Seenotrettung – und dann?
von Jürgen Nieth
Am 12. Juni 2019 rettete die »Sea-Watch 3« vor der libyschen Küste 53 Menschen aus Seenot. Auf die Bitte, ihr einen sicheren Hafen zuzuweisen, wurde sie von den italienischen Behörden an Libyen verwiesen. Das lehnte die Kapitänin Carola Rackete angesichts der Zustände in den libyschen Gefangenenlagern ab und nahm stattdessen Kurs auf Italien.
Nach 17 Tagen vor Lampedusa, in denen sich kein europäischer Hafen bereit erklärt hatte, das Schiff einlaufen zu lassen, entschied die Führung der »Sea-Watch 3« – trotz Verbot der italienischen Behörden – anzulanden. Die Kapitänin reklamierte eine Notsituation.
Notsituation
13 Migranten mussten während dieser über zwei Wochen vor Lampedusa als medizinische Notfälle ausgeschifft werden. Zu den Migrant*innen sagte die Kapitänin im taz-Interview (27.6.19, S. 11): „Viele bringen traumatische Erfahrungen mit: Die Geschichten reichen von Versklavung, über sexuelle Gewalt, Entführung und Zwangsarbeit. Es besteht die Gefahr der Retraumatisierung.“ Donatelle di Cesare schreibt in der ZEIT (4.7.19, S. 38): Die Kapitänin hatte Grund zu der Annahme, Gerettete „würden es an Bord nicht länger aushalten. Sie befürchtete, dass einige von ihnen, mitten in der Nacht, die schwarzen Gewässer um sie herum nutzen könnten, um sich das Leben zu nehmen.“
Rettung ohne Hafen
Verschiedene Medien verweisen auf eine Lücke im Seerecht. „Es gibt zwar eine Rettungspflicht auf See, aber es gibt keine Aufnahmepflicht der Küstenstaaten“, so Nele Matz-Lück im Interview der taz (3.7.19, S. 4).
In einer Stellungnahme des Verbands Deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere heißt es dazu: „Es sei »unstrittig, dass Seeleute immer verpflichtet waren und sein werden, Menschen aus Seenot zu retten« […] Inzwischen aber werde von Seeleuten erwartet, die »Schiffbrüchigen im Mittelmeer in solche erster und zweiter Klasse einzuteilen […] Es ist kein Fall bekannt und es wäre unvorstellbar, dass ein unbekannter Segler, der nach dem Untergang seiner Yacht ohne Ausweispapiere geborgen würde, nicht an Land gebracht werden dürfte.«“ (Tagesspiegel 3.7.19, S. 3)
Sichere Häfen
„»Sicher«, das ist gemäß einer Entschließung des Schiffssicherheitsausschusses der Internationalen Schifffahrtsorganisation IMO ein Hafen, »an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Bedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden«“, schreibt Martin Klingst in der ZEIT (4.7.19, S. 6). Und die italienische Richterin, die den Hausarrest Racketes aufhob, stellte fest: Die »Sea-Watch 3« „hätte keinen Hafen in Libyen oder Tunesien ansteuern können, weil in diesen Ländern Menschenrechtsverletzungen drohten“ Tagesspiegel (4.7.19, S. 4).
Die BILD-Lösung
„16 TAGE ODYSSEE! Dabei hätte es möglicherweise auch andere Möglichkeiten gegeben. Die Stadt Kiel z.B. hatte von Anfang an signalisiert, Flüchtlinge der »Sea-Watch« aufzunehmen. Für die Strecke Lampedusa-Kiel würde ein Schiff wie die »Sea-Watch 3« vermutlich 10-12 Tage brauchen – abhängig von Wind und Wetter.“ (Bild 2.7.19, S. 2)
BILD will tatsächlich traumatisierten, erschöpften, kranken Menschen tausende Kilometer auf offener See zumuten (siehe oben: Notsituation). Eine kaum zu überbietende Menschenverachtung, und dann ist die Idee auch noch geklaut. Der rechtsextreme italienische Innenminister hatte bereits Tage vorher getönt: „Holländisches Schiff, deutsche Hilfsorganisation – also die Hälfte der Migranten nach Amsterdam, die andere Hälfte nach Berlin. Und dann Beschlagnahmung des Piratenschiffs. Punkt.“ (SZ 29.6.19, S. 4)
Festung Europa
Für Günter Burkhardt von pro asyl will „Italiens Innenminister Salvini […] ein Exempel statuieren. Sein Ziel ist es, generell Schiffe davon abzuhalten, Menschen aus Seenot zu retten.“ (Interview mit der taz, 1.7.19, S. 3).
Die Bundesregierung hat auch diesmal wieder die Geretteten auf See alleine gelassen und eine »Europäische Lösung« als Voraussetzung der Aufnahme gefordert. „Aus italienischer Sicht sitzen die Berliner Mahner deshalb auf einem ziemlich hohen Ross. Weil es bis heute keine funktionierende gemeinsame europäische Lösung gibt und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird.“ (Matthias Rüb in FAZ, 5.7.19, S. 1) Und Regina Kerner stellt in der BZ (3.7.19, S. 5) fest: „Im letzten Jahr sind nicht einmal 25.000 Menschen über das zentrale Mittelmeer gekommen. Davon hat Deutschland nur 157 aufgenommen.“
Fabian Hillebrand kritisiert die Bundesregierung noch deutlicher: „»Menschenleben zu retten ist eine humanitäre Verpflichtung«, twitterte Heiko Maas nun. In Wirklichkeit steht er einer Behörde vor, die mit Deals mit libyschen Milizen alles dafür getan hat, das Sterben auf dem Mittelmeer so leise wie möglich vonstatten gehen zu lassen.“ (ND 1.7.19, S. 1)
Hoffnung
„Die große Aufmerksamkeit für Sea-Watch und die »Capitana« hat […] dazu geführt, dass andere NGOs, die zwischenzeitlich weg gewesen waren, ihre Schiffe wieder ins zentrale Mittelmeer verschieben und sich neu koordinieren.“ (Oliver Meiler, SZ 4.7.19, S. 7) Es mehren sich die Stimmen, die den erneuten Einsatz staatlicher Rettungsschiffe fordern, und die Pariser Stadtverwaltung will die beiden deutschen Kapitäninnen Rackete und Klemp mit einer Ehrenmedaille auszeichnen.
„Caroline Rackete gegen Matteo Salvini. Der vulgäre Rambo in Rom gegen die Kapitänin auf See, eine heutige Antigone, die wie die antike Heldin ohne Rücksicht auf persönliche Verluste für die Menschlichkeit kämpft gegen einen ungerechten Mächtigen […] Das könnte das Bild sein, von dem man eines Tages sagen wird, es war der Anfang vom Ende der bisherigen Strategie, die Festung Europas zu verteidigen.“ (Andrea Dernbach in Tagesspiegel, 28.6.19, S. 6)
Redaktionsschluss dieser Seite 15. Juli 2019.
Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, BILD, nd – Neues Deutschland, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern, SZ – Süddeutsche Zeitung, [Der] Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, ZEIT – DIE ZEIT.