W&F 2022/2

Selektivität und doppelte Standards

Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges

von Andreas Zumach

Russlands Krieg gegen die Ukraine verstößt in gravierender Weise gegen die universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen, die nach dem tiefen Zivilisationsbruch der Jahre 1933-1945 mit der UNO-Charta sowie in nachfolgenden völkerrechtlich verbindlichen Verträgen international vereinbart wurden. Doch warum haben die UNO und ihre laut Charta für die Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit zuständigen Institutionen in diesem Konflikt kaum eine politische Rolle gespielt? Und dies weder in der langen Phase vor Russlands Überfall auf die Ukraine, als eine Prävention vielleicht noch möglich gewesen wäre, noch seit Beginn des Krieges?

Durch Russlands Krieg wurden völkerrechtliche und menschenrechtlichen Normen weiter unterminiert, ausgehöhlt und in ihrer Wirksamkeit und politischen Bindungskraft geschwächt. Dieser Schwächungsprozess begann bereits mit Angriffskriegen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermorden, die die vier ständigen und vetoberechtigten Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich in der Phase des Kalten Krieges verübten – in Vietnam, Algerien, Afghanistan, Nordirland, den Falklandinseln und in anderen Ländern des Globalen Südens. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 setzte sich dieser Aushöhlungs- und Schwächungsprozess der internationalen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen fort. Unter anderem mit den Kriegshandlungen und Verbrechen der USA und verbündeter NATO-Staaten gegen/in Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak und der von den USA geführten Drohnenmordkampagne, sowie mit Russlands Kriegen und Verbrechen in Tschetschenien, Syrien und mit der Annexion der Krim.

In den vier Jahrzehnten der Blockkonfrontation hielten sich die Akteure der feindlichen Lager ihre jeweiligen Verstöße nur selten gegenseitig vor. Zuständige Gremien wie der Sicherheitsrat in New York und der Menschenrechtsrat in Genf, durch die diese Verstöße hätten thematisiert, politisch verurteilt oder sogar sanktioniert werden können, waren durch die globale Ost-West-Konfrontation völlig blockiert und handlungsunfähig. Im Kontext dieser Konfrontation wurden auch viele der formal blockunabhängigen UNO-Staaten immer wieder von der einen oder anderen Seite für ihre Interessen instrumentalisiert. Das führte dazu, dass auch die Generalversammlung von der Möglichkeit, bei einem »Bruch des Friedens« einzugreifen, die sie 1950 wegen der monatelange Blockade und Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates im Korea­krieg durch ein sowjetisches Veto mit ihrer Resolution »Uniting for Peace« geschaffen hatte, seitdem nur in elf weiteren Fällen Gebrauch machte.

Zahnlose Institutionen, schwache Akteure

Zuletzt geschah dies mit der Resolution vom 2. März 2022, in der die Generalversammlung auf einer »Notstandssitzung« Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedstaaten als „Bruch der UNO-Charta“ verurteilte und die Regierung Putin zur Einstellung aller Angriffshandlungen und zum „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Abzug“ (UN-Resolution A/RES/ES-11/1) ihrer Invasionstruppen aufforderte. Mit Russland stimmten lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gegen die Resolution. Insgesamt 35 Länder, darunter China, Indien, Irak, Pakistan und Südafrika, enthielten sich der Stimme.Vor der Abstimmung in der Generalversammlung vom 2. März 2022 hatte ein entsprechender Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat am 24. Februar elf Ja-Stimmen erhalten, war aber am Veto Russlands gescheitert. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Staaten (VAE) enthielten sich hier der Stimme. Theoretisch hätte die Generalversammlung über die Verurteilung Russlands hinaus auch konkrete Maßnahmen beschließen können, von Sanktionen bis hin zur Entsendung von UNO-Truppen. Doch die Bereitschaft von UNO-Mitgliedsstaaten außerhalb des Gebiets der OSZE, sich in diesem als innereuropäischer Konflikt wahrgenommenen Ukrainekrieg zu engagieren, ist sehr gering.

Nicht geringe Hoffnung wird auch in dieser Frage immer wieder in die internationalen Gerichtshöfe gelegt. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat zwar nach den Buchstaben der UNO-Charta die Zuständigkeit für zwischenstaatliche Konflikte und damit auch für die Feststellung und Bewertungen eines Angriffskrieges oder eines Völkermordes, den ein Staat an der Bevölkerung eines anderen Staates verübt. Der IGH kann allerdings nur bindend tätig werden in Konflikten zwischen Staaten, die der Klärung des Falls durch den Gerichtshof zustimmen oder die sich ausdrücklich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben. Diesen Schritt haben bislang lediglich 73 UNO-Mitglieder vollzogen, und das auch häufig noch mit Vorbehalten und Einschränkungen. So hat etwa die deutsche Bundesregierung von ihrer 2008 abgegebenen Unterwerfungserklärung sowohl Einsätze der Bundeswehr im Ausland als auch die Nutzung deutscher Hoheitsgebiete für militärische Zwecke ausgenommen. Auch Russland hat sich dem Gerichtshof nicht unterworfen und somit ist der jetzt ergangene Richterspruch auf vorläufige Maßnahmen im Sinne der Ukraine vom 16. März 2022 relativ zahnlos. Sowohl eine Beilegung des Konfliktes, als auch eine Beendigung des Krieges ist durch die Urteilsverkündung des IGH nicht zu erwarten. Dass der Chefankläger beim Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Voruntersuchungen wegen Kriegsverbrechen aufgenommen hat, begrüßten viele Beobachter*innen. Es ist doch zu erwarten, dass es auch in diesem Fall zu keinen Verfahren kommen wird, denn die Russische Föderation hat ihre schon erfolgte Unterschrift unter das Statut des IStGH wieder zurückgezogen und eine Überweisung eines Verfahrens an den Gerichtshof durch den Sicherheitsrat der UNO wird erkennbar am russischen Veto scheitern.

Ob und wieweit sich die UNO-Generalsekretäre zur Prävention oder Beendigung von Gewaltkonflikten engagierten – und dies notfalls auch im harten Konflikt mit einer oder mehrerer der fünf Vetomächte –, das hing immer auch wesentlich von der jeweiligen Persönlichkeit der Männer ab, die diesen höchsten UN-Posten seit 1945 bekleideten. Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1953-1961) bezahlte seinen engagierten Einsatz für die Beilegung des Kongokonflikts mit dem Leben. Ob das Flugzeug, bei dessen Absturz er ums Leben kam, abgeschossen wurde, ist bis heute nicht geklärt und weiterhin Gegenstand von Untersuchungen. Kofi Annan (1997-2006) flog Anfang des Jahrtausends ohne Unterstützung des Sicherheitsrates und gegen massive Einwände der USA mehrfach nach Bagdad zu Gesprächen mit Diktator Saddam Hussein, um einen drohenden Krieg zu verhindern. Annans Nachfolger Ban Ki-moon (2007-2016) zeichnete sich durch besondere Leisetreterei aus und der seit 2017 amtierende Generalsekretär António Guterres enttäuscht(e) viele UNO-Mitarbeiter*innen (und auch den Autor dieses Artikels) schwer, weil er sich in der Vorphase des drohenden Ukrainekrieges nicht zu Deeskalations- und Vermittlungsbemühungen nach Moskau und nach Kiew begeben hat. Seit Beginn des Krieges hat Guterres diesen zwar eindeutig als Bruch der UNO-Charta verurteilt, sich darüber hinaus aber kaum für seine Beendigung engagiert. Es bleibt das Bild der Organe der UNO zurück, die wenig auszurichten vermögen, trotz gegenteiliger Normen, mit denen sie ausgestattet sind.

Selektivität, doppelte Standards und »Whataboutism«

Das liegt auch daran, dass die internationale Debatte außerhalb wie innerhalb der UNO über die Verletzung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen spätestens seit Ende der 1990er Jahre immer stärker geprägt ist durch doppelte Standards, durch die selektive Anwendung dieser Normen und durch »Whataboutism«, also durch den Versuch, von eigenen Verstößen abzulenken oder diese zu verharmlosen durch Verweis auf (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Verstöße Anderer. Das betreiben die westlichen Politiker*innen und viele Medien mit Blick auf Verstöße Russlands genauso wie umgekehrt. Kritik an der völkerrechtlichen Annexion der Krim wird von russischer Seite gekontert mit Kritik am NATO-Luftkrieg gegen Serbien von 1999 und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo.

Nach dem Beginn von Russlands Überfall auf die Ukraine verbreiteten zahlreiche Politiker*innen und Medienkommentare die Behauptung, es handele sich bei diesem Überfall um den ersten völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt in Europa seit Ende des Kalten Krieges, um den ersten Verstoß gegen die »Europäische Friedensordnung« oder gar den ersten Versuch, die Grenzen eines souveränen Staates gewaltsam zu verändern. „Präsident Putin hat den Krieg zurück nach Europa gebracht“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Morgen des 24. Februar 2022. Bereits in der Nacht zuvor bezeichnete die deutsche UNO-Botschafterin Antje Leendertse im Sicherheitsrat die zeitgleich erfolgte Kriegserklärung Putins als „eine militärische Eskalation, wie wir sie in Europa seit Generationen nicht mehr erlebt haben“. Ähnlich äußerten sich Abgeordnete fast aller Parteien in der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar 2022. All diese Äußerungen sind allerdings falsch. Den ersten völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt in Europa nach Ende des Kalten Krieges betrieben die NATO-Staaten mit ihrem Angriffskrieg gegen Serbien im Jahr 1999. Dieser Krieg führte zur gewaltsamen Veränderung von Grenzen durch die nachfolgende Abspaltung des Kosovo von Serbien.

Der Hinweis auf diese unbestreitbare Tatsache gerät dann allerdings häufig zur versuchten Relativierung, Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung russischer Verstöße gegen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen. Und das nicht nur aus dem Mund russischer Politiker*innen oder Staatsmedien, sondern auch bei Diskussionen zwischen Menschen, die sich zur Friedensbewegung zählen.

Russland und die NATO-Staaten stehen sich auch in kaum etwas nach bei dem Versuch, eigene Angriffskriege – und damit völkerrechtlich klar definierte und strafrechtlich relevante Verstöße gegen die UNO-Charta – durch Orwellschen »Neusprech« als angeblich »legitime« und »notwendige« Handlungen darzustellen. Wladimir Putin bezeichnet seinen Krieg gegen die Ukraine als „militärische Spezialoperation“ mit dem Ziel, einen „Völkermord“ durch die ukrainischen Streitkräfte an der russisch-stämmigen Bevölkerung im Donbas zu verhindern und die Regierung in Kiew zu „entnazifizieren“ (Putin in seiner Rede am 24.2.2022). Die NATO rechtfertigt ihren Luftkrieg von 1999 bis heute als „humanitäre Intervention“, die angeblich zwingend notwendig und auch ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates erlaubt gewesen sei, um einen „Völkermord“ an den Albanern im Kosovo zu verhindern.

Damals gab es, im Unterschied zum Ukrainekrieg Russlands heute, im Sicherheitsrat aber nicht einmal den Versuch einer Resolution. Denn bei der damaligen Zusammensetzung des Rates schien die zur Annahme mindestens erforderliche Mehrheit von neun Ja-Stimmen aussichtslos und drohte zudem ein sicheres Veto der drei NATO-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien. Daher fand auch keine Debatte in der Generalversammlung statt. Allerdings haben bis heute lediglich 115 der 193 UNO-Staaten Kosovo bilateral als Staat anerkannt, der damit kein Mitglied der Weltorganisation ist.

Putins Behauptung vom „Völkermord“ im Donbas ist genauso „lächerlich“ (Olaf Scholz zu Wladimir Putin bei ihrem Treffen am 15. Februar 2022 in Moskau) wie die anschließende Behauptung des Bundeskanzlers, im Kosovo habe 1999 ein „Völkermord“ gedroht.Weder im Kosovo noch im Donbas wurden „Handlungen begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Das ist die Definition von Völkermord in der »Konvention zum Verbot und der Bestrafung des Genozids«, die die UNO-Mitgliedsstaaten 1948 unter dem Eindruck des Holocaust vereinbarten (UNO-Resolution A/RES/3/260).

Zumindest in den Jahrzehnten vor Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde in den Ländern des Globalen Südens – nicht nur in autokratisch oder diktatorisch regierten, sondern auch in Demokratien – der selektive Umgang mit Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen in erster Linie als problematisches Verhalten der Staaten der westlichen »Wertegemeinschaft« wahrgenommen. Zu dieser Wahrnehmung hat beigetragen, dass die drei westlichen Vetomächte im Sicherheitsrat es mit ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht immer verhindert haben, dass sie für ihre völkerrechtswidrigen Kriege oder ihre Kriegs- und Besatzungsverbrechen verurteilt wurden.

Das gilt zum Beispiel für den Vietnam-Krieg der USA (1964-1975), Frankreichs Krieg in Algerien (1954-1962) oder für den gemeinsamen Krieg der USA und Großbritanniens gegen Irak im Jahr 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer »Koalition der Willigen« in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, bestellte die damalige US-Regierung von George W. Bush die südafrikanische Botschafterin in Washington ein und erstickte diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim. Auch diese Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass die allermeisten UNO-Mitgliedsstaaten trotz politischer Verurteilung von Russlands Ukrainekrieg die von den USA und der EU initiierten Sanktionen gegen Russland nicht mittragen.

Ebenso hat diese Wahrnehmung einer gewissen Selektivität dazu beigetragen, dass sich bei den Abstimmungen im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung vom 24. Februar und vom 2. März eine Reihe von Staaten des Südens der Stimme enthalten haben. Darunter Indien, Brasilien und Südafrika. Bei der Abstimmung in der Generalversammlung vom 7. April über den Ausschluss Russlands aus dem UNO-Menschenrechtsrat war nicht nur die Zahl der Enthaltungen von Ländern des Globalen Südens, sondern auch die der Gegenstimmen deutlich höher.

Geradewegs in die Blockade

Doppelte Standards und Selektivität bei der Anmahnung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen, »What­aboutism« und Orwellscher Neusprech zur Verschleierung eigener Verstöße – all das wirkt als schleichendes Gift zur Zersetzung und weiteren Schwächung der politischen Bindungskraft der universellen Normen völkerrechtlicher Vereinbarungen. Das Problem hat sich noch verschärft, seit sich China etwa seit Anfang 2021 aktiv an dem Diskurs gegenseitiger Aufrechnung tatsächlicher oder vermeintlicher Verstöße beteiligt. Bis dato hatten die chinesischen Diplomat*innen zwar im Menschenrechtsrat der UNO immer mit viel Energie (und zum Teil auch mit Erfolg) versucht, kritische Resolutionen zur Menschenrechtslage in China zu verhindern. Doch seit Frühjahr 2022 treten Chinas Vertreter*innen in der UNO mit scharfer Kritik an (tatsächlichen oder vermeintlichen) Menschenrechtsverstößen in westlichen Demokratien auf, insbesondere in den USA, und bringen Resolutionsentwürfe zur Verurteilung dieser Verstöße ein. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die Kritik des Westens an der Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang oder auch ein Versuch, die Anwürfe zu kontern, die vor allem der ehemalige US-Präsident Donald Trump nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie Ende 2019 gegen China erhoben hatte.

Der Schulterschluss, den Moskau und Peking zumindest in den ersten sechs Wochen des Ukrainekrieges bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe vollzogen, lässt für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte einen Rückfall in die Blockade der UNO während des Kalten Krieges befürchten.

Andreas Zumach ist freiberuflicher Journalist und Buchautor, von 1988-2020 war er UNO-Korrespondent für die taz und zahlreiche andere Medien in Genf. Sein jüngstes Buch: »Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO?«, Zürich: Rotpunktverlag, 2021.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/2 Kriegerische Verhältnisse, Seite 21–23