SDI: Neue Begründungen – neue Gelder
von Bernd W. Kubbig
Wie im Vorjahr beantragte die Bush-Administration Anfang 1991 für Raketenabwehrprogramme Finanzmittel, die weit über der letzten Bewilligung des Kongresses liegen. Für das am 1. Oktober 1991 beginnende Haushaltsjahr 1992 forderte die Exekutive 5,2 Mrd. USD. Das wären im Vergleich zum letzten SDI-Etat von 2,9 Mrd. USD fast 100% mehr. Dieses Budgetvolumen ist taktischer Art. Die Administration weiß, daß eine solche Steigerungsrate illusorisch ist.
Die Entwicklungen 1990/91
Sollte das politische Tauziehen um den SDI-Etat bei einem Wachstum von 20% – also bei ca. 3,5 Mrd. USD – enden, wäre nicht nur die magische Dreimilliardengrenze überschritten. Bei einer realen (und minimalen) Verminderung des gesamten Militärhaushalts von ca. 1% wäre SDI »gut davongekommen«. Selbst 3 Mrd. USD ist immer noch ein großes Volumen für ein Programm, das nach dem Zusammenbruch »des Kommunismus« und angesichts der sich entwickelnden politischen Partnerschaft zwischen den Supermächten seine ursprüngliche Begründung verloren hat – nämlich die UdSSR zusätzlich abzuschrecken, sowjetische Raketen abzuwehren und mit den entsprechenden »Defensiv"aktivitäten Moskaus mitzuhalten.
Bereits vor dem Golf-Konflikt lancierten die SDI-Befürworter eine neue Begründung, um die Raketenabwehrprogramme zu legitimieren: Die anwachsende Gefahr, die von der Weiterverbreitung von Atomwaffen, vor allem in der Dritten Welt, ausgeht.
Auf der konzeptionellen Ebene zwang diese fundamental neue Bedrohungslage das Pentagon, erneut mit einem veränderten SDI-Design zu reagieren. Die nun maßgebliche Ausrichtung der Strategischen Verteidigungsinitiative läuft auf einen Schutz vor Kurzstreckenraketen hinaus. Das ist im Vergleich zu den erklärten Zielen der Reagan-Ära ein äußerst bescheidenes Ziel. Es stellt den endgültigen Abschied von der Idee eines nahezu perfekten Schutzschildes gegen feindliche Raketen, vor allem aus der Sowjetunion, dar. Gleichgeblieben ist indes die pragmatisch-flexible Art und Weise, in der die Bush-Administration auch im letzten Jahr die Strategische Verteidigungsinitiative behandelte. US-Präsident Bush hat sie nicht zur »persönlichen Chefsache« gemacht.
Das neue Kürzel: GPALS
An die Stelle des Kürzels SDI tritt mehr und mehr das Akronym GPALS (Global Protection Against Limited Strikes). Dieses Konzept behält die Idee bei, daß ein Abwehrsystem aus mehreren Schichten bestehen soll. Kernelement ist gegenwärtig eine Kombination von 1. landgestützten, mobilen Abwehrsystemen, vor allem die Entwicklung der als »Super-Patriot« bezeichneten ERIS-Rakete und 2. von weltraumgestützten Brilliant Pebbles, also relativ kleinen HighTech-Abwehrraketen.
GPALS wiederum ist trotz seiner bereits stark reduzierten Zielsetzung ein umfassendes Konzept in der neuen Raketenabwehrarchitektur der SDI-Bürokratie (SDI Organization, SDIO). TPALS und CPALS könnten ihm mit noch weniger anspruchsvollen Missionen vorgeschaltet werden, nämlich zunächst der Transport (»T«) von Waffen und Sensoren per Flugzeug auf einen eventuellen Kriegsschauplatz, um die »Expeditionskorps« der USA und ihrer Verbündeten zu schützen. Darüber hinaus mache der Schutz von auf amerikanischen Territorium stationierten Waffen (»C« für Continental) gegen Raketen der Dritten Welt es erforderlich, daß zu den landgestützten Abwehrraketen Brilliant Eyes kommen, also Sensoren im Weltraum, die feindliche Sprengköpfe in der Freiflug- sowie der Endphase abfangen. Auf CPALS und TPALS soll dann die erste Phase eines strategischen Verteidigungssystems aufgebaut werden. Diese »erste Phase« dürfte sich nicht wesentlich, sondern nur in der Anzahl der Systeme vom gegenwärtig propagierten Konzept des Global Protection Against Limited Strikes unterscheiden. Die Raketenabwehrbefürworter jonglieren hier mit den Zahlen, was zeigt, wie wenig ausgereift alle diese Konzepte sind. Zur Zeit werden die land- und weltraumgestützten Systeme mit je ca. 1000 angegeben. Frühere Vorstellungen gingen von erheblich mehr Waffen aus.
Erfolgswaffe »PATRIOT«?
Es kann nicht verwundern, daß die SDI-Befürworter versuchten, vor allem aus dem Einsatz der Patriot-Abwehrwaffe im Golf-Krieg (haushalts)politisches Kapital für den gesamten Raketenabwehrbereich zu schlagen. Zunächst setzten sie die Patriot mit der Strategischen Verteidigungsinitiative gleich. Führende Vertreter, insbesondere aus der SDI-Bürokratie, waren darüber hinaus bemüht, die weltraumgestützten Brilliant Pebbles als Lösung für unberechenbare Diktatoren mit nuklearem Ehrgeiz wie Saddam Hussein zu propagieren. Andere Befürworter einer Raketenabwehr – insbesondere Senator Warner – wollten die Gunst der Stunde nutzen und den rüstungskontrollpolitisch zentralen Raketenabwehrvertrag (ABM) so verändern, daß er zur bloßen Makulatur geworden wäre.
Diese Argumentationsversuche konnten von den SDI-Kritikern leicht entkräftet werden. Sie wiesen darauf hin, daß gerade das Patriot-Programm außerhalb der SDI-Bürokratie verwaltet und finanziert worden ist. Seit den siebziger Jahren unterstand es einer bürokratischen Einheit der Armee in Huntsville, Alabama. Die Patriot war ursprünglich zum Abfangen von Flugzeugen entwickelt worden, erst Änderungen in der Computer-Software und bei den Sprengköpfen machten sie für die Abwehr taktischer Raketen tauglich – und auch dies nur gegen technisch veraltete, langsam fliegende und nicht zielgenaue Scud-Waffen des Irak, die dazu nicht mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet waren. Die Patriot und entsprechende Weiterentwicklungen würden, so die SDI-Kritiker keinen nennenswerten Schutz gegen eine Vielzahl nuklearer Raketen mit internationaler Reichweite bieten. Außerdem waren selbst die »Leistungen« der Patriot im Golf-Krieg mehr als fraglich: 158 Systeme hatte man starten müssen, um 47 der mehr als 70 vom Irak abgefeuerten Scud-Raketen »erfolgreich« angreifen zu können. Die meisten der Patriots hatten sich nach erfolgloser Zielsuche selbst zerstört.
Bis zum jetzigen Zeitpunkt war die Strategie, mit den »Erfolgen« der Patriot der Strategischen Verteidigungsinitiative insgesamt zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen, nicht wirkungsvoll. Eher ist das Gegenteil der Fall, wenn man die Entscheidung des Verteidigungsausschusses im Repräsentantenhaus als Omen für die Ausrichtung und Zusammensetzung des nächsten SDI-Haushalts nimmt. Das Armed Services Committee plädierte mehrheitlich dafür, das größte SDI-Einzelprogramm (von l,6 Mrd. USD) für eine baldige landesweite Raketenabwehr zu streichen (davon 600 Mio. USD für Brilliant Pebbles).
Unterstützung finden demgegenüber bodengestützte Abwehrprojekte, etwa die Entwicklung der »Super-Patriot« ERIS, die strategische Raketen abfangen soll (Anfang 1991 fand ein erfolgreicher Test statt, bei dem eine ERIS eine Rakete interkontinentaler Reichweite abwehrte und zerstörte). Der Verteidigungsausschuß befürwortete zudem die von der Administration geforderten 883 Mio. USD für Programme zur Abwehr taktischer Raketen, und zwar in voller Höhe. Dieses Votum ist sicherlich mit eine Auswirkung des Patriot-Einsatzes im Golfkrieg. Gegenüber dem Vorjahr ist dieser Bereich sehr stark aufgewertet worden (das Finanzvolumen hat sich um mehr als 100% gesteigert). Darüber hinaus votierte die Mehrheit des Armed Services Committee dafür, der Armee sämtliche Programme zur Abwehr taktischer Raketen zu übertragen. Diese Entscheidung, die eine Schwächung der SDI-Bürokratie und eine Stärkung der Streitkräfte bedeuten dürfte, will möglicherweise die kontinuierliche Entwicklung dieser Technologien sicherstellen.
Der Versuch, den ABM-Vertrag zu verwässern, schlug ebenfalls im Kongreß fehl. Aber auch die Administration, die den START-Vertrag unter Dach und Fach bringen möchte, will den Abschluß dieses Abkommens nicht zusätzlich gefährden. Die UdSSR macht zwar ihr Ja zu einem START-Vertrag nicht mehr von der Auslegung des ABM-Abkommens abhängig. Allerdings haben die Sowjets wiederholt damit gedroht, daß sie unilaterale Erklärungen hinsichtlich eines Junktims abgeben könnten.
Unklar ist gegenwärtig, welchen Stellenwert die Bush-Administration und der Kongreß den Antisatelliten-Technologien (ASAT) beimessen, die mit den Raketenabwehrwaffen eng verwandt sind. Gesichert ist hingegen, daß das Repräsentantenhaus letztlich festgeschrieben haben möchte, daß ein zentrales ASAT-Programm, der chemische Laser (MIRACL) bis September 1993 nicht in der Testanlage von White Sands, NM, getestet werden darf.
Bewertung und Perspektiven
Der Golf-Krieg hat nicht zu einer neuen inneramerikanischen Debatte über die gesamte Strategische Verteidigungsinitiative geführt. Er hat auch keinen Aufschwung von SDI bewirkt. Der Konflikt trug jedoch mit dazu bei, die Raketenabwehrprogramme nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu gewichten und auszurichten, nämlich zugunsten einer bodengestützten Abwehr, bei der das Abfangen taktischer Raketen einen weitaus größeren Stellenwert hat als zuvor. Abzuwarten bleibt, ob etwa weiter entwickelte Patriot-Raketen beispielsweise in Israel aufgestellt werden, denn die Israelis entwickeln mit amerikanischer Unterstützung ein eigenes Programm vom Typ Arrows.
Die Zukunft des neuesten Phase I-Konzepts der Administration mit weltraumgestützten Brilliant Pebbles im Mittelpunkt ist mehr als fraglich. Wird dieses bisher größte Einzelprogramm erheblich gestutzt, wird der Abschied von den Versuchen, möglichst früh Waffen im Weltraum aufzustellen, eingeleitet. Damit vermindert sich auch der Druck auf den ABM-Vertrag, der eine solche Dislozierung verbietet. Für die absehbare Zeit läuft das SDI-Programm auf eine Mischung aus langfristig zu entwickelnden Raketenabwehrsystemen und Waffen zur Abwehr taktischer Raketen hinaus.
Zusammengefasst: Kein politischer Aufschwung für SDI, aber wahrscheinlich ein finanzieller Anstieg der Mittel trotz der kaum noch vorhandenen sowjetischen Bedrohung. Auch wenn der Kongreß die Forderungen der Administration um ein Drittel auf ca. 3 Mrd. USD kürzen und die Steigerungsrate damit kappen würde, wäre ein solcher Finanzsockel ein verläßlicher Indikator dafür, daß die Strategische Verteidigungsinitiative zumindest im letzten Jahr ihre Eigendynamik bewahren konnte.
Dr. Bernd W. Kubbig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/M.