W&F 1993/4

Schulische Friedenserziehung in den neunziger Jahren

Erziehung zur Gewaltfreiheit und zur Gewaltakzeptanz?

von Bernhard Nolz

Der Autor plädiert für eine Erziehung zur Veränderung der Welt und macht deutlich, daß eine Erziehung gegen Gewalt nicht gleichzeitig eine Erziehung zur Akzeptanz militärischer Gewalt als Konfliktlösung sein kann. Es soll deutlich werden, daß Friedenserziehung in der Schule ohne einen historischen Kontext in bezug auf ihre Entwicklung und ihre Grundlagen wenig bewegen kann. Am Schluß soll ein Beispiel aus Schleswig-Holstein vorgestellt werden, von dem neue Impulse für die Friedenserziehung in der Schule erhofft werden können. In der Mitte stehen mögliche Schwerpunkte einer Friedenserziehung in der Schule.

„Erziehung zum Frieden ist Erziehung zur Veränderung der Welt“1. Dieser handlungs- und praxisorientierten Auffassung von Friedenserziehung, die nur auf der Grundlage eines gesicherten Fundamente von Friedenspädagogik in Theorie und Praxis postuliert werden kann, stehen andere Auffassungen gegenüber. Aus einer politologischen Perspektive wird beispielsweise formuliert, daß die Welt sich verändert habe (z.B. durch das Ende des Ost-West-Konfliktes), so daß die Friedenserziehung „nun neu begründet werden (muß)“ 2. Öffentlichkeitswirksam wird die regierungs- bzw. parteipolitische Auffassung vertreten: Wir verändern die Welt (z.B. durch Grundgesetzänderungen zu Asyl und Bundeswehr), Friedenserziehung hat zu deren Akzeptanz beizutragen.

Die friedenspädagogisch begründbare Zurückweisung der dritten Auffassung hat insbesondere die Friedensarbeit der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« geprägt. Ein solches Bemühen erscheint unablässig aktuell, denn zu umfassend ist die ständige Bilanz von Krieg und Gewalt, kaum zu bewältigen die Arbeit am Frieden:

Krieg in Jugoslawien, Kriegseinsätze am Golf, in Somalia …; über 40 Kriege in der Welt wurden im letzten Jahr gezählt, und es sind auch 1993 nicht weniger3;

Gewalt gegen Ausländer; Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus in Deutschland nehmen zu4;

Militarisierung der Außenpolitik; der Aufbau von Blauhelmverbänden, schnellen Eingreiftruppen und Krisenreaktionskräften verbraucht die »Friedensdividende«5.

Nicht nur von Politikerinnen und Politikern wird verstärkt der Ruf nach vermeintlichen pädagogischen Allheilmitteln erhoben. Und wieder werden die angeblichen Versäumnisse der Schule in den Blick genommen; wieder sollen Lehrerinnen und Lehrer die Verantwortung dafür tragen, daß mehr getan wird gegen die Gewalt auf den Straßen, gegen Menschenrechtsverletzungen und gegen den Verlust friedlicher Formen des demokratischen Zusammenlebens.

Die Frage, ob in der Schule genug für den Frieden und für die Entwicklung von Friedensfähigkeit getan worden ist, ist allerdings durchaus berechtigt.

Doch kann es eine Friedenserziehung, die der zuerst dargestellten Auffassung entspricht (Erziehung zur Veränderung der Welt) und für die hier plädiert wird, mit doppelter, sich widersprechender Aufgabenstellung, wie sie beispielsweise von Politikerinnen und Politikern erwartet wird, nicht geben: Erziehung gegen Gewalt in der Gesellschaft und Erziehung zur Akzeptanz militärischer Gewalt als Konfliktlösung überall in der Welt6.

Denn nach wie vor hat folgende Aussage ihre fundamentale Bedeutung für die Erziehung zum Frieden: „Das Feld, in dem nach der regulativen Idee des Friedens gedacht, gelernt und gehandelt werden soll, ist bestimmt durch die Polarität zwischen der Wirklichkeit, in der organisierte Friedlosigkeit herrscht, und der Hoffnung und Erwartung, daß ein Zustand geschaffen werden könnte, in dem – unbeeinträchtigt durch Unfreiheit und Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg – dem Menschen ein gelingendes Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen möglich wäre“ (Calließ, 1988, S. 4)7.

Ansätze, diesem Ziel näherzukommen, möchte ich im folgenden diskutieren. Dabei gehe ich von dem von Galtung (1975) entwickelten Friedensbegriff aus. „Frieden ist Abwesenheit von Gewalt. … Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung. … Gewalt wird hier definiert als die Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist. … Mit anderen Worten, wenn das Potentielle größer ist als das Aktuelle und das Aktuelle vermeidbar, dann liegt Gewalt vor.“ 8

Kleine Geschichte der Friedenserziehung

Das Ansinnen an die pädagogischen Institutionen, gleichzeitig zur militärischen (d.h. staatlich gewünschten) Gewaltbereitschaft und zum persönlichen Gewaltverzicht zu erziehen, ist in der Geschichte der BRD nicht neu. Es wurde immer wieder auch als Friedenserziehung bezeichnet. Die pädagogische Aufhebung dieses Widerspruches in seiner negativen Form ist die Erziehung zum Krieg. Von ihr wird nicht geleugnet, daß der Krieg menschenunwürdige Verhältnisse schafft. Zur Durchsetzung höherer Ziele (z.B. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) ist kriegerische Gewalt unter bestimmten Umständen ein legitimes Mittel der Politik, die erwartet, daß Bürgerinnen und Bürger den Krieg tatkräftig oder bewußtseinsmäßig unterstützen. Die strukturelle, personale und kulturelle Gewalt, die vom eigenen Staat und von der Gesellschaft ausgeht, wird folgerichtig positiv beurteilt oder verdrängt. Eine perfide Ausdrucksform dieser totalen Gewaltbereitschaft auf der Grundlage eines staatlichen Gewaltmonopols ist die Vergewaltigung von Frauen im Krieg. Sie wird von den BefürworterInnen militärischer Gewalt häufig heuchlerisch gebrandmarkt, obwohl sie genauso eine Gewalt-Normalität des Krieges darstellt wie beispielsweise die Verstümmelung von Männern und Kindern oder die Ermordung von Verweigerern und Deserteuren.

Die Geschichte der BRD zeigt aber auch, daß der aus innerer Überzeugung gesprochene Satz »Nie wieder Krieg!« noch keine Friedenserziehung ist.

Die positive Variante der pädagogischen Bewältigung des Antagonismus von Gebot und Verbot staatlicher bzw. persönlicher Gewalt, die vor und im Krieg von KriegsbefürworterInnen als Pazifismus verleumdet wird, tritt besonders häufig nach Kriegen als Friedenserziehung in Erscheinung.

Ein Blick auf die deutsche Geschichte bestätigt diese These. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der Nazi-Diktatur bestand auch in Deutschland ein allgemeiner Konsens darüber, daß es nie wieder Krieg geben dürfe. Es entstand eine pazifistische oder zumindest antimilitaristische Grundstimmung. Mit dem pädagogischen Programm der Völkerverständigung sollten Nationalismen überwunden werden. Es wurde versucht, die Aufforderung der UNESCO, „mit der Verteidigung des Friedens in den Köpfen der Menschen zu beginnen“, in die pädagogische Praxis umzusetzen. Entscheidend für die geringe Verbreitung dieses Konzeptes erscheint die Tatsache, daß mit dem Abbau individueller Aggressionen nur ein erster – allerdings wichtiger – Schritt bei der Friedensarbeit getan ist. Zur Friedensfähigkeit einer Gesellschaft gehört aber auch, „Frieden durch kollektives Handeln herzustellen und zu erhalten“ (Nicklas/Ostermann 1993, S. 60)9, die gesellschaftlichen Ursachen der Friedlosigkeit wahrzunehmen und an ihrer Überwindung zu arbeiten.

Gesellschaftskritik war verständlicherweise im Nachkriegsdeutschland nicht gefragt. In Krisenzeiten – die Nachkriegszeit war eine für Deutschland – wird all zu gerne simplifiziert und harmonisiert nach innen sowie polarisiert nach außen. Auf ähnliche Weise wurde von den Politikern der Ost-West-Konflikt – zum Nachteil einer friedlichen Entwicklung – erfunden und beide deutsche Staaten wurden bewaffnet.

Die Erfahrung von Auschwitz, die Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki, sie wurden vergessen gemacht wie so viele andere Erinnerungen auch.10 Dabei ist eine individuelle Identitätsbildung langfristig nur möglich, wenn ein kollektives Gedächtnis die Vergangenheit bewahrt (vgl.Negt) und umgekehrt. Weiterzuleben als wüßte man nichts (vgl.Anders), war auch für viele Pädagoginnen und Pädagogen dann für etliche Jahre die Devise, so als würde man nicht erkennen, daß der Unfrieden für die gesellschaftliche Struktur der Staaten genauso bestimmend ist wie für die staatengesellschaftliche Organsiation (z.B. die der UNO).

Die schulische Friedenserziehung erhielt ihre bedeutenden Impulse im Jahre 1974 durch die „Empfehlung über die Erziehung zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit und zum Weltfrieden sowie die Erziehung im Hinblick auf die Menschenrechte und Grundfreiheiten“ der UNESCO. In den Kultusministerien der Bundesländer wurde diese Empfehlung verwaltungsgemäß bearbeitet, das hieß in diesem Fall, sie wurde für fast ein Jahrzehnt mehr oder weniger vergessen bzw. in der Diskussion über die Schule nicht zur Sprache gebracht. Denn als sie sich 1983 auf einen gemeinsamen Erlaß zur Friedenserziehung in der Schule nicht einigen konnten, gaben die KultusministerInnen vor Pädagoginnen und Pädagogen, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern und der gesamten Öffentlichkeit ein Bild politischer Unfähigkeit ab, deren Auswirkung wir heute auch als Politikverdrossenheit wahrnehmen und erleben können. Damals war es der Bundeswehrminister Apel (SPD), der – ohne es je so zu formulieren – eine Wehrerziehung durch die Schule einforderte, woraufhin die CDU-regierten Bundesländer parierten, während die »SPD-Länder« u.a. auf die UNESCO-Empfehlungen zurückgriffen.11 Heute sind es nicht nur der zuständige Minister Rühe (CDU) und der ehemalige SPD-Vorsitzende Engholm, die in vortrefflicher Einigkeit Jugend und Volk zur Wehrfähigkeit erzogen gesehen wollen. Wenn sie eine derartige Erziehung ihre Bildungsministerinnen und -minister »Friedenserziehung« nennen lassen, werden wir an George Orwell erinnert werden.

Die offizielle Friedenserziehung in der DDR kann ohne Einschränkung als Wehrerziehung bezeichnet werden. Daneben existierte eine glaubwürdige pädagogische Praxis der Völkerverständigung, vornehmlich mit den sozialistischen Staaten in aller Welt. Eine beträchtliche Zahl von Lehrerinnen und Lehrern versuchte darüber hinaus, die Nischen, die es auch im DDR-Bildungssystem gab – vor allem aber im kirchlichen Rahmen –, für eine alternative Friedenserziehung auszunutzen. Die Hoffnungen der LehrerInnen in der ehemaligen DDR, mit dem Anschluß an die BRD ihre friedenserzieherische Arbeit zum Kern ihrer pädagogischen Arbeit in der Schule machen zu können, haben sich nicht erfüllt.12 Vielmehr bleibt zu befürchten, daß derartige Aktivitäten als abwicklungsfördernd eingestuft wurden. So sehen sich viele Pädagoginnen und Pädagogen, ohne es gewollt zu haben, in Opposition zu einem demokratischen Staat, für den sie den Weg bereitet haben. Auf diese Weise wiederholen sich hier »Extremisten«-Verfolgung und Berufsverbotspraxis aus vornehmlich den siebziger Jahren der BRD. Mit dem Sicherheitsbegriff wird heute wie gestern versucht, den Antagonismus der Gewalt aufzulösen, indem Bilder von inneren und äußeren Feinden geschaffen werden, gegen die Gewalt legitim erscheinen soll. „Der innere Zusammenhang von innerer und äußerer Sicherheit ist aber unaufhebbar. Die Bereitschaft, Verfassungsfeinde von allen wichtigen Stellen im Staat fernzuhalten, gehört ebenso zum Begriff der abwehrbereiten Demokratie wie die Bereitschaft, unser Land gegen äußere Feinde zu verteidigen“ (Hampel 1978, S.3).13 Rund fünfzehn Jahre später ist die Bundeswehr auf dem Wege, die deutsche Sicherheit überall auf der Welt zu verteidigen, und diskriminiert die »siegreiche« Demokratie einen Großteil der Ostdeutschen als Sicherheitsrisiko.

Aspekte einer Friedenserziehung in den neunziger Jahren

Politische Veränderungen der Welt, im Sinne von Hentigs, können in der Schule nur erreicht werden, wenn Widerstand entwickelt wird und LehrerInnen sich nicht von der globalen „neuen Unübersichtlichkeit“ (vgl. Habermas), die für die Industriegesellschaften bestimmend geworden ist, überwältigen lassen. Ihre Aufgabe ist es, SchülerInnen Orientierungen zu geben und ihnen beispielsweise bei der Entwicklung von Friedensfähigkeit zu helfen. Die Unübersichlichkeit scheint Regierungen und Verwaltungen, was eine gestaltende Friedenspolitik betrifft, bereits ergriffen zu haben. PolitikerInnen wissen aber auch die Unübersichtlichkeit mit medialer Hilfe zu instrumentalisieren, wie man am Beispiel des deutschen Neo-Militarismus z.Z. erkennen kann.

Deshalb erscheint es notwendig, mit dem Versuch fortzufahren, auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens eine Kultur des Friedens aufzubauen, wobei die vorhandenen, zumeist schwachen Friedensstrukturen weiterentwickelt werden können. Für viele LehrerInnen ist mit der Übernahme dieser Aufgabe ein Umdenken verbunden.

Die Diskussion der letzten Jahre über das Spektrum, das Friedenserziehung in der Schule umfassen soll, hat das Problem deutlich gemacht. Es wird sowohl für eine relativ enge Begrenzung der Friedenserziehung als auch für eine weitgefaßte Begrifflichkeit plädiert.

Für die erste Position, die verkürzt die »antimilitaristische« genannt werden könnte, spricht vor allem die Orientierung an Organisation und methodischem Vorgehen der Fachwissenschaft und des Fachunterrichts. Außerdem erfährt die Friedenserziehung in der Abgrenzung von anderen sogenannten Bindestrich-Erziehungen (z.B. Umwelt-, Dritte-Welt-, Demokratie-, interkulturelle Erziehung) eine deutlichere Profilierung.14

Der zweiten Position liegt eine holistische Betrachtungsweise zugrunde. Bildungs- und Erziehungsprozesse, in denen kognitive, affektive und instrumentelle Fähigkeiten entwickelt werden können, sollten von einer ganzheitlichen Auffassung menschlichen Lebens ausgehen. Auf die Komplexität und Globalität menschlicher Problemlagen kann nur mit »One-World-« und »One-Mankind-Konzepten« reagiert werden. Solche Konzepte lassen sich auch als »Menschenrechtserziehung« oder »Erziehung zur Humanität« bezeichnen. Sie integrieren wichtige Elemente der »Bindestrich-Erziehungen«, die als eigenständige Erziehungskonzepte – wenn es sie denn je gegeben hat – keinen Bestand mehr haben können.

Gewalt bleibt das wichtigste Thema der Friedenserziehung. „Frieden ist Abwesenheit von Gewalt“ (Galtung). In Westeuropa zeigt sich eine doppelte Entwicklung: „Auf der einen Seite scheint die Brutalisierung der Gesellschaften voranzuschreiten, auf der anderen Seite aber wächst die Sensibilität immer größerer Gruppen von Menschen für diese Gewalt“ (Nicklas/Ostermann, S. 63). Die Frage, ob schulische Friedenserziehung einen Beitrag zu der konstatierten Bewußtseinsveränderung hat leisten können, kann nicht beantwortet werden. Friedenserziehung in der Schule kann vor allem Lehrende und Lernende für die eigene Täterschaft im Kreislauf der Gewalt sensibilisieren – eine tägliche Aufgabe, die zu häufig vernachlässigt wird. Für die schulische Friedenserziehung erscheint es darüber hinaus notwendig, in altersgemäßer Weise Erscheinungsformen der Gewalt auf der individuellen, einzelgesellschaftlichen und internationalen Ebene im Unterricht zu thematisieren. Dabei kommt es darauf an, Friedenswissen und Friedenskompetenz zu vermitteln.

Eine zentrale Problematik bleibt das staatliche Gewaltmonopol in Form von Militär. „Aufgabe der Friedenserziehung ist es, den Delegitimierungsprozeß des Militärs voranzutreiben und Versuche der Neulegitimation zu kritisieren“ (Nicklas/Ostermann, S. 65). Unterricht und Erziehung gegen den Krieg, d.h.im Dienste des Friedens, werden vor allem dann bei Schülerinnen und Schülern auf Interesse und Akzeptanz stoßen, wenn sie im Rahmen handlungsorientierter Unterrichtsorganisation die Auseinandersetzung mit Alternativen zu Gewalt und Krieg ermöglichen. Mögliche Themenbereiche sind beispielsweise »Internationale Friedensdienste«, »Konversion«, »Soziale Verteidigung«.

Im Problem der Wanderungsbewegungen (Migration) in und nach Europa und in den Reaktionen darauf manifestieren sich strukturelle und kulturelle Gewalt. Große Teile der europäischen Bevölkerung verfügen noch nicht über die aufzubringende Friedenskompetenz, die sich in Toleranz, kultureller Flexibilität und der Fähigkeit, Multikulturalität leben zu können, äußert. In Lernprozessen kann die Bereitschaft, das Fremde bzw. Andersartige wahrzunehmen und damit verbundene Ängste zu ertragen und zu bearbeiten, als Teilkompetenz einer umfassenderen Friedenskompetenz gefördert werden.

Nicklas/Ostermann sehen Lösungsmöglichkeiten für die multikulturelle Gesellschaft in der Bearbeitung der Dialektik von Koexistenz- und Nicht-Koexistenzfähigkeit unterschiedlicher Normen. Die Menschenrechte, obwohl in den meisten Staaten der Welt nur unvollkommen verwirklicht, erscheinen derzeit als die einzige Grundlage, auf der ein akzeptabler Konsens über die Normenfragen erzielt werden könnte.

Eine multikulturelle Gesellschaft halten Nicklas/Ostermann nur für realisierbar, „wenn die Menschen mehrstufige oder multiple Loyalitäten (Zugehörigkeitsgefühle von Menschen, BN) herausbilden, also beispielsweise gleichzeitig eine türkische, eine deutsche und eine europäische Loyalität leben können“ (S. 67). Die verbreiteste Loyalität der letzten hundert Jahre ist die nationale gewesen, die zu neuer »Blüte« aufzusteigen scheint, obwohl sie als Friedenslösung nie »Früchte getragen« hat und Millionen zu ihren Opfern geworden sind. Im Sinne einer Relativierung der nationalen Loyalität müßte Friedenserziehung in der Schule versuchen, bei der Entwicklung gemeinsamer Loyalitäten in lokalen und regionalen Lebenszusammenhängen Hilfe zu leisten. Ein entsprechendes friedenspädagogisch fundiertes »Loyalitätsprogramm« kann von den in den Familien, Kindergärten oder anderen sozialen Gruppen entstandenen Zugehörigkeitsgefühlen der Schülerinnen und Schüler ausgehen, indem zunächst Gruppenloyalitäten in der Schule entwickelt werden.

Ein weiterer Schwerpunkt der Friedenserziehung ist es, Autonomie und Handlungsfähigkeit der Menschen zu stärken. Kindergärten und Schulen sind Räume, in denen Kinder und Jugendliche Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit üben können und einen bewußten „Umgang mit Gewalt und Aggressionen, aber auch mit Zärtlichkeit und Sexualität im pädagogischen Kontext“ (van Dick, S. 174) erfahren können. Wichtig ist, „daß Kinder schon in ihrer frühen alltäglichen Sozialisation die Erfahrung machen können, nicht mit Angst oder Flucht reagieren oder auch zur Gewalt greifen zu müssen, sondern selbst handeln zu können und solidarische Unterstützung zu erhalten“ (Nicklas/Ostermann, S. 69).

Friedenserziehung ist Erziehung zu demokratischem Handeln und demokratischer Partizipation. Unterrichts- und Schulorganisationsformen, die demokratische Partizipation ermöglichen (z.B. Projektunterricht, Schularbeitsgemeinschaften), sollten verstärkt angeboten und ausgebaut werden. Dabei sollte auch überlegt werden, wie der Schulöffentlichkeit und darüber hinaus einer lokalen Öffentlichkeit die Arbeit an der Demokratie und für den Frieden, die im Unterricht und im Schulleben geleistet wird, dargestellt werden kann, um als Modell für andere gesellschaftliche Bereiche wirksam werden zu können. Die beispielsweise im Community-school-Konzept verwirklichten Ideen, auch die Lernerfahrungen sozialer Bewegungen in die Schularbeit einzubeziehen (z.B. lokale Friedens-, Umwelt-, Selbsthilfegruppen), haben sich in Schulen der »Dritten Welt« und in »Spannungsgebieten« (z.B. Israel) als tragfähig erwiesen. Sie müßten hier weiterentwickelt und erneut zur Diskussion gestellt werden. Schulische Friedenserziehung wird dann Erfolge zeigen, wenn auch Eltern in angemessener Weise in die pädagogische Arbeit einbezogen und ihre vorhandenen, aber zu wenig in Anspruch genommenen Kapazitäten für eine Friedenserziehung – auch unter dem »Loyalitätsgesichtspunkt« – nutzbar gemacht werden, z.B. in Form der Beteiligung an außerunterrichtlichen und Freizeitangeboten.

Gewalt ist ein zu oft angewandtes Mittel der Konfliktlösung. Zur Gewalt greifen Menschen häufig, „wenn sie unfähig sind, kommunikative Mittel zu verwenden. … Kommunikative Strategien sind die potentiell gewaltfreie Alternative zur Gewalt“ (Nicklas/Ostermann, S. 69/70). Kommunikations- bzw. Gesprächsfähigkeit kann als Friedenskompetenz in der Schule wirksam werden, wenn Zeit und Räume vorhanden sind, um einander zuhören zu können.

(Friedens-)PädagogInnen sind „mitverantwortlich dafür, daß Aufwachsen und selbständiges Entdecken noch möglich bleiben in unserer Welt, daß Vertrauen und Mitgefühl, Verstehen und Begreifen von Zusammenhängen wachsen können und mangelndes Wissen nicht ausgenutzt wird“ (van Dick, S. 174).

Lehrpläne im Dienste des Friedens?

Vereiteln Lehrpläne eine wirkungsvolle Friedenserziehung in der Schule, wie immer wieder von Lehrerinnen und Lehrern behauptet wird, die – meist ohne es zu bemerken – sich aus den Zwängen der Lehrplanvorgaben nicht zu befreien vermögen. Sind Lehrpläne im Dienste des Friedens denkbar? Wenn die Zielsetzungen der schleswig-holsteinischen Lehrplanrevision verwirklicht werden, wird die Antwort positiv ausfallen können. Das »Kernproblem Frieden« wird bestimmendes Strukturelement der Lehrpläne aller Fächer der Primarstufe und der Sekundarstufe I aller Schularten. (Die Sekundarstufe II soll folgen.) Schlüsselqualifikationen sollen festgelegt, eine Grundbildung erarbeitet, Verbindungen zu anderen Schulfächern hergestellt werden. Eröffnen sich neue Perspektiven für die Friedenserziehung in der Schule?

Zunächst steht das Kernproblem Frieden in Konkurrenz zu anderen Kernproblemen, die ebenfalls in den Lehrplänen Berücksichtigung finden sollen.

Die vom Bildungsministerium vorgegebenen Kernprobleme sind folgendermaßen formuliert:

Kernproblem Frieden: Die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens, insbesondere der Frieden, die Menschenrechte und das Zusammenleben in der einen Welt mit unterschiedlichen Kulturen, Gesellschaftsformen, Völkern und Nationen als individuelle und globale Aufgaben.

Kernproblem Umwelt: Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der eigenen Gesundheit und der anderer Menschen.

Kernproblem Arbeitswelt: Die Bedeutung wirtschaftlicher, technischer und sozialer Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Lebensverhältnisse.

Kernproblem Gleichstellung: Die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern, Jungen und Mädchen in Familie, Beruf und Gesellschaft.

Kernproblem Partizipation: Das Recht aller Menschen zur Gestaltung ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, ihre Mitwirkung und Mitverantwortung in allen Lebensbereichen.15

Bereits die Definitionen der Kernprobleme lassen erahnen, daß die Neufassung der Lehrpläne ein umfassendes pädagogisches Programm darstellt, dessen prozeßhafter Charakter wahrgenommen werden sollte. Das komplizierte Spektrum der Kernprobleme und ihre vielfältigen Beziehungen untereinander erschweren ihre schulische Umsetzung in Lehrpläne erheblich.

Der Friedenserziehung geht es also vor allem um das Kernproblem Frieden in der Lehrplanrevision und um die Frage, welche Schlüsselqualifikationen Schülerinnen und Schüler entwickeln können, wenn im Fachunterricht das Kernproblem Frieden bearbeitet wird. Von der Friedenspädagogik werden entsprechende Fähigkeiten unter dem Begriff Friedenskompetenz zusammengefaßt, die als eine Integration von Fähigkeiten und Fertigkeiten, Zuständigkeitswillen und Bereitschaft zu verstehen ist. Friedenskompetenz läßt sich als eine Summe von komplementären Teilkompetenzen beschreiben, die untereinander in Beziehung zu setzen sind und zu denen beispielsweise die Abneigung gegen Gewalt, die Fähigkeit zur kommunikativen Konfliktlösung und diskursiven Willensbildung, eine prinzipiengeleitete Moralorientierung, die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive anderer, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Aggressionskontrolle und entsprechende kognitive Fähigkeiten gehören.

Bei der Gestaltung der Fachlehrpläne soll u.a. die Frage beantwortet werden, was ein Fachunterricht zum Erwerb von Friedenskompetenz beitragen kann. Alte und neue Fachthemen und -inhalte stehen auf dem Prüfstand und müssen sich an ihrer Relevanz für die Lösung der gefundenen Kernproblematiken messen lassen. Eine spannende Aufgabe, die Kreativität und Innovationsfähigkeit von den Akteuren verlangt und bei der von Anfang an deutlich geworden ist, daß eine der grundlegenden Teilkompetenzen einer umfassenden Friedenskompetenz, die Lernfähigkeit,16 entwickelt werden kann.

Verändern wir die Welt!

Friedenserziehung in den neunziger Jahren – das ist ein Fazit dieser Abhandlung – wird in der Schule ohne einen reformerischen, d.h. emanzipatorischen Ansatz und ohne historischen Bezug wenig erfolgreich sein. Doch die Prozeßhaftigkeit ist wechselseitig. Ohne friedenspädagogische Komponente wird jegliche Schulreform unvollständig bleiben.

Die Welt verändern, aus diesem Motto ziehen Friedenspädagoginnen und -pädagogen weiterhin ihre Kraft. Die Friedensarbeit fängt klein und vor Ort an. „Erziehung zum Frieden kann nur Erziehung zur Politik heißen. Und Erziehung zur Politik wiederum ist Sache der ganzen polis – zu vollziehen an der ganzen Person und wohl das ganze Leben lang“ (von Hentig, S.9). Dem ist nichts hinzuzufügen, oder ein ganz neuer Artikel!

Anmerkungen

1) Hartmut von Hentig: Arbeit am Frieden. Übungen im Überwinden der Resignation, München/Wien 1987. Zurück

2) Hanne-Margret Birckenbach: Grundlagen und Perspektiven von Friedenserziehung in den 90er Jahren; in: puzzle, Zeitschrift für Friedenspädagogik, Nr. 3 (Dezember 1992), S. 4 – 8. Zurück

3) Vgl. Birckenbach/Jäger/Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1993, München 1992. Zurück

4) Vgl. Thema: Nationalismus, in: et cetera ppf 1/93, S. 12 – 23. Zurück

5) Vgl. Thema: Grundgesetzänderung – Bundeswehr, in: et cetera ppf 3/92, S. 7 – 12. Zurück

6) Vgl. Bernhard Nolz: Blauhelm-Militarismus. Was Politikerinnen und Politiker und was Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden wollen; in: et cetera ppf 3/92, S. 8 – 11. Zurück

7) Jörg Calließ: Einleitung; in: Jörg Calließ/Reinhold E. Lob (Hrsg.): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 3: Friedenserziehung, Düsseldorf 1988, S. 4 – 6. Zurück

8) Johann Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 9. Zurück

9) Nicklas/Ostermann: Friedensfähigkeit. Aspekte der bisherigen friedenspädagogischen Diskussion und Perspektiven für die Zukunft; in: Galtung/Kinkelbur/Nieder (Hrsg.): Gewalt im Alltag und in der Weltpolitik, Münster 1993, S. 59 – 70. Zurück

10) Vgl. Lutz van Dick: Positiven Frieden lernen. Pädagogische Wege zum Erwerb von Kompetenzen zur Friedensfähigkeit; in: Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Mut zum Frieden, Darmstadt 1990, S. 164 – 175. Zurück

11) Vgl. Dieter S. Lutz (Hrsg.): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit der Kultusministerkonferenz 1980/83 – Arbeitsmaterialien zum Thema Frieden in Unterricht und Politischer Bildung, Baden-Baden 1984. Zurück

12) Vgl. Bernhard Nolz: Zur Aktualität der Friedenspädagogik nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten; in: Bernhard Claußen/Birgit Wellie (Hrsg.): Bewältigungen. Politik und Politische Bildung im vereinigten Deutschland, Hamburg 1992. Vgl. Bericht »Friedenskarawane« in: et cetera ppf, Nr. 1/92. Zurück

13) Johannes Hampel: Ja zur abwehrbereiten Demokratie; in: Verteidigungsbereitschaft als Aufgabe politischer Bildung, Politische Studien, Sonderheft 2/1978, S. 3. Zurück

14) Vgl. Walter Westphal: Kriegsgegnerischer Physikunterricht – ein fachspezifischer Beitrag zur Friedenserziehung in Schule und Hochschule; in: Peter Häußler (Hrsg.): Physikunterricht und Menschenbildung, Kiel: Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, 1992, S. 55 – 74. Zurück

15) Vgl. Die Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Sport des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Lehrplanrevision in Schleswig-Holstein, Kiel 1992. Zurück

16) Vgl. Birckenbach/Jäger/Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1991, München 1990, S. 13, die von einer „kollektive(n) Lernunwilligkeit“ als globalem Problem sprechen. Zurück

Bernhard Nolz ist Lehrer, Mitglied der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« und z.Z. als Friedenspädagoge beim Projektverbund Friedenswissenschaften Kiel (PFK) an der Kieler Universität tätig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/4 Friedenswissenschaften, Seite