde fort.