Schild Europas oder Schwert Amerikas?
Unterschiedliche Interessen in der Außen- und Militärpolitik
von Egon Bahr
Die USA haben nach dem11. September ein neues beispielloses Hochrüstungsprogramm beschlossen. Gleichzeitig haben sie ihren Macht- und Einflussbereich in einem Maße erweitert, wie das vor einem Jahr noch unvorstellbar gewesen ist. Militärtechnisch gelten sie als uneinholbar und die Differenz zu allen anderen Staaten der Welt wird mit jedem Monat größer. Wie muss unter diesen Bedingungen die europäische Außen- und Sicherheitspolitik aussehen? Geht es darum »nachzurüsten«, damit die eigenen Armeen mit den Amerikanern kompatibel einsetzbar bleiben oder braucht Europa eine eigene Rolle, bei der der politische Faktor wichtiger ist als der militärische? Egon Bahr zu den Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Interessen zwischen den USA und Europa.
Neben anderen wichtigen und wünschbaren Elementen lassen sich als vitale Interessen zwei Ziele deutscher Außenpolitik definieren: Die Selbstbestimmung Europas und eine stabile gesamteuropäische Friedensordnung. Beide Themen ergänzen sich und entsprechen definierten Interessen auch unserer Nachbarn. Beide Ziele sind gefährdet.
Das ergibt sich durch den Blick auf unseren wichtigsten Verbündeten und seine neue Position. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts war dem Gleichgewichtsdenken, das Kissinger vollendet hat, der Boden entzogen. Seither galt, was die erwähnte Kommission als vitales Interesse definiert hat, nämlich die einzigartige Führungsrolle der USA zu sichern und zu erweitern. Das ist militärtechnisch in einem Ausmaß gelungen, das die Uneinholbarkeit zu allen anderen Staaten der Welt mit jedem Monat vergrößert.
Der Gipfel der amerikanischen Zielvorstellungen war im letzten Sommer erreicht, als Paul Wolfowitz, stellvertretender Verteidigungsminister, vor dem Streitkräfteausschuss des Senats ein gigantisches Rüstungsprogramm vorstellte, das zu Lande, auf See, in der Luft und im Weltraum durch die kontinuierliche Einführung neuer zum Teil exotischer Waffen durch ihre bloße Existenz jedes Land entmutigen soll, sich auf einen Wettlauf überhaupt einzulassen. Zu der atemberaubenden Dimension dieses Programms der Großen Abschreckung gehören neue kleine und kleinste Atomwaffen, Raketenabwehrsysteme und Waffen im Weltraum, die durch Laser jeden Punkt auf dem Globus angreifen können.
Die Selbstsicherheit für eine solche Pax Amerikana mit ihrem Traum der Unangreifbarkeit wurde durch den 11. September erschüttert. Washington passte sich schnell an, erklärte: „Wir brauchen die Vereinten Nationen“ und schuf eine globale Allianz gegen den Terror. Dieses Bündnis ohne Vertrag wird durch das gemeinsame Interesse aller Staaten zusammengehalten, die zurecht fürchten, dass die entstaatlichte Gewalt gegen das bisher unbestrittene Gewaltmonopol der Staaten, jeden Einzelnen von ihnen destabilisieren kann. Unter dieser Gefährdung lebt auch Deutschland. Mit allen sich daraus ergebenden Risiken.
Während die Welt sich durch diese neue Priorität verändert hat, sind die alten Prioritäten unverändert geblieben, nur zurückgestuft auf ein Niveau, das nicht mehr alarmieren soll. In dem Augenblick, in dem der Krieg die Taliban zerschlagen hatte, wurde der ABM-Vertrag als »Relikt aus dem überwundenen Kalten Krieg«, aber hinderlich für Weltraumwaffen, gekündigt. Gleichzeitig wurde das gigantische Rüstungsprogramm der Großen Abschreckung in Form des entsprechenden Haushaltsantrags eingebracht. Mit seinen Auswirkungen wird sich Europa auseinander zu setzen haben.
Sollte Amerika kleine Atomwaffen hier stationieren wollen, natürlich ohne sie den europäischen Armeen zu geben, oder einen europäischen Finger an die atomaren Knöpfe zu lassen, würden Verträge berührt, auf die alle stolz waren und sind, und die delikate Frage aufwerfen, ob auch die neuen NATO-Mitglieder einbezogen werden, damit innerhalb dieser qualitativ neuen Sicherheitsglocke in Europa Deutschland kein Sonderprotektorrat wird.
Die Raketenabwehr wirft für Europa fundamentale Fragen auf. Es geht nicht um die weitreichenden Systeme, die zwischen Washington und Moskau behandelt werden, sondern um Kurz- und Mittelstreckenabwehr gegen Raketen, die Schurkenstaaten unbestritten in den nächsten 10 – 15 Jahren entwickeln könnten. Der amerikanischen Aufforderung an die NATO-Verbündeten, sich mit dem Gedanken zu befreunden, mitzumachen und wenn die Technik reif ist, solche Systeme zu stationieren oder stationieren zu lassen, hat die Bundesregierung zutreffend beantwortet: Die Voraussetzungen für eine Entscheidung sind nicht gegeben. Aber sich rechtzeitig Gedanken zu machen, ist empfehlenswert.
Raketenabwehrsysteme stellen eine neue militärische Qualität dar. Sie sind umso sinnvoller, je weiter sie gegen potenzielle Angreifer vorgeschoben stationiert werden, also auch in Staaten, in denen es bisher keine amerikanischen Stützpunkte gibt, wie Polen und Tschechien. Die bisherige Diskussion lässt nicht erwarten, dass Europa auf diesen amerikanischen Vorschlag eine einheitliche geschlossene Antwort geben wird. Wenn aber einige Länder, etwa England, Italien, die Türkei, vielleicht auch Polen positiv votieren, andere negativ, dann würde die Raketenabwehr zu einem Spaltpilz europäischer Gemeinschaftsbestrebungen werden. Wenn die Antworten aus Paris und Berlin auseinanderfallen, würde das tiefgreifende Folgen mit Langzeitwirkung haben; denn die Raketenabwehr hat eine weiter reichende politische und strategische Dimension.
Installierte amerikanische Raketenabwehr wäre ein neues Element militärischer Dominanz in Europa. Daneben würden Bestrebungen einer europäischen Identität mit einer Verteidigungskomponente zur Lächerlichkeit schrumpfen. Geostrategisch würde es für Washington zu einer ziemlich untergeordneten Frage werden, ob Paris und Berlin ihre Antriebskräfte für die europäische Union bündeln. Wann und wie es Europa gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, wäre relativ unerheblich angesichts der amerikanisch kommandierten Spitzentechnik der NATO, die kurzfristig nicht wieder abgebaut werden kann.
Das neue Instrument amerikanischen Protektorratsdenkens geht logisch nur bis an die Grenzen der NATO. Es bezieht außerhalb liegende Staaten nicht ein und vertieft also die sicherheitspolitische Grenze in Europa. Es ist das Gegenteil einer gesamteuropäischen Struktur. Es gibt einen russischen Vorschlag, bisher auch nicht verhandlungsreif, der das europäische Wissen bündeln und unter amerikanischer Beteiligung eine gesamteuropäische Raketenabwehr bringen soll. Falls die Europäer darauf bestehen, diesen Vorschlag ernsthaft zu prüfen, würde sich herausstellen, ob die Amerikaner nur ihre Streitkräfte und Verbündeten schützen und damit die Herrschaft über ihren Teil Europas wollen oder ob sie bereit sind, den Schutzschirm vor Raketen über ganz Europa aufzuspannen.
Die Sicherheits-Analyse ergibt: Wo die NATO bestimmt, kann Europa nicht bestimmen. Wenn die Große Abschreckung die NATO in Europa zu ihrem Instrument gewinnt, werden gesamteuropäische Überlegungen, europäische Selbstbestimmung, NATO-Russland-Akte und OSZE zu Fragen nachgeordneter Spielfelder, und zwar umso mehr, je mehr die NATO erweitert wird. Helmut Schmidt hat die NATO-Erweiterung für die europäische Union als „eher schädlich“ bezeichnet, „weil sie den Amerikanern nicht ein Mitsprache-recht, sondern ein Übersprach-Recht über die europäischen Dinge beschert“.
Nach amerikanischen Überlegungen könnten im Herbst dieses Jahres in Prag nicht nur Slowenien und die Slowakei neue Mitglieder der NATO werden, sondern auch die drei baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien. Ein solcher großer Schritt hätte den Vorteil, dass man den Wünschen dieser Länder entspräche, Russland es nicht verhindern könnte und man den Ärger mit Moskau nur einmal hätte. Nach einer derartigen Arrondierung der NATO taucht dann phantasieanregend das Ostufer des Schwarzen Meeres auf. Dort liegt Georgien.
Nach dem atomaren und dem Raketenabwehr-Aspekt der Großen Abschreckung für Europa muss noch der konventionelle Sektor betrachtet werden. Die neue Generation von Waffen auf diesem Gebiet wird die Frage stellen, wie weit die Europäer ihre Armeen »nachrüsten«, damit sie mit den Amerikanern kompatibel einsetzbar bleiben. Von der üblichen Modernisierung abgesehen, der sich keine Armee entziehen kann, wird die Kluft ständig größer, wenn die amerikanischen Soldaten mit Waffen ausgerüstet werden, die für ihre globale Verwendung entwickelt wurden, für Europa weder gedacht noch erforderlich sind. Die europäischen Armeen könnten anders aussehen, wenn sie auf die Bedürfnisse der europäischen Verteidigung ausgelegt sind, hier jedem konventionellen Angriff überlegen, oder wenn sie mit und neben den Amerikanern global einsetzbar sein müssen. Dieses Problem wird sich schon für die 60 000 Mann der europäischen Eingreiftruppe stellen, die bis Ende 2003 aufgestellt werden sollen.
Amerika kann nicht erwarten, dass Europa die Voraussetzungen schafft, um die amerikanischen globalen Interessen unterstützen zu können. Europa braucht die Große Abschreckung nicht. Es kann sie nicht verhindern, aber es muss sie nicht mitmachen.
Zuweilen gewinnt man den Eindruck, als hätten einige Europäer es eilig, Amerika ähnlicher oder gleicher zu werden, in der Hoffnung, damit verstärkte Mitsprache zu erhalten. Von dieser Illusion sollte Europa endlich Abschied nehmen. Wir hatten sie nicht, als die Bundeswehr stärkere Panzerstreitkräfte als die USA unterhielt. In den zurückliegenden Jahrzehnten haben die Amerikaner nur die vorletzte Technik weitergegeben und ihren Vorsprung ständig vergrößert. Sie denken auch heute keine Sekunde daran, das Wissen zu teilen, das ihnen die Überlegenheit garantiert. Das kann doch auch niemand übel nehmen. Was sie weitergeben und was woanders der letzte Schrei ist, stärkt ihre Wirtschaft, schafft Abhängigkeiten, aber ist natürlich für Amerikas Uneinholbarkeit ganz ungefährlich. Ein Tor ist, wer glaubt, mehr Mitsprache kaufen zu können. Die Technik für Raketenabwehr, Marschflugkörper, Tarnkappen oder Vakuumbomben steht nicht zum Verkauf. Das gilt für die ganze NATO. Die besten Waffen unserer Freunde bekommt sie nicht; die besten Waffen unserer Freunde braucht sie nicht zur Verteidigung; sie soll rüsten, um global besser einsetzbar zu werden. Nicht gleichwertig, aber zuweilen ganz nützlich.
Die erkennbare und beschlossene amerikanische Rüstungs-Politik stellt einen fundamentalen Angriff gegen die erklärten europäischen Interessen dar. Dieser Angriff ist nicht böse gemeint, sondern nur die Fortsetzung der Selbstverständlichkeit, mit der Amerika auch künftig seiner erklärten Politik folgen wird. Das ist kein unfreundlicher Akt, aber er wird Europa nicht vor der Entscheidung bewahren, ob es seine Streitkräfte als Schild Europas oder als Schwert Amerikas auslegen will. Ob es sicherheitspolitisch Protektorat bleiben oder selbstbestimmt werden will; ob nicht nur Amerika, sondern auch Europa seinen Interessen folgt; ob der Emanzipation des EURO die Emanzipation Europas folgt. Vasallen erstreben das Lob der Protektoratsmacht, Partner respektieren und berücksichtigen die unterschiedlichen Rollen.
Jeder junge Mensch wird mit seiner Volljährigkeit selbstverantwortlich für sein Tun oder Unterlassen. Er muss sich von seinen Eltern emanzipieren, ohne deshalb zum Feind seiner Eltern zu werden. Volljährigkeit wird bei Staaten Souveränität genannt. Deutsche Emanzipation bedeutet keine Feindschaft zu Amerika. In mehr als 50 zurückliegenden Jahren haben sich freundschaftliche Gefühle entwickelt, kulturelle und persönliche Bindungen, Lebensgewohnheiten, nicht identische aber doch ähnliche Wertvorstellungen. Das wird ein starkes und bleibendes Fundament der Transatlantischen Beziehungen bleiben.
Dieses Fundament ist auch nicht dadurch erschüttert worden, dass Amerika schon seit Jahren immer deutlicher seine von Europa differierenden Interessen verfolgt hat. Das gilt nicht nur für die unterschiedlichen Auffassungen von der sozialen Rolle des Staates, für die es eine europäische Tradition gibt, oder die Gefährdung der Umwelt, des Weltklimas oder des Energieverbrauchs, wo Amerika sich internationalen Konventionen entzieht. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat Amerika das Gewicht seiner Interessen verlagert. Geostrategisch ist die Türkei wichtiger geworden als Deutschland. China, Indien und Japan beschäftigen in Washington ungleich mehr als der alte Kontinent, der sicherheitspolitisch zu Recht als Protektorat betrachtet wird. Die europäische Union erscheint als ein großes und zänkisches Kaufhaus, in dem sich die Händler streiten, während die Politiker, wie seit 40 Jahren, fortfahren, die Einstimmigkeit zu suchen, während sie das Warenhaus vergrößern wollen. Damit will und kann Amerika sich nicht aufhalten. Lasst die Europäer ihre Identität suchen, wir haben sie und handeln nach unseren Werten, die uns an die Spitze der Welt geführt haben. Die Chance Europas im neuen Jahrhundert ist ein Ordnungssystem statt der Androhung von Gewalt.
Nach dem 11. September ist das alles noch krasser geworden. Klagen der Europäer über das Nachlassen von Aufmerksamkeit und Zuneigung werden weniger ernst genommen und wirken zum Teil komisch. Amerika blickt nach vorn, Europa muss das auch tun. Amerika handelt, wie es ihm seine Verantwortung geraten erscheinen lässt. Europa hängt seiner Nachkriegspolitik nach. Amerika fühlt sich nicht mehr an das Angebot an Deutschland von Präsident Bush, dem Älteren gebunden, zur »Partnership in Leadership«; es ist auch nicht Europa gegenüber wiederholt worden. Amerika hat kühl und richtig analysiert, dass im Krieg gegen den Terrorismus der politische Faktor Moskau wichtiger ist, als der militärische Faktor NATO.
Hierzulande wird für den fortgesetzten Schulterschluss mit Amerika beschwörend geworben; dabei fehlt die Klarheit, dass die europäische Eigenständigkeit mit dem deutsch-französischen Motor unerreichbar wird, wenn Deutschland im Zweifel immer die amerikanische Position vertritt. Wenn Paris und Berlin nicht fähig zu einem strategisch politischen Durchbruch sind, weil dort die Präsidentschaftswahlen und hier die Bundestagswahlen das verhindern, so darf und wird Amerika nicht darauf warten.
Der Schulterschluss wird schwieriger werden: Der Widerspruch zwischen vertiefter Dominanz Amerikas über Europa und Handlungsfähigkeit Europas nach eigenem Recht ist unübersehbar. Deutschland muss beim Abkommen zur Verbannung der Landminen bleiben, auch wenn Amerika nicht mitmacht, bei der Ausweitung der Konvention über biologische und chemische Waffen, auch wenn Amerika sie ablehnt, bei der Gründung eines internationalen Gerichtshofs, auch wenn Amerika sich verweigert und seinen Präsidenten sogar ermächtigen will, Amerikaner zu befreien, die wegen möglicher Verbrechen vor ihn gestellt würden. Deutschland muss für die Stärkung der UN wirken, Amerika lässt sich durch den Sicherheitsrat nicht binden, soweit es nicht seinen Interessen dient. Das alles und mehr kann sich Amerika leisten. Es entscheidet, wann es sich »im Krieg befindlich« erklärt. Es proklamiert als Ziel »Unbegrenzte Gerechtigkeit« und korrigiert auf »Dauerhafte Freiheit«. Führende Intellektuelle und Wissenschaftler begründen den »Gerechten Krieg«, ohne ihr Land zu mahnen, den selbstgesetzten Regeln auch selbst zu folgen. Aber Kritik an der amerikanischen Stärke ist die Kritik der Schwäche. Die Sprache der Macht findet den Widerspruch der Machtlosen. Die Warnung, Amerika überschätze das Militärische, kommt von den Kleinen; die haben es leichter, weise zu sein als die Großen. Fehler können sie beide machen, aber die Mächtigen können sie leichter durch Gewalt zudecken.
Ein Vorschlag, Amerika sollte einen Vertrag zum Gewaltverzicht unterschreiben, würde heute absurd wirken, um es milde zu sagen. Gerade das ist vor einem viertel Jahrhundert geschehen. Das deutsche Konzept, mit der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Pakts einen Gewaltverzichtsvertrag zu verhandeln und abzuschließen, wurde 1970 von Präsident Nixon gedeckt. Es konnte ja nichts passieren. Amerika garantierte mit seiner Macht, dass diese Idee nicht gefährlich werden konnte. Sie war überaus erfolgreich. Und 1975 hat Amerika in Helsinki die bilaterale Formel des Moskauer Vertrages auf die europäische Ebene übertragen und den Gewaltverzicht unterschrieben. Er wurde 1989 in der Charta von Paris zum europäischen Grundgesetz.
Gewaltverzicht war die vertragliche Umsetzung der Erkenntnis: Die Stärke des Schwachen ist das Recht, das auch für Stärkere verbindlich ist, die Mittel sind Diplomatie und Verhandlungen. Durch kontrollierbare Bindungen eine Stabilität zu schaffen, in der das Gewicht des Militärischen geringer wird, das ist der europäische Weg. Auf die Gegenwart übertragen könnte daraus eine Doktrin werden: Europa versucht präventiv und politisch zu erreichen, dass etwaige Schurkenstaaten nicht schurkisch handeln, ähnlich wie in der Ostpolitik gedeckt durch die amerikanische Macht. Während Amerika seine militärische Kulisse entwickelt, sollte Europa seine Politische entfalten, damit die Militärische möglichst nicht genutzt werden muss. Es wäre eine Arbeitsteilung, die Amerika nichts von seiner Stärke nimmt, vielleicht einen Krieg erspart, und den Schwächeren, also den meisten Ländern, die Chance gibt, die Stärke des Rechts zu fördern.
Eine solche Rolle berücksichtigt, dass die Selbstbestimmung Europas schrumpft, wenn Spannungen wachsen, sein Gewicht sich bei Konfrontation verringert und bei Ausbruch offener Gewalt weitgehend verschwindet. Krieg ist der Feind Europas. Amerika kann auf Kriegsgewinn setzen. Es hat die Mittel dafür.
Die Versuchung ist groß, wie wir wissen. Die Bilanz des 11. September enthält nicht nur die mehr als 3.000 Unschuldigen, die umgebracht wurden, sondern eine Macht- und Einflusserweiterung, die vor einem Jahr unvorstellbar gewesen ist. Amerika hat sich in Zentral-Asien politisch und militärisch etabliert. Ob und wann es seine Stützpunkte nicht nur in Usbekistan sondern in anderen Republiken am Südrand der früheren Sowjetunion aufgeben will, ist offen. Es hat natürlich auch nicht das Buch »Die einzige Weltmacht« vergessen, in dem der angesehene Sicherheitsberater Präsident Carters, Zbig Brzezinski, befunden hat, Amerika müsse den asiatischen Kontinent kontrollieren, auf dem sich das Wesentliche wie in den letzten 2000 Jahren auch künftig abspielen werde. Die Gelegenheit scheint günstig, den berechtigten Krieg gegen den Terrorismus mit den Interessen der Einflusserweiterung zu kombinieren. Da könnten Grenzen neu gezogen werden, böse oder unliebsame Regime beseitigt werden. In einer Region Ordnung zu schaffen, wo viele Tiger und Hammel versammelt, aber auch große Reichtümer an Energiereserven vorhanden sind, das ist eine Chance, die auch Risiken lohnt. Vorwürfe der Impotenten gegen den Potenten sind witzlos.
Wichtiger ist die Frage: Wo bleibt Europa? Für den Spannungsbogen vom mittleren Osten über die Kaukasus-Region bis nach Zentral-Asien gibt es keine europäische Politik. Für die neuen Republiken von Georgien bis an die chinesische Grenze gibt es aber vertragliche Bindungen. Alle sind der Organisation für Sicherheit Zusammenarbeit in Europa beigetreten, als die Sowjetunion zerfiel. Alle haben sich auf die Kriterien der OSZE verpflichtet. Es ist in Deutschland kaum bewusst geworden, dass damit auch unser Land ein Engagement eingegangen ist. Bisher wurde den Russen dort freie Hand gelassen, nun auch den Amerikanern, wobei die eine oder andere Republik es längerfristig vorziehen könnte, seine auf Europa gerichtete Orientierung überhaupt aufzugeben. Der 11. September hat Afghanistan hinzutreten und das Problem komplexer werden lassen. Auch dafür könnte Europa versuchen, aus seiner Schwäche eine Stärke zu machen. Gerade weil es in diesem Raum keine unmittelbaren Machtinteressen hat, ist es glaubwürdig, wenn es sich dort für Ausgleich, für Zusammenarbeit, für Verhandlungen, für Abkommen, also für Stabilität einsetzte.
Es würde damit zugleich glaubwürdig deutlich machen, dass sein Schwerpunkt in Europa liegt, auch militärisch. Hier stellt sich die historische Aufgabe des Jahrhunderts, eine stabile Ordnung zu schaffen, die Kriege zwischen seinen Staaten unmöglich macht. Napoleon und Hitler sind gescheitert. Ohne Amerika geht das nicht mehr, ohne Russland auch nicht. Europa kann das schaffen. Wenn nicht, wird es marginalisiert werden.
Aus dieser Sicht wächst unser überragendes Interesse an einem Gelingen der Reformen in Russland. Präsident Putin hat mit seiner Rede vor dem Bundestag deutlich gemacht, dass er für eine Westorientierung nicht erst gewonnen werden muss. In der Geschichte bleiben Fenster der Gelegenheit nicht unbegrenzt offen. Das gemeinsame Interesse an der Erhaltung der globalen Allianz gegen den Terror hat eine bemerkenswerte Konstellation geschaffen. Die NATO ist weniger wichtig geworden, der NATO-Russlandrat kann – endlich – entscheidungsfähig gemacht werden, Russland kann Mitsprache in der NATO bekommen, seine künftige Mitgliedschaft ist nicht mehr undenkbar. Das kann eine NATO-Erweiterung heute erträglicher für Russland machen.
Deutschland sollte im NATO-Russlandrat, in dem die vier Atommächte vertreten sind, beantragen, die Strategie der Abschreckung für alle Staaten dieses Gremiums abzuschaffen. Dieses Relikt aus dem »überwundenen Kalten Krieg« hat keinen Sinn mehr. Dieses Argument ist auch Präsident Bush vertraut. Russland ist kein Gegner mehr. Partner, die an einem Tisch sitzen und nicht aufgeben, sich atomar zu bedrohen, wären Dummköpfe oder Betrüger. Von der Drohung des Ersteinsatzes gegeneinander sollten sich die Staaten dieses Gremiums jedenfalls befreien. Der große Atomschirm, den Washington und Moskau aufgespannt lassen, reicht.
Das erweiterte Europa wird sich klarmachen, dass die NATO auf die Nationalstaaten ausgerichtet ist. Jeder von ihnen behält das Recht zur Entscheidung. Das ist unvereinbar mit dem Ziel zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die Ausrichtung auf eine Union widerspricht dem Prinzip einer nationalstaatlichen Interessenvertretung. Wenn Europa wirklich selbst handlungsfähig werden will, ist seine politische Volljährigkeit nicht zu verhindern. Der heutige Zustand wird jedenfalls beendet werden müssen, dass der Union, sofern sie einig ist, die Mittel fehlen. So lange machtpolitisch die NATO entscheidet, kann die EU nicht selbständig handeln, so lange sie die NATO fragen muss und sie kann nicht fragen, so lange sie uneinig ist.
Der letzte amerikanische Botschafter in Berlin hat lapidar festgestellt: „Deutschland hat seine Rolle noch nicht gefunden“. Er hätte dasselbe auch für Europa sagen können. Wie lässt sich aus diesen Überlegungen eine deutsche Konzeption seiner Außen- und Sicherheitspolitik zusammenfassen? Die europäische Handlungsfähigkeit erreichen zu einer neuen Ostpolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit. Jedes Stück gesamteuropäischer Stabilität ist ein Stück wachsender europäischer Unabhängigkeit. Aus schnellen Eingreiftruppen eine europäische Armee entwickeln, die unseren Kontinent konventionell verteidigungsfähig macht, aber darüber hinaus im Einzelfall nur eingesetzt wird, wenn ein Mandat der UN oder ein Wunsch der OSZE vorliegen. Und schließlich: Eine kooperative Partnerschaft mit Amerika für eine Weltordnung, in die unser mächtigster Verbündeter uns führt und deren Regeln es sich selbst unterwirft.
Ob sich der Blick auf den inneren Zustand unseres Landes richtet oder auf seine Möglichkeiten nach außen: Falls es zu einer solchen Gruppe kommt, die dann wohl Kommission genannt werden wird und den Sommer bis zur Wahl nützen könnte, sie wird unserem Land nur helfen können, wenn ihre Vorschläge die alte Epoche hinter sich lassen, die unser Denken mitsamt den alten Feindbildern geprägt hat und uns bewusst machen: Die Vergangenheit darf die Zukunft nicht behindern.
Ein zweites Grundelement der europäischen Entwicklung muss dazu überlegt werden. Wir haben von der Westverschiebung des Kontinents gesprochen. Für lange Jahrzehnte stimmte das. Die deutsche Einheit, d.h. die Integration der DDR in den Westen hat diese Beobachtung bestätigt. »Deutschlands langer Weg nach Westen« ist der Titel eines renommierten Zeithistorikers. Nun gilt es, die Gegenbewegung in den Blick zu nehmen. Die neue Ostpolitik bedeutet eine Verschiebung der Gewichte nach Osten. Erweiterung der EU und Erweiterung der NATO verlagern Europa nach Osten. Die Einbeziehung Russlands in NATO-Entscheidungen wird diese Entwicklung verstärken. Natürlich ist gewollt und willkommen, wenn westliche Zivilisationskriterien, Lebensstandard und Wertvorstellungen nach Osten wandern. Sie treffen dort auf andere Traditionen, andere Mentalitäten; sie werden dort der Kraft, der Geografie und der Geschichte ausgesetzt sein. Einige Analogien zu den Problemen der deutschen Einheit kann es dabei durchaus geben, bei aller Unvergleichbarkeit.
Wenn es gelingt, dass die EU dabei nicht verfehlt, ihre internationale Handlungsfähigkeit zu erreichen, und wenn die NATO sich dabei in die Richtung eines kollektiven Sicherheitssystems entwickelt, dann wäre das für das wachsende Selbstvertrauen und das Gewicht Europas nur zu begrüßen. Das sind zwei bedeutende, einschränkende Voraussetzungen, die nicht einzuschätzen sind. Nicht weniger relevant könnte die gleichzeitige geostrategische Dominanz Amerikas sein, die auch nach Osten wandert. Welche dieser Elemente sich letztlich durchsetzen werden, wird spannend zu beobachten sein.
Professor Egon Bahr, Bundesminister a. D., Mitglied im Kuratorium der Stiftung Entwicklung und Frieden
(Der vorstehende Artikel dokumentiert den Redebeitrag von Egon Bahr während der »Potsdamer Frühjahrsgespräche 2002« der Stiftung Entwicklung und Frieden am 18. April).