SDI: The show goes on
von Christopher Cohen
Im März 1983 kündigte Ronald Reagan die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) als „Vision der Zukunft“ an und rief die „Gemeinschaft der Wissenschaftler“ auf, „uns die Mittel an die Hand zu geben, um diese Kernwaffen unwirksam und überflüssig zu machen“. (Cohen, S. 5) In den folgenden Jahren entwickelte sich das SDI-Programm zu einem der größten militärischen Forschungs- und Entwicklungsprojekte in der Geschichte der USA. Waren es im Haushaltsjahr 1984 noch etwa 1 Mrd. $, die für SDI aufgebracht wurden, steigerte sich der SDI-Etat bis 1986 schon auf mehr als 3 Mrd. $. (Vgl. Cohen, S. 72) Bekanntlich sah sich SDI breiter Kritik ausgesetzt. Im Mittelpunkt stand neben Fragen der technologischen und finanziellen Realisierbarkeit die rüstungskontrollpolitische Kritik: Statt ein Defensivsystem zur Abwehr strategischer Raketen der Sowjetunion zu entwickeln, sollten die USA sich mit der UdSSR auf eine Abrüstung eben dieser Waffen (und aller anderen Nuklearsysteme) einigen, um nukleare Offensiv- wie Defensivsysteme überflüssig zu machen.
I. Sieben Jahre SDI
Die massive Kritik an SDI führte zu beträchtlichen Kürzungen der beantragten Mittel. Von 1984 bis 1990 wurden statt der beantragten 29 Mrd. $ etwa 21 Mrd. $, rund 70%, bewilligt (berechnet nach Cohen, S. 72; SDI-Report 89, S. 8-4, AWST, 27.11.89, S. 21). Es gelang aber nicht, das SDI-Projekt zu stoppen oder ernstlich zu gefährden.
Im Gegenteil: aufgrund der vorgenommenen finanziellen Abstriche entschloß sich die US-Regierung im Herbst 1986 zu einer Umstrukturierung des SDI-Projekts zugunsten derjenigen Technologien, die am schnellsten zur Serienreife entwickelt werden können, um eine frühe Stationierung (»early deployment«) dieser Systeme zu ermöglichen. Zukunftstechnologien wie Laser- oder Teilchenstrahlenwaffen wurden demgegenüber als »Follow-On«-Technologien in der Prioritätenliste zurückgestuft und zeitlich gestreckt (vgl. Rilling, S.3). (Dies fiel um so leichter, als in diesen Programmen erwünschte Erfolge ausblieben)
Auf dieser Grundlage wurde 1987 die Phase I des »Strategic Defense System (SDS)« eingeleitet. Sechs der am weitest fortgeschrittenen Programme wurden auf Empfehlung des Defense Acquisition Board in die Demonstrations- und Validierungsphase (dem/val) übernommen (vgl. AWST, 10.8.87, S. 28f.). Im einzelnen betrifft es die Sensorprogramme BSTS, SSTS und GSTS, die Abfangraketenprogramme SBI und GBI (vormals ERIS) und das Programm zur Entwicklung eines Befehls- und Kommunikationssystems CC/SOIF (vormals BMC3).
Mit dem Übergang in die dem/val-Phase haben diese Programme eine wichtige Hürde (milestone) auf dem Weg zu einer Stationierungsentscheidung genommen. Im Rahmen des formellen Entscheidungsprozesses müssen sie nur noch zwei solcher Hürden, die Entscheidung zur Full Scale Development (Prototyp) und anschließend die Produktionsentscheidung passieren (Vgl. AWST, 10-7-87, Rilling, S. 4). Bis Mitte der neunziger Jahre sollen sie zur Produktionsreife entwickelt und anschließend produziert und stationiert werden, um ein erstes Defensivsystem zu bilden, das etappenweise um neue Technologien ergänzt und ausgebaut wird.
Auch die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der UdSSR, die im INF-Vertrag ein erstes materielles Ergebnis fanden, änderten nichts am Festhalten am SDI-Projekt. 1988 wurden rund 4 Mrd. $ bewilligt und auch für das letzte von ihr zu verantwortende Haushaltsjahr 1989 gelang es der Reagan-Regierung, einen Etat von etwa 4 Mrd. $ durchzusetzen (vgl. SDI-Report 89, S. 8-4).
II. Ein Jahr Bush-Administration
Viele KritikerInnen glaubten mit der Ablösung des SDI-Protagonisten Ronald Reagan durch George Bush im Januar 1989 das Schicksal von SDI besiegelt zu sehen. Technologisch nicht zu verwirklichen, haushaltspolitisch nicht zu verantworten und angesichts der Abrüstungsverhandlungen überflüssig, würde SDI nach Reagan einen lautlosen Tod sterben. Offensichtlich verkannten sie die Wirkung, die 21 Mrd. $ Forschungsmittel im Geflecht von Regierungs- und Militärbürokratie, Rüstungsindustrie und Forschungs- und Entwicklungsinstitutionen hinterlassen haben.
Ein Jahr Bush-Regierung hat das Gegenteil offenbart: die neue Regierung führt das SDI-Projekt zwar rhetorisch etwas zurückhaltender, aber nicht minder ernsthaft als die vergangene Regierung fort.
Vier wesentliche Positionen der Bush-Regierung lassen sich nach einem Jahr festhalten:
- Raketenabwehrsysteme sollen im Rahmen des SDI-Projekts weiterhin erforscht, entwickelt und stationiert werden. Dies ist die zentrale Aussage der von Bush erlassenen National Security Directive 14 „ICBM Modernization and Strategic Defense Initiative“ vom 14. Juni 1989, mit der Bush die Richtlinien seiner Regierung für die weitere Entwicklung von strategischen Offensiv- und Defensivsystemen bestimmte (vgl. MacDonald, S. 22, Kubbig, Teil II).
- Am Konzept der »Initial Deployment« (»Einstiegs-Stationierung«, hat den Begriff der »early deployment« ersetzt) wird festgehalten. Auch die Regierung Bush strebt eine frühzeitige Stationierung der ersten produktionsreifen Technologien an, wie sich an der aufrechterhaltenen und verstärkten Konzentration auf die Elemente der SDS Phase I feststellen läßt (vgl. MacDonald, S. 24f.; AWST, 26.6.89, S. 30f.).
- SDI steht in den Abrüstungsverhandlungen nicht zur Disposition.
Auch die Zurücknahme des sowjetischen Junktims, einer Halbierung der strategischen Nuklearsysteme nur bei vorausgegangener Einigung über die Einhaltung des ABM-Vertrags zuzustimmen, und ihr Vorschlag getrennter Verhandlungen haben die Position der USA nicht geändert (vgl. AWST, 2.10.89, Kubbig, Teil II). Verteidigungsminister Cheney erklärte: „Ich glaube, daß wir tatsächlich in der Lage sein werden, SDI zu stationieren. Ich denke, wir sollten das tun. Ich denke nicht, daß wir es zulassen sollten, daß sich die sowjetische Position hier durchsetzt und im Ergebnis unsere Möglichkeit zur Stationierung von SDI bestreitet.“ (AWST, 2.10.89, S.25)
- Die Regierung Bush tritt nicht mit dem Ziel an, ein SDI-System zum umfassenden Bevölkerungsschutz zu stationieren. Vielmehr hat sie – wie bereits bei der Reagan-Administration angelegt (vgl. Cohen, S. 7) – den Schutz von Raketensilos zum Ausbau der Abschreckungsfähigkeit zum eigentlichen Ziel ihrer SDI-Politik erklärt (vgl. MacDonald, S. 21f.).
Trotz – oder gerade wegen – des größeren Realismus in der SDI-Politik der neuen Administration hat sich die Kritik an SDI verstärkt. Mit der Herabstufung von SDI zu einem reinen Abschreckungsinstrument muß sie sich, abgesehen von der grundsätzlichen Kritik an neuen Abschreckungssystemen, nun auch in Konkurrenz mit anderen Abschreckungssystemen wie dem B2-Bomber oder den MX-Raketen durchsetzen (vgl. MacDonald, S. 22). Angesichts der von Bush und Gorbatschow öffentlich erklärten Beendigung des Kalten Krieges, eines nach wie vor horrenden Haushaltsdefizits der USA und der Nutzlosigkeit von SDI als einem »Verhandlungs-Joker« in den Abrüstungsverhandlungen, wächst der Druck auf die US-Regierung.
Konsequenterweise hat sie gegenüber den Plänen der Reagan-Administration für die weiteren SDI-Ausgaben eine deutliche Korrektur vorgenommen: Sie kürzte den Haushaltsansatz für SDI für 1990 bis 1994 von 40 Mrd. $ auf 33 Mrd. $ und versuchte, sich dadurch als gemäßigte SDI-Kraft zu profilieren (vgl. AWST, 22.5.89, S.22; MacDonald, S. 25f.).
Tab 1. SDI-Budget Haushaltsjahre 1984 – 1990 $ Mio. | |||
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beantragtes Budget Vorjahr | bewilligtes Budget | Veränderung Budget ggü. | |
1984 | 1.110 | 1.110 | |
1985 | 1.777 | 1.607 | + 45% |
1986 | 3.722 | 3.035 | + 89% |
1987 | 4.802 | 3.650 | + 20% |
1988 | 5.915 | 3.966 | + 9% |
1989 | 6.690 | 4.046 | + 2% |
1990 | ca. 4.600 | 3.790 | – 6% |
Summe | ca. 28.616 | 21.204 | |
zusammengestellt nach: Cohen, S. 73; SDI-Report 88, S. D-4; SDI-Report 89, S. 8-4; AWST, 27.11.89, S. 21 |
Tab 2. Verteilung des SDI-Budgets 1988 und 1989 auf die Programmbereiche, $ Mio | |||
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1988 | 1989 | Veränderung ggü. Vorjahr | |
SATKA | 935 | 1.101 | + 18% |
KEW | 773 | 773 | 0% |
DEW | 934 | 820 | – 12% |
SA/BM | 461 | 506 | + 10% |
SLKT | 430 | 406 | – 6% |
SDIO | 20 | 21 | + 5% |
Military Construction | 59 | 83 | + 41% |
DOE | 352 | 336 | – 5% |
Summe | 3.966 | 4.046 | + 2% |
zusammengestellt nach: SDI-Report 89, S. 8 – 4 |
Gleichwohl: 33 Mrd. $ in in den kommenden fünf Jahren würden eine wesentliche Steigerung des SDI-Etats bedeuten und den Druck für die Stationierung enorm ausbauen.
Für das erste von ihm zu verantwortende Haushaltsjahr 1990 beantragte Bush statt der von Reagan geplanten 5,6 Mrd. $ »nur« 4,6 Mrd. $. Repräsentantenhaus und Senat kürzten diesen Betrag noch einmal um rund 800 Mio. $ und bewilligten für 1990 3,79 Mrd. $ (vgl. AWST, 1.5.89, S. 29; AWST, 27.11.89, S. 21).
Hatten die jährlichen Steigerungsraten des SDI-Budgets auch spätestens seit Verabschiedung des 1988er Haushalts deutlich abgenommen, bedeutet dieser SDI-Etat für 1990 zum ersten Mal eine reale Kürzung der Mittel. Diese Kürzung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bewilligte Summe für 1990 auch inflationsbereinigt immer noch den SDI-Ausgaben von 1986 entspricht, dem Haushalt, mit dem die neue Qualität der SDI-Ausgaben durchgesetzt werden konnte (vgl. Tab.1).
Für das kommenden Haushaltsjahr hat Präsident Bush 4,8 Mrd. $ für SDI beantragt (vgl. Der Spiegel, 6/90, S. 171).
III. Konzentration auf Phase I der SDS
Seit 1987 werden die bewilligten SDI-Mittel auf die für die Phase I wichtigen Programmbereiche konzentriert.
Ganz oben in der Prioritätenliste stehen Sensorsysteme, konventionelle Abfangraketen und die mit ihnen verbundenen Kommunikationssysteme, die in den Programmbereichen SATKA (Überwachung, Auswertung, Verfolgung und Einschätzung der Abwehrergebnisse), KEW (Kinetische Energie – »klassische« – Waffen) und SA/BM (Systemarchitektur, Kommando- und Kontrollsysteme) entwickelt werden. Die Mittel für SATKA und SA/BM stiegen 1989 gegenüber dem Vorjahr überproportional an: SATKA um 18%, SA/BM um 10% sowie Military Construction um 41% (Bau der Testanlage NTB). Die Mittel für KEW blieben stabil, während die Mittel für Programmbereiche, die eher Zukunftstechnologien abdecken, fielen: DEW um 12% (Laser- und Teilchenstrahlenwaffen), SLKT um 6% (Unterstützungstechnologien, v.a. Transport- und Energiesysteme) und DOE um 5% (Department of Energy, zuständig für Nuklearwaffenentwicklung) (berechnet nach SDI-Report 89, S. 8-4).
Trotz der recht hohen Steigerungen für die Haushaltsbereiche, unter denen die Projekte der SDS Phase I entwickelt werden, ist nach Angaben des neuen SDIO-Direktors George Monahan gegenwärtig von einem Zeitverzug von etwa zwei Jahren in der Entwicklung dieser Systeme auszugehen. Die meisten Elemente, die 1992 mit der Full Scale Development (FSD), also der Entwicklung von Prototypen, beginnen sollten, werden erst 1994 in diese Phase übergehen können. Eine Ausnahme bilden allerdings die Sensorsysteme. Sie werden teilweise schon 1990/91 mit der Prototyp-Entwicklung beginnen und sollen 1994 planmäßig produktionsreif sein.
Obwohl es zu Zeitverzögerungen der meisten Systeme gekommen ist, soll die Zeitplanung aufrechterhalten werden, nach der der Präsident und der Kongreß etwa 1994 eine Stationierungsentscheidung für diese Systeme treffen werden (vgl. AWST, 22.5.89, S. 22f.).
IV. Probleme mit den Abfangraketen
Die geplante Architektur eines Strategic Defense System (SDS) Phase I ist zahlreichen Veränderungen unterworfen worden. Eine völlige Klarheit, wie die erste Phase der Gesamtarchitektur aussehen soll, gibt es nicht.
Im Juni 1988 bestätigte das Defense Acquisition Board eine Architektur, die im wesentlichen rund 300 SBI-Satelliten mit jeweils etwa 10 Abfangraketen, eine große Zahl bodengestützter ERIS-Raketen und eine nicht genannte Anzahl von Sensorsatelliten und bodengestützten Sensoren vorsah. Die Kosten für diese erste SDS-Phase wurden auf rund 115 Mrd. $ geschätzt (vgl. SDI-Report 89, S. 4-1).
Der Beratungsausschuß des Weißen Hauses für SDI kritisierte im September 1988 dieses Herangehen der SDIO an die erste Phase der Stationierung als „technologich riskant“. Er warnte, daß diese Pläne „mehr Budget- und andere Ressourcen erforden würden, als vorhanden sein werden.“ (MacDonald, S. 23). Daraufhin legte die SDIO bereits im Oktober 1988 neue Pläne vor. Eine Überprüfung der SDS-Konzeption und angebliche Weiterentwicklungen der Technologien hätten eine Überarbeitung der Architektur ermöglicht, die die Kosten um 40% auf rund 69 Mrd. $ gesenkt hätten. Die Veränderungen betrafen im wesentlichen die SBI-Satelliten, deren Anzahl halbiert wurde, während die Anzahl der billigeren bodengestützten Abfangraketen um 70% erhöht wurde. Außerdem wurden bestimmte Sensor-Aufgaben, die die SBI-Satelliten eigenständig übernehmen sollten, den anderen Sensorsystemen zugeordnet (vgl. SDI-Report 89, S. 4-1ff.).
Tatsächlich blieb diese Veränderung der SDS-Architektur aber nicht die letzte:
Seit dem Frühjahr 1989 propagiert die SDIO eine völlig neue Konzeption für das Abfangraketenelement, die wiederum eine neue Architektur erfordert,: »Brilliant Pebbles« (vgl. AWST, 1.5.89, S. 29; AWST, 22.5.89, S. 20f.; SDI-Report 89, S. 5.3-3f.).
Brilliant Pebbles sollen extrem kleine und leichte Abfangraketen sein, die in niedrigen Umlaufbahnen im Weltrraum in großer Anzahl stationiert werden und im Falle eines Starts sowjetischer ICBM alle Funktionen, die zur Abwehr erforderlich sind, in sich vereinen. Sie würden die Satelliten-gestützten Abfangraketen der SBI ersetzen und weite Teile der Sensorsatelliten und Kommunikationssysteme überflüssig machen.
Diejenigen Pebbles, die in direkter Reichweite der gestarteten ICBM lägen, würden durch die Wärmestrahlung der ICBM-Brennflamme aktiviert und die ICBM durch Kollision zerstören. Obwohl jede Pebble mit eigenen Sensoren, einem Computer mit der Leistung eines Superrechners Cray-1 (!), einem eigenen Radar- und Kommunikationssystem sowie einem Feststoff-Antriebssystem vollgepfropft wäre, soll sie nur 88 Pfund wiegen und maximal nur 1 Mio. $ pro Stück kosten (vgl. MacDonald, S. 24f.).
Die Realisierbarkeit dieser Konzeption konnte noch nicht nachgewiesen werden. Und zahlreiche Fachleute bezweifeln, daß eine Rakete mit solchen technischen Fähigkeiten in einer solchen Größe zu einem solchen Preis verwirklichbar ist (vgl. AWST, 22.5.89, S. 20f; 14.8.89, S. 23f.; MacDonald, S. 24f.).
Trotzdem sind die Pebbles in kürzester Zeit zum Schwerpunkt der Entwicklung der Abfangraketen eines SDS Phase I-Systems geworden. Waren bis zum Sommer 1988 erst 18 Mio. $ für dieses neue Programm aufgebracht worden, erhielt es im Haushaltsjahr 1989 bereits 46 Mio. $. Zum Vergleich: die beiden Hauptauftragnehmer für das SBI-System Martin Marietta und Rockwell International erhielten jeweils ca. 30 Mio. $ für SBI in 1989 (vgl. AWST, 22.5.89, S. 20f.). Für 1990 planen SDIO-Verantwortliche eine Verdreifachung der Ausgaben für Brilliant Pebbles: 130 Mio. $ sollen im laufenden Haushaltsjahr investiert werden, während für SBI 50 Mio. $ vorgesehen sind (vgl. AWST, 27.11.89, S. 21).
Planmäßiger verläuft die Entwicklung der bodengestützten Abfangraketen (GBI). Dieser Teil der SDS baut auf dem ERIS-Projekt (Exoatmospheric Reentry-Vehicle Interceptor System) auf. 1986 erhielt Lockheed als Hauptvertragspartner den 5-Jahres Auftrag in Höhe von $ 468 Mio., im Rahmen des ERIS-Projekts eine Niedrigpreis-Abfangrakete zu entwickeln, die Wiedereintrittskörper in der späten Midcourse-Phase zerstören soll (vgl. AWST, 6.11.89, S. 27ff.). Gegenwärtig baut Lockheed drei Testraketen (Functional technology validation vehicle, FTV), die ab Frühjahr 1990 in einer Reihe von Flugtests die Fähigkeiten dieser Abfangtechnologien demonstrieren und auswerten sollen. Die Regierung erwägt zur Zeit, den ERIS-Vertrag von Lockheed um 130 $ Mio. zu erhöhen, um zusätzliche Flugtests bis 1992 durchzuführen (vgl. SDI-Report 89, S. 5.3-9ff.). Auf der Grundlage seiner ERIS-Arbeit gilt Lockheed als aussichtsreicher Kandidat für die nächste Phase des GBI. Demnächst sollen die Aufträge vergeben werden, bis 1992 eine Testrakete zu entwickeln. Um den Entwicklungsprozeß zu beschleunigen, sollen konkurrierende Konzepte von verschiedenen Auftragnehmern entwickelt werden (vgl. AWST, 6.11.89, S. 27ff.).
V. Entwicklung der Sensoren schreitet voran
Größte Aussicht auf eine schnelle Realisierung hat das BSTS (Boost Surveillance and Tracking System), das die ICBM in ihrer Startphase aufspüren und verfolgen soll und seit 1984 jährliche Mittel-Steigerungen von 35-70% aufweisen kann. Bis 1989 hat BSTS mehr als 680 Mio. $ vereinnahmt (vgl. Cohen, S. 31; SDI-Report 88, S. D-4; SDI-Report 89, S. 8-4). 1987 erhielten Lockheed und Grumman jeweils einen Auftrag in Höhe von 304 Mio. $, um die notwendigen Technologien und Subsysteme zu entwickeln und in bodengestützten Tests bis 1990 zu demonstrieren und auszuwerten (vgl. AWST, 24.4.89, S. 22). 1990 sollte mit der Auswahl eines verbleibenden Hauptauftragnehmers zum Bau eines voll-funktionstüchtigen Prototyp-Satelliten der Übergang in die Full-Scale Development (FSD) geschehen. Die SDIO kündigte in ihrem Report an den Kongreß von 1989 an, daß dieser Demonstrationssatellit „mindestens eine Frühwarnfunktion“ erfüllen werde (vgl. SDI-Report 89, S. 5.2-1). Die Kürzungen an den Budgetplänen haben zu einer Verschiebung des Einstiegs in die FSD um 6-12 Monate geführt (vgl. AWST, 1.5.89, S. 29).
SSTS (Space-Based Surveiuance and Tracking System) und GSTS(Ground-Based Surveillance and Tracking System) sollen die Raketen in der Midcourse Phase erfassen. Ihre Mission ist ungleich komplizierter als die der BSTS: erstens sind ihre Zielobjekte wesentlich kühler, weil sie keine Brennflamme mehr haben, daher schwerer zu erfassen sind, und zweitens müssen sie echte Raketen von möglichen Attrappen unterscheiden. Hinzu kommt, daß die SSTS-Satelliten bislang nicht gegen einen gegnerischen Angriff zu schützen sind (vgl. Cohen, S. 31ff, AWST, 22.5.89, S. 22f.).
1987 erhielten Lockheed und TRW als Hauptauftragnehmer konkurrierende Aufträge in Höhe von $ 33,6 Mio. zur Entwicklung und Demonstration der SSTS-Technologien (vgl. Rilling, S. 6). Auf der Grundlage der abschließenden bodengestützten Demonstrationen ihrer Systeme soll eines der beiden Konzepte ausgewählt und als Demonstrationssatellit gebaut werden. Bis 1989 sind mehr als 311 Mio. $ in dieses Projekt investiert worden (vgl. Cohen, S. 31; SDI-Report 88, S. D-4; SDI-Report 89, S. 8-4).
GSTS ist eine bodengestützte Sensorenplattform, die bei einem Angriff auf einer Trägerrakete in den Weltraum geschossen wird (vgl. Rilling, S. 7). Im Oktober 1988 wurde der Dem/Val-Auftrag für GSTS vergeben, wobei mehrere Konzepte parallel entwickelt werden. Auf der Grundlage von Experimenten mit wesentlichen Sensorelementen und Test-Bed Ergebnissen soll ein einzelnes Design zur Prototypentwicklung ausgewählt werden, das durch ein flugtaugliches Trägersystem ergänzt wird (vgl. SDI-Report 89, S. 5.2-6).
Obwohl die Phase I der SDS keine Abwehrsysteme für die Endanflugphase der gegnerischen Raketen beinhaltet, wird geprüft, ob das Ground-Based Radar (GBR) integriert werden soll. Das GBR, das auf dem ehemaligen Terminal Imaging Radar-Projekt aufbaut, soll in der Lage sein, neben den Aufgaben in der Endanflugphase auch SSTS und GSTS in der Midcourse Phase zu unterstützten (vgl. SDI-Report 89, S. 4-3, S. 5.2-7f.). Die SDIO hat ein Ground-Based Radar Experiment (GBR-X) eingeleitet, das die Basis für ein operationsfähiges GBR hervorbringen soll. Nach der Konzeptdefinition, die in diesem Jahr abgeschlossen werden soll, werden zwei Konzepte ausgewählt werden, die konkurrierend einen Ein-Jahres-Vertrag zur Entwicklung eines Einstiegssystems erhalten (vgl. SDI-Report 89, S. 5.2-7).
1987 ließ die SDIO eine Midcourse Sensor Study (MCSS) durchführen, in deren Ergebnis die verschiedenen Midcourse Sensors in einem koordinierten Projekt zusammengefaßt werden: SSTS soll seine Daten an GSTS zur Untersuchung ausgewählter Flugkorridore weitergeben. GSTS seinerseits instruiert GBR, Objekte zu verfolgen, die eine weitere Unterscheidung zwischen Sprengkopf und Attrappe notwendig machen (vgl. SDI-Report 89, S. 5.2-7).
Mit dem für 1990/91 vorgesehenen Übergang von BSTS in die Full Scale Development-Phase wird der erste Sensor-Satellit milestone II erreichen. Die anderen Systeme (SSTS und GSTS, evtl. GBR) sollen zügig folgen. Deshalb sollen 1990 keine Kürzungen an den Budgetansätzen für diese Programme vorgenommen werden (vgl. AWST, 27.11.89, S. 21).
VI. Follow-On-Projekte
Die Konzentration auf die fortgeschrittenen SDS-Technologien, zu denen neben den Sensorelementen und Abfangraketen auch die Kommando- und Kontrollelemente (CC/SOIF) gehören, hat zu einer Streckung, aber nicht zu einer Aufgabe der »exotischen« Follow-On-Waffensysteme geführt. Wie sich aus dem SDI-Report 1989 ersehen läßt, sollen diese Technologien, während der Dem/Val Phase der Sensoren und konventionellen Abfangraketen ebenfalls in die Dem/Val-Phase und damit des „formellen Enstehungsgangs von Wehrmaterial“ (Rilling, S. 4) übergehen (vgl. SDI-Report 89, S. 3-2). 1989 wurden 820 Mio. $ für die Arbeit an Laser- und Teilchenstrahlenwaffen aufgebracht (vgl. SDI-Report 89, S. 8-4).
VII. Wie weiter?
Mit dem Übergang der ersten Einzelprojekte in die Phase der Prototyp-Entwicklung rückt die anvisierte Stationierungsentscheidung trotz aller bisherigen Rückschläge näher. (Das sagt allerdings nichts über die Leistungsfähigkeit eines solchen »Einstiegs«-Systems aus)
Als mögliches Szenario zeichnet sich ab: Mitte der neunziger Jahre könnten die Sensorsysteme produktionsreif sein. Eine Stationierungsentscheidung für diese Systeme könnte sich durchsetzen, sind sie doch »reine Aufklärungsysysteme«, die keine Waffen tragen. Außerdem können sie auch als ein SDI-unabhängiges Mittel der Früh- und Fernaufklärung – wie in den letzten beiden SDI-Reports angelegt – verkauft werden. Selbst der Einsatz als Überwachungssatellit für eventuelle Abrüstungs-Verträge ist schon in der Diskussion (vgl. SDIM, 17.10.88, S. 238).
Der erwartete Erfolg der Satellitensensoren wird eine Dynamik für die Stationierung der ersten Abfangraketensysteme freisetzen. Mit dem Hinweis, wie einfach und kostengünstig es doch jetzt wäre, die Sensorensysteme um neuartige Abfangraketen zu einem Defensivsystem mit begrenztem Schutz auszubauen, wird die Administration versucht sein, deren Produktion und Stationierung durchzusetzen.
Auf ein solches Vorgehen deuten auch die Vorschläge der USA gegenüber der UdSSR zum weiteren Umgang mit dem ABM-Vertrag hin: Beide Parteien sollen weltraumgestützte Tests von maximal 15 gekennzeichneten Versuchssatelliten aus durchführen dürfen. Weltraumgestützte Sensoren sollen keinerlei Einschränkungen unterworfen sein (!). Nach einer zu vereinbarenden Phase sollen alle Beschränkungen aufgehoben werden (vgl. Kubbig, Teil II).
Natürlich bleibt diese Stationierungsstrategie abhängig von innen- und außenpolitischen Kräfteverhältnissen. Zweifelhafte technologische Reife der Programme, die für die Einstiegs-Stationierung vorgesehen sind, verstärken die SDI-Kritik. Die erste reale Kürzung des SDI-Budgets 1990 ist Ausdruck der wachsenden SDI-Kritik. Die Kräfteverhältnisse könnten sich angesichts des wachsenden haushalts- und abrüstungspolitischen Drucks weiter zu Lasten von SDI verschieben.
Es sollte aber nicht unterschätzt werden, in welchem Maß die jährlich 4 Mrd. $ für SDI-Forschung und Entwicklung den Druck zur Produktion und Stationierung dieses Systems erhöhen. SDI geht trotz aller Kritik momentan noch den vorgesehen Weg. Die Befassung mit SDI bleibt für die Friedensbewegung notwendig.
Literatur
Aviation Week & Space Technology (AWST), verschiedene Ausgaben
Cohen, Christopher, Zur Ökonomie der »Strategischen Verteidigungsinitiative« (SDI), Marburg 1988
Department of Defense (Hrsg.), 1988 Report To The Congress On The Strategic Defense Initiative, Washington, D.C., April 1988
Department of Defense (Hrsg.), 1989 Report To The Congress On The Strategic Defense Initiative, Washington, D.C., März, 1989
Kubbig, Bernd W., „Die militärische Eroberung des Weltraums geht weiter...“, in : Frankfurter Rundschau, 17. 1. 90, S. 16 (Teil I), 18. 1. 90, S. 22 (Teil II)
MacDonald, „Lost in Space: SDI Struggles Through Its Sixth Year“, in: Arms Control Today, September 1989, S. 21ff.
Rilling, Rainer, „Die Vision im Eimer – das Projekt geht weiter“, in: Infodienst Wissenschaft & Frieden, 2/88, S. 3ff.
SDI-Monitor (SDIM), verschiedene Ausgaben
Christopher Cohen ist Soziologe und lebt in Hamburg.