W&F 1993/2

Selbstbestimmung für Sahrauis?

Gefährdet die UNO ihre Beschlüsse und Prinzipien?

von Ralf Mattes

Die Staaten des Maghreb (Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien) sind, was ihre territorialen Grenzen und zum größten Teil ihre gesellschaftspolitische Entwicklung betrifft, ein Produkt des europäischen Kolonialismus. Bedingt durch diese Situation ergeben sich trotz der Arabischen Maghreb-Union, die am 17.2.1989 in Marrakesch gegründet wurde, eine Reihe von Problemen und zwischenstaatlichen Konflikten auf politischer, ökonomischer und militärischer Ebene.

Einer der zentralsten und augenfälligsten Konflikte in dieser Region ist der Befreiungskampf des Sahrauischen Volkes unter der Führung ihrer politischen Organisation Frente Polisario (Frente Popular para la Liberacion de Saguia el Hamra y Rio de Oro: Volksfront für die Befreiung von Saqiya al-Hamra und Rio de Oro) gegen die militärische und administrative Okkupation ihres staatlichen Territoriums Mitte der siebziger Jahre durch Marokko. Mit Ausnahme Tunesiens sind alle Staaten der Maghreb-Union mehr oder weniger in diesen postkolonialen Konflikt involviert.

Die überstürzte und unkontrollierte Dekolonialisation der ehemaligen Spanisch-Westsahara durch die spanischen Kolonialherren verleitete Marokko und Mauretanien, ihre schon seit den 60er Jahren proklamierten Annektionspläne umzusetzen. Nachdem beide Nationen ihre territorialen Interessen abgestimmt hatten, begann die systematische Besetzung des Gebietes. Der marokkanische König Hassan II entsandte heimlich erste Armeeeinheiten in das schwer zu kontrollierende Areal im Norden der Westsahara und veranstaltete am 6. November 1975 ein logistisch und inhaltlich vom Staatsapparat organisiertes Medienspektakel. 350.000 Marokkaner überschritten »spontan« die Grenzen der Spanisch-Westsahara. Diese offiziell als »Grüner Marsch« bezeichnete Demonstration des marokkanischen Machtanspruches wurde als Verbrüderung des durch die Kolonialzeit geteilten marokkanischen Volkes dargestellt. Hinter den Kulissen wurde am 14. November 1975 ein trilaterales Abkommen in Madrid unterzeichnet, in dem Mauretanien und Marokko ihre territorialen Ansprüche absteckten und Spanien die billige Versorgung mit Phosphat, dem wichtigsten Exportrohstoff der West-Sahara garantiert wurde. Die Ausbeutung der größten Phosphatlagerstätten der Welt bei Bou Craa im Norden der Westsahara sollte ohne Beteiligung der einheimischen Bevölkerung geschehen. Arbeitskräfte aus Marokko sollten die in ihrem eigenen Land bestehende Massenarbeitslosigkeit verringern. Durch den Zuzug der Familien in das extrem dünn besiedelte Gebiet erhoffte sich die marokkanische Regierung eine Entschärfung der wachsenden sozialen und ökonomischen Probleme, die durch die Überbevölkerung entstanden waren. Die zu erwartenden Profite sollten in die Kassen Königs Hassan II sowie einiger internationaler Konzerne fließen.

Am 26. Februar 1976 endete offiziell die spanische Herrschaft, zwei Tage vor dem vereinbarten Termin. Das Sahrauische Volk durfte nicht selbst über seine eigene Zukunft bestimmen. Die Frente Polisario, die schon zuvor gegen die spanische Besatzung gekämpft hatte, rief am darauffolgenden Tag, dem 27. Februar, durch den provisorischen sahrauischen Nationalrat die Demokratische Republik Sahara (DARS) aus.

Die anschließende Okkupation des ehemaligen Kolonialgebietes (die nördlichen 2/3 durch Marokko, das südliche Drittel durch Mauretanien) stellten einen eklatanten Bruch der in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) manifestierten Unverletzlichkeit der Kolonialgrenzen dar.

Zunächst konzentrierte die Frente Polisario ihre militärischen Aktionen gegen das militärisch und ökonomisch schwache Mauretanien – mit Erfolg, denn am 10. Juli 1978 stürzte ein Militärputsch den mauretanischen Staatspräsidenten Mokhtar Ould Daddah, der sein Land durch diesen Konflikt ruinierte. Am 5. August 1979 unterzeichneten schließlich der stellvertretende Generalsekretär der Frente Polisario Bachir Mustapha Sayed und der Vize-Präsident des regierenden Militärrats von Mauretanien, Ahmed Salem Ould Sidi einen formellen Friedensvertrag.

Dadurch veränderte sich die politische und militärische Konstellation des Konflikts. Marokko besetzte sofort die restlichen Gebiete der Westsahara und wurde nun zum einzig verbleibenden, aber übermächtigen Gegner der Frente Polisario. Mauretanien muß seitdem die diplomatische Balance zwischen Marokko und Algerien, dem Verbündeten der Befreiungsorganisation, halten.

Die militärische Situation

Die großen Anfangserfolge der sahrauischen Armee (Ejercito de Liberacion Popular Sahraui), die bis Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre weite Teile des ehemaligen Spanisch-Westsahara, aufgrund ihrer besseren Ortskenntnisse sowie ihrer Guerilla-Taktik kontrollierte, wurden durch eine immer weiter voranschreitende massive Präsenz der marokkanischen Streitkräfte gestoppt. Hassan II entledigte sich dadurch auch unliebsamer, oppositioneller und ihm schon durch mehrere gescheiterte Putschversuche innenpolitisch gefährlich werdender Offiziere, indem er sie zum Einsatz an die »Nationale Front« befahl und dort band. Des weiteren ließ der marokkanische Diktator seine Truppen Befestigungswälle aus Sand und Steinen errichten und »dank« westlicher Militärhilfe mit elektronischen Bodenfrühwarnsystemen und Minenfeldern ausstatten, so daß sich bis Mitte der 80er Jahre allmählich eine militärische Pattsituation herauskristallisierte. Die insgesamt sechs marokkanischen Befestigungswälle umschließen rund zwei Drittel des Territoriums der ehemaligen Kolonie, ein Drittel wird von der Sahrauischen Befreiungsfront kontrolliert, die sogenannten befreiten Gebiete.

Die diplomatische Situation

Die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) wurde seit ihrer Proklamation 1976 von insgesamt 74 Staaten (Stand 1991) völkerrechtlich anerkannt. Den wichtigsten diplomatischen Erfolg gegenüber Marokko konnte die Frente Polisario 1984 erringen. Auf der 20. Gipfelkonferenz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) in Addis Abeba (Äthopien) wurde die DARS als 51. Vollmitglied aufgenommen, worauf Marokko die Organisation verließ. Das seit 1983 jedes Jahr wieder verabschiedete Grundsatzpapier (OAU-Resolution 104 AHG) welches das Recht der sahrauischen Bevölkerung auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung anerkannte, wurde 1985 inhaltlich von den Vereinten Nationen übernommen. 1989 stimmte sogar Marokko der Resolution auf der UN-Vollversammlung zu.

Der sich mittlerweile abzeichnende internationale Konsens zur Lösung des Konflikts mündete in den UN/OAU-Friedensplan für die ehemalige Spanisch-Westsahara, mit dessen Durchführung der Generalsekretär der Vereinten Nationen beauftragt wurde, und dem 1988 beide kriegführenden Parteien im Prinzip zustimmten.

Der UN/OAU-Friedensplan

Der ursprüngliche, vom Weltsicherheitsrat am 29. April 1991 gebilligte Zeitplan des UN/OAU-Friedensplanes sah neben einem Waffenstillstand, der Stationierung von MINURSO (Mission der Vereinten Nationen für die Organisation eines Referendums in der West-Sahara) Verwaltungs- und Logistik-Einheiten, der Stationierung von UN-Blauhelmen sowie dem Austausch der Kriegsgefangenen die Erstellung einer Liste der für das Referendum stimmberechtigten Personen vor. Als Grundlage der Wählerlisten sollte der von der spanischen Kolonialverwaltung 1974 erstellte Zensus dienen. Einen Tag später, am 30. April stimmt das Führungsgremium der Frente Polisario sowie die Regierung der DARS dem Friedensplan zu. Das Finanzbudget für die Durchführung des Referendums passiert am 17. Mai die UN-Vollversammlung, einen Tag später erklärt sich Marokko bereit, ebenfalls den Plan anzunehmen. In Genf vereinbarten am 30. Juni Vertreter beider Konfliktparteien einen Waffenstillstand, der am 6. September 1991 – der sogenannte D-Day – in Kraft treten soll, und von dem alle weiteren terminlichen Schritte bis zum Referendum abhängen. Im Juni 1991 werden schließlich die Listen der im spanischen Zensus erfaßten Stimmberechtigten sowie die Regeln für die Beantragung zur Aufnahme in die Wählerlisten veröffentlicht. Für Mitte Juli wurde das Ende der Antragsfrist festgesetzt. Bis August 1991 sollte der Großteil der MINURSO-Einheiten eingetroffen sein.

Ab dem D-Day, 6. September 1991, sollte die Reduzierung der marokkanischen Truppen auf 65.000 Mann beginnen. (Derzeit sind nach marokkanischen Angaben 167.000 Mann in der West-Sahara stationiert; die Frente Polisario verfügt über rund 30.000 Kämpfer.) Überdies sollten die Konfliktparteien ihre verbleibenden Einheiten auf vorgegebene Standorte zurückziehen. Des weiteren wurde vereinbart, mit der Ausgabe von Ausweiskarten durch eine Identifizierungskommission zu beginnen sowie Einsprüche gegen das Verfahren und Beschwerden zu behandeln. CIVPOL-Kräfte (Zivilpolizei der MINURSO) sowie das Infanteriebattaillon der MINURSO sollten zur Verstärkung eintreffen. Gesetze und Maßnahmen, die das Referendum behindern, sollten außer Kraft gesetzt und eine Amnestie für zurückkehrende Flüchtlinge verkündet werden. Der UN-Generalsekretär sollte Mitte November über die endgültige Wahlliste entscheiden. Bis Januar 1992 wurde festgesetzt, soll die Repatriierung der sahrauischen Flüchtlinge aus den Lagern bei Tindouf in Algerien abgeschlossen sein und die Referendums-Kampagne beginnen. Ende Januar sollte endlich die Abstimmung durchgeführt werden. Anschließend, nach Bekanntgabe des Ergebnisses, für dessen Umsetzung gesorgt werden und die MINURSO abziehen.

Der Streit um den Zensus

All diese Schritte zur Umsetzung des UN/OAU-Friedensplans sind in groben zeitlichen Verzug geraten. Die marokkanische Regierung läßt nichts unversucht, das Referendum hinauszuzögern und die Bedingungen für die organisatorische Durchführung unmöglich zu machen. Mitte 1993, also eineinhalb Jahre nachdem das Referendum hätte stattfinden sollen, ist ein endgültiger Termin noch lange nicht in Sicht.

Der Hauptgrund für die Verzögerung ist nach wie vor der Streit um die Kriterien für die Aufnahme in die Wahllisten und der Versuch der marokkanischen Regierung, diese zu ihren Gunsten zu umgehen bzw. eine Erweiterung der Wahlberechtigung auf marokkanische Staatsbürger, die in der Westsahara leben, zu erreichen.

Wahlberechtigt sollten nach UN/OAU-Friedensplan alle Sahrauis sein, die 1974 im Zensus von den spanischen Behörden registriert und 18 Jahre und älter sind und zur Zeit im Territorium leben oder außerhalb, sei es als Flüchtlinge oder aus anderen Gründen. Damit auch Sahrauis an dem Referendum teilnehmen können, die zwar auf dem Territorium der Westsahara leben, jedoch 1974 nicht erfaßt wurden, richtete die MINURSO die Identifizierungskommission ein. Genau hier setzt der Plan Hassan II, die Abstimmung zugunsten Marokkos zu entscheiden, an. Neben den schon seit langem in der Westsahara arbeitenden Marokkanern karrt die marokkanische Regierung tausende von Menschen in die besetzten Gebiete und erklärt sie kurzerhand zu Sahrauis – insgesamt rund 350.000 Menschen (inklusive Soldaten), die zum Teil in Zeltlagern mit dem zynischen Namen »Camps de l`Unite« leben.

Die Frente Polisario würde hingegen drei Kriterien zur Ergänzung des Zensus um Personen, die 1974 nicht berücksichtigt wurde, akzeptieren, von denen mindestens eine erfüllt sein müßte:

a) ein enges Familienmitglied (Vater, Mutter, Sohn, Tochter) muß in der Liste von 1974 registriert sein;

b) die Person muß im Jahr des Zensus im Territorium ansässig gewesen sein;

c) die Person ist im Territorium geboren, und zwar als Sohn/Tochter eines Vaters, der ebenfalls im Gebiet der Westsahara geboren wurde.

Die seltsame Definition des marokkanischen Königs, daß alle, die im Augenblick in der Westsahara leben, auch Sahrauis seien und am Referendum teilnehmen dürften, lehnt die Frente Polisario entschieden und zu recht ab. Doch hier kommt die UNO Hassan II entgegen. Sie erweiterte die Kriterien für eine Aufnahme in die Wahllisten um zwei entscheidende Punkte. Zusätzlich zu den im Zensus erfaßten Personen dürfen am Referendum Personen teilnehmen, deren Vater im Territorium geboren ist, die vor dem 1.12.1974 im Territorium gelebt haben sowie entweder sechs Jahre in Folge oder zwölf Jahre mit Unterbrechungen in der Westsahara ansässig waren. Diese Neu-Definition der Kriterien – vor allem die Erweiterung um Personen, die eine gewisse Zeit in der Westsahara gelebt haben – spielt Hassan II einen großen Trumpf in die Hand. Er muß schließlich nur genügend Untertanen in den besetzten Gebiete ansiedeln, das Referendum um mittlerweile nur noch vier bis fünf Jahre verzögern und letztendlich die Volksabstimmung durchführen.

Dieser wohl entscheidende Punkt verzögert die Durchführung des Friedensplans. Hassan II spielt auf Zeit, seine wohl besseren Kontakte zu den Vereinten Nationen und seine politische, ökonomische und militärische Orientierung zur Weltmacht USA halten ihm den Rücken frei. Der UN-Sonderbeauftragte für die Westsahara, der Schweizer Diplomat Johannes Manz, legte Ende 1991 sein Mandat nieder, da Marokko allen formalen Zusicherungen zum Trotz die Vorbereitungen eines Referendums in einer Weise behindere, die schließlich den Rücktritt aufdrängten. Sein Nachfolger wurde der ehemalige Außenminister von Pakistan, Sahabzada Yaqub-Khan, der dem marokkanischem König nachweislich in entscheidenden Fragen des Konfliktes zugeneigt ist.

Hassan II gibt sich schon jetzt siegesgewiß. Zum 16. Jahrestag des »Grünen Marsches« erklärte er: „Ich versichere erneut mit Nachdruck, daß das konfirmative Referendum, so Gott es will, uns die Ergebnisse liefert, die wir erwarten und erhoffen. Das Spiel um das Referendum ist gewonnen. Die Sahara ist marokkanisch. Es stimmt, daß es noch einige Nachbesserungen gibt, die wir bezüglich der Kriterien machen müssen, die festlegen, ob eine Person Sahraui ist und an der Abstimmung teilnehmen darf oder nicht. Abgesehen davon, Gott sei es gedankt, läuft alles so, wie wir es wünschen und wie wir es akzeptieren.“ (Sahara-Info der Gesellschaft der Freunde des Sahrauischen Volkes e.V., April 1992, 13. Jahrgang, Nr.1)

Darüberhinaus wird den Mitarbeitern der MINURSO sowie den Militärbeobachtern der UNO die Arbeit so gut wie unmöglich gemacht. Sie stehen unter ständiger Beobachtung und Kontrolle der marokkanischen Polizei und des Geheimdienstes. Unter der Überschrift „Die Westsahara vor dem Referendum – UNO-Truppen im goldenen Käfig des marokkanischen Königs“ erschien in der Neuen Züricher Zeitung vom 8.12.1991 ein Artikel des Schweizer Journalisten Michael M. Roman, in dem er die Situation der MINURSO-Mitarbeiter folgendermaßen beschreibt: óDie Offiziere und die Kommandostellen der Minurso sind in den beiden Luxushotels von Laayoune einquartiert. Über den beiden der UNO vorbehaltenen Hotels weht nicht das UNO-Emblem, sondern die marokkanische Flagge. Die fabrikneuen Fahrzeuge der Minurso leuchten in Weiss, doch auch hier fehlt jeglicher Hinweis auf die UNO. Jegliche Kommunikation mit den Minurso-Angehörigen wird von der marokkanischen Polizei unterbunden. … Er sei schon weit in der Welt herumgekommen, meint ein Minurso-Mitglied, aber so etwas habe er noch nie erlebt. Jeder Schritt werde von der Polizei überwacht, jedes Gespräch abgehört – sogar das Satellitentelefon sei von den Marokkanern angezapft worden. Einen Polizisten auf rund 150 Einwohner, vermutet ein UNO-Angehöriger, gebe es zur Zeit in der Westsahara.“ Aber nicht nur das: Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung ziehen Repressalien für letztere nach sich.

Der marokkanische König Hassan II hält alle Trümpfe in der Hand. Seine Truppen beherrschen den Großteil der Westsahara durch ihre weit den Polisario-Kämpfern überlegene Militärtechnik. Internationale Konzerne, die sich an der Ausbeutung der Bodenschätze in den besetzten Gebieten beteiligen sowie befreundete Regierungen allen voran die Vereinigten Staaten helfen Hassan II, den Konflikt für sich zu entscheiden.

Auf die Bindung von EG-Finanzhilfen für Marokko an die Beachtung von Menschenrechten und die Respektierung des Friedensplans reagiert die marokkanische Führung mit dem Hinweis, daß die Verhandlungen zur Erneuerung des Fischereiabkommens mit der EG für die Fanggebiete vor der Küste Marokkos und der Westsahara die Gelegenheit bieten werden, diese Haltung zu ändern. Auf Druck Spaniens, das wirtschaftlich am meisten von einer Aussetzung des Fischereiabkommens betroffen wäre, gewährt die EG weiterhin Finanzhilfen.

Die Situation der Frente Polisario

Ein Sieg in diesem Konflikt für die Frente Polisario und das sahrauische Volk scheint immer aussichtsloser zu werden. Die diplomatischen und militärischen Erfolge werden durch die Nachgiebigkeit der Vereinten Nationen gegenüber der marokkanischen Regierung langsam zunichte gemacht. Hinzu kommt eine stetige politische und diplomatische Annäherung der algerischen Regierung an die marokkanische. Die Führung in Algier, bisher treuester Verbündeter der Sahrauis, dokumentierte diese Politik mit dem Eintritt in die von Marokko angeregte Maghreb-Union. Im August 1992 begrüßte deshalb der Präsident der DARS und gleichzeitige Generalsekretär der Frente Polisario, Mohamed Abdelaziz, das Ausscheiden des algerischen Innenministers Larbi Belcheir, der eine nach Aussage der Frente Polisario zu pro-marokkanische Politik betrieben habe. Bisher mischte sich die Frente Polisario nicht in die Innenpolitik Algeriens ein, auf deren Territorium sich die großen Flüchtlingslager der Befreiungsorganisation bei Tindouf in der südwest-algerischen Wüste mit rund 170.000 Menschen befinden. Doch wenn sich die Politik Algeriens zu sehr an Marokko anlehnen würde, könnte die Polisario ihren einzigen Fürsprecher von internationaler und vor allem lokaler Bedeutung verlieren. Die militärische Stärke verhinderte einen Übergriff auf die sahrauischen Flüchtlingslager, die durch ihre autonome Organisation die Keimzelle für die DARS darstellen. Die Frente Polisario ist deshalb auf eine Konfrontationspolitik zwischen den beiden Nachbarstaaten angewiesen. Der Kurswechsel in Algier mag hauptsächlich der Grund sein, daß der Polisario eine heimliche Unterstüzung der islamisch-fundamentalistischen F.I.S. nachgesagt wird, da die Fundamentalisten keinen Hehl aus ihrer bedingslosen Ablehnung des feudalistischen marokkanischen Königreiches machen. Des weiteren häufen sich die Berichte, daß es innerhalb der Führung der Befreiungsorganisation zu Richtungskämpfen gekommen sei, die ein geschlossenes Vorgehen bei den weiteren Verhandlungen über die Souveränität der DARS in Frage stellen. Die Zeit läuft gegen die Freiheit des sahrauischen Volkes und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Es ist für die Frente Polisario überlebenswichtig geworden aus ihrer gegenwärtigen defensiven diplomatischen Position in die Offensive zu gehen. Sie muß die Vereinten Nationen drängen, kompromißloser in ihrer Angelegenheit gegen die marokkanische Regierung vorzugehen.

Perspektiven

Doch eine friedliche Lösung wird es vielleicht nicht geben. Während meines Aufenthaltes in den sahrauischen Flüchtlingslagern im Oktober 1992 hatte ich die Gelegenheit mit dem Generalsekretär der UJSARIO (Union de la Juventud de Saguiat el Hamra y Rio de Oro), Ahmed Mulay Ali, zu sprechen. Für die Zukunft konnte sich Ahmed Mulay Ali nur zwei Alternativen vorstellen: Frieden, wenn Hassan II und die UNO sich an den Kriterien der Polisario für die Wahllisten orientieren; Krieg, der Bewegung in die augenblicklich stagnierenden Verhandlungen bringen würde und immer stärker gerade von den jugendlichen Kämpfern gefordert wird.

Für die UNO stellt sich letztendlich die Frage ob sie politisch willens ist, ihre eigenen Beschlüsse ernst zu nehmen und das Referendum trotz der marokkanischen Schikanen durchzusetzen. Ansonsten muß sie sich wieder einmal vorwerfen lassen, nichts anderes zu sein als ein Spielball US-amerikanischer Interessen. Zu diesen Interessen zählen auch die Erdölvorkommen, die schon in den sechziger Jahren von Ölkonzernen erforscht wurden und deren Nutzungsrechte alle sechs Jahre stillschweigend verlängert werden.

Über die Zukunft des sahrauischen Volkes und der Demokratischen Arabischen Republik Sahara entscheidet nicht allein das Referendum in der Wüste, die Entscheidung, ob ein Volk in der Dritten Welt über sich selbstbestimmen darf, wird in Washington, Brüssel, Tokio und Bonn sowie in den Vorstandsetagen der multinationalen Konzerne getroffen. Eine bittere Erkenntnis, nicht nur für das sahrauische Volk.

Ralf Mattes ist Student der politischen Wissenschaften in München. Er war als Mitglied der Juso-Bundeskommission »Entwicklungspolitik« auf Einladung der Jugendorganisation der Polisario im Oktober '92 in der Westsahara.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/2 Das UN-System, Seite