W&F 2014/1

School-Shootings

Aktueller Forschungsstand

von Vincenz Leuschner und Nils Böckler

Spätestens seit dem Attentat an der Columbine High School in Littleton (USA) 1999 sind Anschläge von (ehemaligen) Schülern an ihren Schulen zu einem weltweiten Phänomen geworden, das sich nicht mehr nur in Staaten des globalen Nordens (USA, Kanada, Deutschland, Finnland), sondern mittlerweile auch in Schwellenländern (Brasilien, Südafrika, Thailand) beobachten lässt. Gegenwärtig lassen sich derartige Gewaltakte in wenigstens 23 Ländern der Erde nachweisen (Bondü et al. 2013). Seit Ende der 1990er Jahre sind solche Gewalttaten Gegenstand der sozialwissenschaftlichen, kriminologischen und psychologischen Forschung, so dass mittlerweile einerseits zwar einige Erkenntnisse vorliegen, andererseits aber noch eine Vielzahl an Fragen ungeklärt ist. Im vorliegenden Beitrag soll der bisherige Erkenntnisstand zu School-Shootings vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung vorgestellt werden.

Ausgehend von den USA hat sich seit den 1990er Jahren ein jugendliches Gewaltphänomen international verbreitet, welches mit Begriffen wie »School-Shooting«, »Rampage-Shooting«, »Schulamok« oder »schwere zielgerichtete Schulgewalt« bezeichnet wird und eine Konfliktlinie innerhalb westlicher Gesellschaften beschreibt. Im Kern handelt es sich um versuchte und vollendete Tötungen von Schülern oder ehemaligen Schülern an ihren aktuellen oder früheren Schulen. In Deutschland stehen die Ortsnamen Winnenden, Erfurt und Emsdetten sinnbildlich für derartige Taten.

Ungeachtet der Tatsache, dass School-Shootings ein extrem seltenes Phänomen sind, erregen sie jeweils ein enormes Medieninteresse. Dies ist vermutlich auf eine Art kollektive Traumatisierung zurückzuführen, da ein wichtiges Selbstverständnis westlicher Gesellschaften – die Gewährleistung von Sicherheit der Bildungseinrichtungen und der darin lernenden Kinder und Jugendlichen – fundamental erschüttert wird. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die diese Vorfälle erfahren, hat zu einer Vielzahl von Forschungsprojekten und Veröffentlichungen in unterschiedlichen Disziplinen geführt. Allerdings ist festzustellen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen noch immer am Anfang steht und viele Fragen offen sind.

Definitorische und methodische Probleme

Zunächst ist festzustellen, dass sich gerade bei der Untersuchung dieser schweren Form von Gewalt verschiedene methodische Hürden offenbaren. So stellt sich die Frage, welche Fälle überhaupt in einer gemeinsamen Untersuchungskategorie zusammengefasst und miteinander verglichen werden können bzw. sollten (Harding et al. 2006). Mittlerweile existieren je nach Forschungsrichtung äußerst unterschiedliche Bezeichnungen und Definitionen für das hier betrachtete Gewaltphänomen: In der Vergangenheit wurde in Deutschland häufig der Begriff »Amok« verwendet, der seinen Schwerpunkt auf die eruptive und nach außen hin unverständliche Eskalation der Gewalt legt. Dies widerspricht jedoch dem häufigen Planungscharakter solcher Taten.

Im Zuge dieser Erkenntnis hat sich auch in der deutschen Diskussion der amerikanische Begriff »School-Shooting« nahezu vollständig etabliert. Er wird jedoch für Mehrfach- und Einfachtötungen im Kontext Schule losgelöst von den konkreten Tatmitteln, also entgegen seiner Konnotation, verwendet. Damit erweist sich diese Bezeichnung zwar einerseits als nicht ganz adäquat, andererseits wäre es aber wohl kontraproduktiv, den Gebrauch von Schusswaffen zu einer notwendigen Bedingung per definitionem zu machen, da eine Vielzahl von Taten in Deutschland mit Hieb- und Stichwaffen begangen wurden. Diese sind in ihrer Tatgenese und -dynamik – sofern bisher bekannt – den eigentlichen »Shootings« durchaus ähnlich.

Diskutiert man, wie sinnvoll es ist, den Gebrauch einer konkreten Waffe bereits zum Bestandteil einer Definition zu machen, so stellt sich diese Frage unweigerlich auch für den Tatort. Haben wir es bei Mehrfachtötungen an Schulen wirklich mit einem eigenständigen Phänomen zu tun oder handelt es sich vielmehr um den Subtypus einer übergeordneten Kategorie? Es ist gerade der anschlagsähnliche Charakter der Gewaltakte, der Zweifel aufkommen lässt, ob es Sinn macht, zwischen Taten im Schulkontext und denen in anderen Kontexten zu unterscheiden. Neuere amerikanische Studien sprechen etwa eher allgemein von »mass shootings« und beziehen dann auch versuchte und vollendete Mehrfachtötungen außerhalb von Schulen ein.

Dieses »case definition problem« geht mit zwei wesentlichen Konsequenzen einher: Zum einen führt es dazu, dass verschiedene Studien immer wieder unterschiedliche Fälle in die Analyse einbeziehen und sich dementsprechend auch unterschiedliche Aussagen über Häufigkeit und gemeinsame Merkmale des Phänomens finden lassen. Zum anderen bleibt unklar, welche Vergleichs- oder Kontrastgruppen sich als relevant erweisen, um mehr über die Spezifität des Phänomens zu erfahren. Trotz dieses Definitionsproblems liegen mittlerweile einige Erklärungsansätze vor.

Disziplinspezifische Erklärungsansätze

Die am weitesten verbreiteten Erkenntnisse zu School-Shootings entstammen US-amerikanischen Studien um die Jahrtausendwende, die sich den so genannten »risk factor approaches« zuordnen lassen und vorwiegend kriminologischer Herkunft sind (O’Toole 1999; McGee & DeBernardo 1999; Verlinden et al. 2000). Häufige Täter- und Tatmerkmale, die in retrospektiven Fallanalysen herausarbeitet wurden, werden dabei als Risikofaktoren identifiziert. Man geht davon aus, dass diese die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses (hier eines School-Shooting) erhöhen.

Auf der Grundlage dieser Forschung wissen wir heute, dass der »typische« School-Shooter männlichen Geschlechts ist, Mittelschichtangehöriger, Einzelgänger, seinen Wohnort in einer Kleinstadt oder ländlichen Region hat, psychische Auffälligkeiten zeigt, Opfer von Bullying oder anderen Formen sozialer Marginalisierung ist, gewalthaltige Medien konsumiert und einen Zugang zu Waffen besitzt. Abseits der offensichtlichen Tatsache, dass es sich dabei um allgemein verbreitete Merkmale Heranwachsender in den USA und anderen westlichen Gesellschaften handelt, entwickeln diese Ansätze keine theoretischen Aussagen darüber, wie die identifizierten Faktoren zusammenhängen oder wie die gesellschaftliche Einbettung der so charakterisierten Täter beschaffen ist. Risikofaktoren-Ansätze werden deshalb auch als „atheoretisch“ kritisiert (Fox & Burstein 2010, S.68).

Immerhin konnte die weitere Forschung der Folgejahre feststellen, dass nicht einzelne der genannten Merkmale School-Shootings erklären, sondern immer von einem (meist kumulativ vorgestellten) Zusammenspiel vielfältiger Faktoren auszugehen ist. Anfängliche Versuche, Profile potentieller School-Shooter zu erstellen, haben sich daher recht schnell als unbrauchbar erwiesen und wurden verworfen.

Ausgehend von diesen ersten Untersuchungen haben sich in der Folge verschiedene Disziplinen mit einzelnen der vorgefundenen Merkmale der Täter beschäftigt und darüber Theorien entwickelt.

Prominent sind beispielsweise forensisch-psychiatrische Analysen, die einen wesentlichen Erklärungsfaktor für die Taten in der psychischen Erkrankung der Täter sehen. So geht etwa der Psychiater Peter Langman (2009) davon aus, dass alle Täter psychopathologische Auffälligkeiten aufweisen und ihr Handeln sich maßgeblich auf eine psychische Erkrankung zurückführen lässt. Dieser Befund lässt sich in den meisten, auch multidisziplinären Erklärungsmodellen finden, wobei insbesondere Persönlichkeitsstörungen, wie Störungen des Sozialverhaltens mit depressiver Störung, paranoide und insbesondere narzisstische Störungen, als Ursache der Gewaltentwicklung angesehen werden (vgl. Bannenberg 2013; Hoffmann et al. 2009). Allerdings sind diese Befunde aufgrund der Schwierigkeiten einer retrospektiven psychiatrischen Begutachtung äußerst vorsichtig zu behandeln. Zudem stellt sich die Frage nach der Kausalität: Waren psychische Störungen tatsächlich der Entwicklung hin zur Gewalttat vorgängig oder sind sie erst im Zuge dieser Entwicklung aufgrund von sozialen Bedingungen entstanden?

Psychodynamische Erklärungsansätze konzentrieren sich auf die inneren Prozesse der Täter im Rahmen der Vorfeldentwicklung der Taten. Der Ansatz von Jonathan Fast (2013) z.B. führt School-Shootings als Aggression gegenüber symbolischen Zielen auf die »Kumulation von Schamgefühlen« zurück, die nicht nach außen gezeigt werden können (secret shame) und aufgrund eines Zusammenspiels von narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen, sozialer Isolation bzw. Ausgrenzung und suizidalen Intentionen entstehen. Demgegenüber begreift Frank J. Robertz (2004) die »Kumulation kompensatorischer Rache- und Gewaltfantasien« als Schlüssel zum Verständnis der Vorfeldentwicklung von School-Shootings. In Anlehnung an das Konzept der Nebenrealitäten modelliert er eine Entwicklung, bei der als Reaktion auf erlittene Bedrohungen des Selbstwerts Rache- und Gewaltfantasien zu mächtigen Nebenrealitäten anwachsen. Diese führen dann zu Gewaltausbrüchen, wenn sie emotional immer mehr Gewicht erhalten und der Bezug zur Hauptrealität verloren geht. Ebenfalls häufig werden »suizidale Tendenzen« als Ausgangspunkt der Entwicklung zu School-Shootings angenommen, die in Kombination mit Identifizierungs- und Imitationsprozessen über mediale Berichterstattung zu School-Shootings (Copycat-Phänomen) zu einer Externalisierung der suizidalen Gewaltimpulse führen und letztlich in Taten münden, die – ähnlich einem erweiterten Selbstmord – dem Homizid-Suizid-Spektrum zuzuordnen sind.

Eine weitere Gruppe von Erklärungsansätzen fokussiert soziale Ursachen und beschäftigt sich insbesondere mit den sozialen Beziehungen im Vorfeld der Tat. Hierbei werden Ausschluss- und Marginalisierungsprozesse betrachtet, die letztlich als ausschlaggebend dafür angesehen werden, dass die späteren Täter begonnen haben, eine Tat zu planen. Im Mittelpunkt insbesondere US-amerikanischer Veröffentlichungen steht dabei die Problematik des so genannten »Bullying« (Mobbing, Schikane) an Schulen. In vielen, wenn auch längst nicht allen Fällen lässt sich beobachten, dass die Täter im Vorfeld Opfer von Bullying und anderen Formen sozialen Ausschlusses durch Gleichaltrige waren, was zu Frustrationserfahrungen und Rachewünschen führte (Vossekuil et al. 2002; Leary et al. 2003). Insbesondere die informelle Statushierarchie in amerikanischen Schulen, die durch eine extreme Grenzziehung zwischen sportlich aktiven, sozial anerkannten Schülern (»jocks«) und ausgeschlossenen Außenseitern (»nerds«, »goths«, »wimps«) gekennzeichnet ist, wird als entscheidendes Problem wahrgenommen. Ebenso lassen sich in einigen Fällen »Erlebnisse romantischer Zurückweisung durch Mädchen« rekonstruieren, die ebenfalls Frustrations- und Rachegefühle bei den männlichen Täter hervorgerufen haben. Beide Erklärungen verweisen nach Meinung einiger Autoren auf den kulturellen Hintergrund hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen, so dass School-Shootings als Antwort auf Ereignisse gewertet werden, bei denen die Männlichkeit der Jugendlichen durch Andere maßgeblich infrage gestellt wurde (Kimmel 2008; Danner & Carmody 2001). In der deutschen Forschung zu School-Shootings werden vor allem Ungerechtigkeitserfahrungen in der Beziehung zu Lehrern und dem Schulsystem in den Blick genommen, da weniger Täter direkte Bullying-Erfahrungen aufweisen (Bondü 2012). Konsens besteht jedoch insgesamt darin, dass School-Shootings identitätsbedrohende Anerkennungs- und Statusverluste im schulischen Kontext vorausgehen und die Taten daher als persönliche Racheakte zu verstehen sind (Larkin 2009; Böckler & Seeger 2010; Newman et al. 2004).

In enger Verknüpfung mit den genannten sozialen Ursachen stehen Erklärungsansätze, die auf kulturelle Bedingungen verweisen: Neben der bereits erwähnten kulturellen Rahmung der Taten durch hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen werden insbesondere die »Waffenkultur« und der Umgang mit Waffen fokussiert. Die Verfügung über Schusswaffen stellt in den meisten School-Shootings eine notwendige Bedingung dar, weshalb der Schusswaffenzugang von jungen Menschen als eine wesentliche Erklärung für derartige Taten angesehen wird. Allerdings zeigen insbesondere Fälle außerhalb von Amerika in Ländern mit starker Schusswaffenkontrolle, dass erstens ähnliche Taten auch mit anderen (frei zugänglichen) Waffen umgesetzt werden können und zweitens motivierte Täter auch Mittel und Wege finden, trotz erschwerten Zugangs an Schusswaffen zu gelangen. Ebenfalls sehr kontrovers wird der Einfluss des Konsums gewalthaltiger Medien wie Filme, Computer- und Videospiele auf die Entwicklungsprozesse der Täter im Tatvorfeld diskutiert – herausgehoben insbesondere der Einfluss so genannter Ego-Shooter-Spiele. Verschiedene Fallanalysen zeigen, dass viele School-Shooter gewalthaltige Medien konsumierten (z.B. Kiilakoski & Oksanen 2011; Newman et al. 2004). Die in bestimmten Jugendkulturen weit verbreitete Faszination für Spiele, bestimmte Gewaltfilme oder Bands mit gewalttätigen Texten macht allerdings schnell deutlich, dass derartige Medien schwerlich als ursächliche Bedingung für School-Shootings herangezogen werden können. Trotzdem sind diese Medien insofern wichtig, als sie „kulturelle Skripte“ repräsentieren (Newman et al. 2004), die von School-Shootern bei ihren Taten zitiert und inszeniert werden (z.B. indem sie ähnliche Kleidung tragen wie ihre medialen Helden). Als »kulturelle Skripte«, die von Jugendlichen imitiert werden können, dienen jedoch nicht nur gewalthaltige Medien, sondern auch vorangegangene School-Shootings selbst. Larkin (2009) weist etwa nach, dass sich eine große Anzahl von School-Shootings am Columbine School-Shooting orientierten, was darin deutlich wird, dass die Täter den Tatablauf imitierten oder sich in ihren Selbstzeugnissen mit den Columbine-Attentätern identifizierten und sie als Vorbilder heroisierten. Aufgrund solcher Befunde, die starke Identifizierungsprozesse nahe legen, wird auch der Einfluss der massenmedialen Berichterstattung als eine wesentliche, begünstigende Bedingung für School-Shootings diskutiert.

Dem komplexen, der Tatgenese zugrunde liegenden Bedingungsgefüge Rechnung tragend, sind in der Vergangenheit mehrere multidimensionale Ansätze entwickelt worden, die versuchen, auf die Kombination und vor allem Wechselwirkungen zwischen den genannten Einzelfaktoren einzugehen. Einige davon stellen sich der Aufgabe, die Vorfeldentwicklung der Taten prozesshaft zu modellieren und dabei psychische, individuelle und soziale Faktoren einbeziehen (Scheithauer & Bondü 2011; Böckler & Seeger 2010; Hoffmann & Roshdi 2009; Levin & Madfis 2009; Robertz 2004). Zurückgegriffen wird dabei auf etablierte belastungs- bzw. anerkennungstheoretische Ansätze oder kriminologische Theoreme (z.B. Routine Activity Theory). Mehrdimensionale Modelle, die den Prozesscharakter von Gewaltkarrieren nachzeichnen, gelten aktuell als die elaboriertesten Versuche einer Erklärung des Phänomens. Bei genauer Betrachtung weisen sie viele Gemeinsamkeiten auf. Im Kern identifizieren die Autoren die Tat als das Resultat einer Kulmination langfristiger und situativer Stressoren im Lebenslauf des Täters, denen dieser nur unzureichende personale wie soziale Ressourcen entgegensetzen kann. Erlebtes Scheitern, kontinuierlich wahrgenommene Ungerechtigkeiten sowie ein subjektiv erlebter Mangel an emotionalem Rückhalt führen in eine Spirale von dysfunktionalen Bewältigungsstrategien und weiteren Misserfolgen. Mit diesem Teufelskreis identifiziert ein Großteil der Autoren die dem Eskalationsprozess innewohnenden produktiven Impulse für die Tatgenese. Hinweise auf einsetzende und vermutlich zunächst kompensatorisch wirkende Allmachts-, Größen- und Rachephantasien, die in reale Tatplanungen und -ankündigungen (Leaking) übergehen, geben beispielsweise die Tagebücher, Videos, Gewaltandrohungen und Selbstaussagen früherer Täter. Es kann vermutet werden, dass der Täter in oben beschriebener Spirale seine sozialen Einstellungen mehr und mehr radikalisiert und sich in diesem Zuge auf die Gewalttat zunehmend verpflichtet, während er zugleich sukzessive die Bindung an das eigene Leben verliert. Aus der weiteren Forschung, insbesondere Vergleichsuntersuchungen mit ähnlichen Gewaltphänomenen, erhofft man sich hierzu eine weitere Aufklärung.

Prävention und Intervention

Hinsichtlich der Frage nach Möglichkeiten der Prävention solcher Taten muss zunächst immer darauf verwiesen werden, dass Fälle geplanter tödlicher Gewalt durch (ehemalige) Schüler an ihren Schulen, entgegen der medialen Wahrnehmung, glücklicherweise relativ unwahrscheinlich sind. Ein einfaches Rechenbeispiel vermag dies zu illustrieren: An den rund 34.500 Schulen in Deutschland haben seit 1999 (je nach Definition) ca. zwölf Fälle von tödlicher Schulgewalt stattgefunden, was bedeutet, das eine deutsche Schule zum gegenwärtigen Zeitpunkt rein statistisch dem Risiko ausgesetzt ist, einmal alle 40.256 Jahre einen solchen Anschlag zu erleben.

Diese Seltenheit hat zur Konsequenz, dass eine auf statistischen Aussagen beruhende Vorhersage tödlicher Schulgewalt nicht möglich ist. Da die oben aufgeführten Tatmerkmale und Bedingungsfaktoren auf retrospektiven Einzelfallanalysen, Fallvergleichen und theorieinduzierten Zusammenhangshypothesen beruhen, sind sie zudem nicht prospektiv generalisierbar. Es wird immer Jugendliche geben, die zwar ähnliche Merkmale aufweisen, aber niemals eine solche Tat umsetzen würden. Insofern sind auch Präventionsmaßnahmen immer unter dem Aspekt einer möglichen, falschen Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen als »gefährlich« kritisch zu betrachten.

Am aussichtreichsten erscheinen daher Präventionsbemühungen, die auf mehreren Stufen ansetzen. So sollte es zum einen darum gehen, Eltern, Lehrkräfte und andere pädagogische Akteure für das Gewaltphänomen und die zugrunde liegenden Risikofaktoren zu sensibilisieren. Neben klar verständlichen und vor allem praktikablen Leitlinien zum Umgang mit Notfallsituationen (Kontaktieren der Polizei, Schutzmaßnahmen für Opfer, Informationstransfer) muss ein struktureller Rahmen geschaffen werden, in dem Phasen persönlicher Krisen von Kindern und Jugendlichen frühzeitig identifiziert werden und ihnen parallel Hilfe zuteil werden kann (Leuschner & Scheithauer 2012). Ersten Erkenntnissen und Evaluationsstudien zufolge erweisen sich hier insbesondere die Implementierung von Kriseninterventionsteams und Krisenpräventionsverfahren an Schulen sowie der Aufbau tragfähiger Netzwerke zwischen Lehrerschaft, schulpsychologischem Dienst, Sozialarbeit und Polizei als erfolgversprechend.

Literatur

Bannenberg, B. (2013): Amok. In: C. Gudehus & M. Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, S.99-104.

Böckler, N., & Seeger, T. (2010): Schulamokläufer: Eine Analyse medialer Täter-Eigendarstellungen und deren Aneignung durch jugendliche Rezipienten. Weinheim: Juventa.

Bondü, R. (2012): School Shootings in Deutschland: Internationaler Vergleich, Warnsignale, Risikofaktoren, Entwicklungsverläufe. Dissertation, Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin.

Bondü, R., Scheithauer, H., Leuschner, V. & Cornell, D. (2013): International Perspectives on Prevention and Intervention in School Shootings. In: N. Böckler, T. Seeger, W. Heitmeyer & P. Sitzer (eds.) School Shootings: International Research, Case Studies and Concepts of Prevention. New York/Heidelberg: Springer, S.343-362.

Danner, M.J.E. & Carmody, D.C. (2001): Missing gender in cases of infamous school violence: Investigating research and media explanations. Justice Quarterly, 18, S.87-114.

Fast, J. (2013): Unforgiven and alone: Brenda Spencer and secret shame. In: N. Böckler, T. Seeger, P. Sitzer, & W. Heitmeyer (Hrsg.): School shootings. International research, case studies, and concepts for prevention. New York: Springer, S.245-264.

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Hoffmann, J., Roshdi, K., & Robertz, F. J. (2009): Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Eine empirische Studie zur Prävention schwerer Gewalttaten. Kriminalistik, 63, S.196-204.

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Kimmel, M. S. (2008): Profiling school shooters and shooters’ schools: The cultural contexts of aggrieved entitlement and restorative masculinity. In: B. Agger & D. Luke (eds..), There is a gunman on campus: Tragedy and terror at Virginia Tech. Lanham: Rowman and Littlefield, S.65-78.

Langman, P. (2009): Amok im Kopf. Warum Schüler töten. Weinheim: Beltz.

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Robertz, F. J. (2004): School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.

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Dr. Vincenz Leuschner arbeitet als Sozialwissenschaftler am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der FU Berlin.
Dipl.-Päd. Nils Böckler ist als Pädagoge am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld tätig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/1 Konfliktdynamik im »Globalen Norden«, Seite 25–29