Separation Fence Intifada
Gewaltfrei gegen die Besatzung
von Aviv Lavie
Die Bilder vom Einsatz der israelischen Armee in Palästina, von zerstörten Wohngebieten, verwundeten und getöteten Palästinensern gehören für uns schon fast zur Normalität der täglichen Berichterstattung, genauso wie die grausamen Aufnahmen von durch Selbstmordattentäter getöteten Israelis und von Straßenkämpfen. In der Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts dominiert die Gewalt, doch es gibt auch den anderen Widerstand, den unbewaffneten, den zivilen Protest gegen die Besatzung. Er hat bisher keine großen Erfolge aufzuweisen, aber er existiert und er wächst. Eine der Formen des zivilen unbewaffneten Protests ist die »Separation Fence Intifada«, bei der schon Hunderte von Palästinensern verletzt wurden, ebenso wie zahlreiche israelische Unterstützer. Aviv Lavie über eine Protestform, die vielleicht viel erfolgreicher wäre, wenn sie international eine größere Beachtung finden würde.
Es ist beinahe zur täglichen Routine geworden: Morgens wachen die Einwohner, deren Dörfer sich auf der geplanten Route des Trennungszaunes1 befinden, von dem durchdringenden metallischen Lärm der Bulldozer auf, die umringt von Sicherheitskräften, Armee und Grenzpolizeitruppen in ihr Gebiet eindringen. Die Dorfbewohner gehen dann vollzählig auf ihr Land hinaus: Männer und Frauen, Junge und Alte. Sie positionieren sich vor den Soldaten, schwenken Fahnen, singen, versuchen zu den gigantischen Maschinen vorzudringen oder setzen sich auf den Boden um diese zu blockieren. (…)
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) spielt bei diesen Protesten in der jüngsten Zeit nur eine sehr geringe Rolle. Sie hat zwar die Palästinenser dazu ermutigt, gegen den Zaun zu protestieren während in Den Haag der Internationale Gerichtshof im Februar 2004 die Rechtmäßigkeit des Zaunes debattierte, der aktuelle Aufstand aber begann von unten.
Legitimer Widerstand
Was steckt hinter dieser neuen, weit verbreiteten Form des Kampfes, der ohne Schusswaffen ausgetragen wird? Nach Ayid Murar aus Budrus – ein Dorf in der Nähe von Bet Shean, wo der Verlauf des Zaunes als Folge des Protests der Bewohner und diplomatischen Drucks in Richtung der Grenze von 1967 verlegt wurde – haben die Palästinenser gute Gründe bei zivilem Widerstand zu bleiben. „Unser Kampf richtet sich nicht gegen Juden und nicht gegen Israelis und nicht einmal gegen Soldaten – er richtet sich gegen die Besatzung. Wir wollen nicht, dass Menschen auf der anderen Seite getötet werden. Die Besatzung ist ein großes Problem und die Palästinenser können damit nicht allein fertig werden. Sie brauchen die Hilfe der arabischen Staaten, der Regierungen weltweit und um diese zu bekommen, müssen die Palästinenser eine Form der Auseinandersetzung finden, die in den Augen der Welt legitim ist. Wir können bereits einen Zuwachs der Unterstützung und des Interesses für das was hier passiert auf der ganzen Welt verzeichnen. Anfänglich waren wir ein marginales Phänomen – selbst in der arabischen Presse – aber nun sorgen wir für Schlagzeilen.“
Murar und sein Bruder Naim, ein früherer Angestellter des palästinensischen Innenministeriums, haben seit Jahren enge Beziehungen zu israelischen Friedensaktivisten. Sie sind ein ausgezeichnetes Beispiel für einen neuen Typus lokaler Führer, die Schlüsselpositionen in der ersten Reihe der aktuellen Auseinandersetzungen einnehmen. In Israel sieht man jedoch misstrauisch auf ihre Aktivitäten. Anfang Februar 2004 wurden beide Brüder innerhalb weniger Tage vom Shin Beth, dem Inlandsgeheimdienst, verhaftet, auf Grundlage von „Geheimdiensterkenntnissen, die sie der Unterstützung von Terrorismus beschuldigen.“2
Obwohl es bis heute nur in Budrus gelang, durch die Proteste den Verlauf des Zaunes zu ändern, ist Ayid Murar überzeugt, dass dies der richtige Weg ist: „Wir müssen die gesamte palästinensische Bevölkerung in den Kampf gegen die Besatzung involvieren – Frauen, Kinder und die Alten – und diese können an einem gewalttätigen Kampf nicht teilnehmen,“ sagt er. (…) „Wir wissen auch, dass ein gewaltfreier Widerstand mehr Druck auf die Israelis ausübt. Wenn es um bewaffnete Individuen und Schießereien geht, dann kann ein Jeep mit Soldaten damit fertig werden. Wenn die Armee es mit Zivilisten zu tun hat, dann muss sie eine viel größere Anzahl von Soldaten bereitstellen, um damit fertig zu werden. Schließlich können sie nicht ohne weiteres auf diese schießen – das hoffe ich wenigstens.“
Ghassan Adoni aus Beit Sahour ist einer der Begründer des International Solidarity Movement (ISM). Diese Organisation unterstützt gewaltfreien Protest und versucht den Widerstand gegen die Besatzung zu internationalisieren. Seine Ideen haben große Popularität erlangt. „Mit der Meinung, dass gewaltfreier Protest erst jetzt begonnen hat, stimme ich nicht überein. Es gab ihn bereits seit Dezember 2000 und er fand zum Beispiel in Form des Abbaus von Straßensperren mit bloßen Händen statt. Es ist jedoch wahr, dass gewaltfreier Widerstand heute deutlich verbreiteter ist. Ich bin froh, dass dies der Fall ist, aber der Widerstand ist immer noch zu passiv, zu sehr reaktiv. Die Dorfbewohner protestieren, wenn die Bulldozer auftauchen und nicht als Teil eines umfassenden Kampfes gegen die Besatzung. Der Kampf sollte umfassend sein und nicht aufhören, bis der Zaun fällt. Der wirkliche Test wird sein, ob jedes Dorf noch Teil des Kampfes sein wird, auch nachdem der Zaun gebaut ist. Ehe dies nicht geschehen ist, kann ich nicht sagen, dass es ein Erfolg ist.“
Einer der führenden Aktivisten im Dorf Hirbata ist der 34jährige Aziz Armani. Auf den Einwand, dass die aktuelle Auseinandersetzung keine eindrucksvollen Ergebnisse vorzuweisen habe, entgegnet er, es habe „hier und da Erfolge gegeben, wenn auch nicht einen großen Erfolg, den man vorzeigen kann. Wir stehen wehrlos einer gewaltigen Macht gegenüber. Dabei ist es die Hauptsache, dass wir das Gefühl haben, etwas zu tun – wenn nicht für uns, dann für die nachfolgenden Generationen. Selbst wenn wir den Zaun nur um zwei Meter verschieben können, dann ist das etwas. Ich denke, dieser Kampf gibt uns viel Kraft, er gehört zu keiner Organisation, nicht zu Hamas und nicht zur Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde, ihn führt die Bevölkerung. Jedes Dorf hat für diesen Kampf einen Rat der verantwortlich ist und sich gewissenhaft darum kümmert, dass die Demonstrationen nicht gewalttätig werden. Wir kämpfen nicht gegen die Bürger von Tel Aviv – wir kämpfen gegen die Bulldozer.“
Israelis gegen den Zaun
Eine der zentralen Charakteristika des neuen Widerstands ist die Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern. Palästinenser betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie daran interessiert sind diese Kooperation voranzutreiben, weil sie ein Interesse daran haben die öffentliche Meinung in Israel zu beeinflussen und mehr noch, weil sie hoffen, dass die Anwesenheit von Israelis die Reaktion der Soldaten mäßigt. Einer der israelischen Aktivisten erklärt, dass dies auch umgekehrt gilt. Die Anwesenheit von Israelis mäßigt auch die palästinensische Seite. „Unsere Anwesenheit leistet einen wichtigen Beitrag zur Gewaltfreiheit,“ erklärt der Aktivist. „Wir drängen schon während der Koordination vor den Demonstrationen in diese Richtung. Wenn jemand Steine wirft, dann versuchen wir nicht demjenigen eine Predigt zu halten, aber es gibt immer jemanden, der dies für uns tut. Sie machen ihm entschieden klar, dass er damit aufhören soll. Ich habe das Gefühl, dass sie ihr Versprechen uns gegenüber einhalten und uns nicht gefährden wollen.“
Die israelische Armee (IDF) beurteilt die Beteiligung von Israelis allerdings ganz anders. Das Büro des Armeesprechers erklärte gegenüber dem Ha‘aretz. „Leider fungieren eine Handvoll israelischer Aktivisten und Ausländer als Agitatoren und verwandeln Demonstrationen in gewalttätige Unruhen.“
Yonatan Polack einer der zentralen Aktivisten von »Anarchists against the Wall« hat an vielen Protestaktivitäten teilgenommen, er beschreibt den Umgang der israelischen Armee mit dem Protest gegen den Zaun. „Es gibt eine allmähliche aber unaufhaltsame Eskalation von Seiten der Armee gegenüber Zivilisten, die an gewaltfreien Demonstrationen teilnehmen. Ich habe viel Zeit in den besetzten Gebieten verbracht und ich habe häufig beobachtet wie Unruhen und Demonstrationen niedergeschlagen werden, aber das was hier passiert ist neu. Es entsteht der Eindruck, dass es keine Regeln für das Vorgehen gibt. Sie feuern Gummigeschosse, setzen Tränengas ein und sie schießen auf Füße und Köpfe. Drei Palästinenser wurden in Biddu bereits getötet und der Tag an dem ein Israeli getötet wird nähert sich. Natürlich ist es für einen Palästinenser nicht weniger schlimm getötet zu werden als für einen Israeli. Aber es zeigt die Eskalation des Gewalteinsatzes. Bei jeder Demonstration spreche ich über Megaphon mit den Soldaten und erkläre ihnen, dass dies eine friedliche Demonstration von Palästinensern, Israelis und internationalen Teilnehmern ist – und die Kugeln pfeifen um meine Ohren. Zuerst dachten wir, dass Kameras sie abschrecken würden. Dann dachten wir, die Anwesenheit von Israelis wäre abschreckend, aber heute gibt es nichts mehr, was die Soldaten abschreckt. Selbst wenn die Armee überzeugt davon wäre, dass das was wir tun eine Provokation ist – obwohl aus meiner Sicht natürlich der Bau des Zaunes auf palästinensischem Land die Provokation ist – ist dieses Vorgehen nicht zu vertreten. In einer Demokratie muss man provozieren dürfen, ohne dass auf einem geschossen wird.“
Jenseits von Schwarz und Weiß
Wie in jeder Auseinandersetzung dreht sich auch hier die Kontroverse um die Frage, wer begonnen hat. Wie kann es passieren, dass Demonstrationen die von den Organisatoren als gewaltfrei bezeichnet werden, sich zu Ereignissen mit Dutzenden von Verwundeten entwickeln – überwiegend durch den massiven Einsatz von Gummigeschossen? Ein leitender Offizier der israelischen Armee bezweifelt die friedliche Darstellung einer gewaltfreien Intifada. „Ich weiß von keiner friedlichen Demonstration, bei der die Menschen dastanden und sangen, die dann damit endete, dass wir Gummigeschosse abfeuerten,“ führt er aus. „Wir haben uns selbst klare Leitlinien gegeben, mit denen wir unterscheiden zwischen Demonstrationen und Unruhen. In dem Moment in dem versucht wird Ausrüstung oder Soldaten anzugreifen, ist es eine Unruhe und unsere Reaktion darauf verschärft sich …“
Die Filme, die bei vielen Demonstrationen aufgenommen wurden, zeigen eine große Diskrepanz zwischen diesen Instruktionen und ihrer konkreten Umsetzung. Immer wieder dokumentiert die Kamera massiven Beschuss durch zahlreiche Soldaten in Richtung der Demonstranten, die manchmal dutzende oder hunderte von Metern entfernt sind. Eines ist sicher, der Beschuss gilt nicht einzelnen »Rädelsführern«. Was das Werfen der Steine betrifft, so ist es schwierig festzustellen, was zuerst da ist, die Steine oder die Gummigeschosse. Die Sachlage scheint von Dorf zu Dorf unterschiedlich zu sein. „In manchen Fällen werfen zwei oder drei Kinder aus einer Entfernung von 100 Metern Steine und es ist offensichtlich, dass dies symbolisch ist und niemanden verletzen kann,“ erklärt Dr. Kobi Snitz, der Mathematik an der Ben-Gurion Universität im Negev lehrt und an zahlreichen Demonstrationen teilgenommen hat. „Manchmal wird drei Stunden lang kein Stein geworfen und plötzlich verlieren die Soldaten die Geduld – sie stehen stundenlang in der Sonne – und sie beginnen Blendgranaten und Tränengas zu werfen und dann bricht ein Sturm los. [Manche] Dörfer haben ein Komitee das versucht, die Kinder unter Kontrolle zu halten, aber das ist schwierig.“
Snitz sieht die Eskalation als das Ergebnis einer gezielten Politik – wenn nicht auf der politischen Ebene, dann bei der Militärführung. „Es gibt jeden Tag Demonstrationen mit hunderten oder tausenden von Teilnehmern. Wer zehn Soldaten an einen solchen Ort schickt und ihnen erzählt, »Was auch immer passiert (Demonstranten) dürfen nicht in die Nähe der Bulldozer kommen«, der weiß was das Ergebnis sein wird.(…) Damit verlagern sie effektiv die Verantwortung auf die einzelnen Soldaten.“
Ein leitender IDF-Offizier der verantwortlich ist für den Bereich, in dem die meisten Zwischenfälle der letzten Monate vorkamen, erklärt: „Die Situation in der letzten Zeit stellt zweifellos ein Dilemma für uns dar. Wenn auf dich geschossen wird, dann gibt es kein Dilemma, es ist eine schwarz/weiß Situation. In den Ereignissen über die wir sprechen, die nun beinahe jeden Tag auftreten, da gibt es aber viele Graustufen.“
Dreieinhalb Jahre Intifada und 37 Jahre Besatzung haben die israelische Öffentlichkeit blind gemacht gegenüber den Entwicklungen auf der anderen Seite, unfähig oder unwillig Feinheiten zu bemerken. Tatsächlich sieht die israelische Armee die Demonstranten nicht als bewaffnete Gangs, aber die gewaltsame Form des Auseinandertreibens der Demonstranten, kann von diesen als Hinweis darauf verstanden werden, dass auch gewaltfreier Protest sinnlos ist. Die Medien ignorieren die Demonstrationen fast vollständig und weil der tägliche Kampf auch gefährlich ist, nehmen nicht mehr als einige dutzend Israelis daran teil, die gelegentlich von Bewegungen wie Ta‘ayush (einer arabisch-jüdische Partnerschafts-Basisorganisation) und Gush Shalom verstärkt werden. „Die Botschaft, die Israel den Palästinensern schickt, die versuchen gewaltfrei zu protestieren, ist die, dass wir diesen Protest nicht wollen“, sagt einer der israelischen Demonstrationsteilnehmer. „Es ist wohl so, dass wir (Israelis) den gewalttätigen Protest vorziehen und dass wir nicht bereit sind Legitimität für irgendeine Form des Widerstands zuzugestehen. Seit Jahren haben wir die Palästinenser gefragt, warum sie nicht dem Pfad von Mahatma Gandhi folgen, aber wenn sie genau das tun, dann antworten wir mit Gummigeschossen und Tränengas. Im Moment schießen wir auf das palästinensische Friedenslager.“
Anmerkungen
1) Die Terminologie »Zaun« trifft die Natur der Sperranlagen in der Westbank zwar äußerst ungenau, vor allem in der Nähe von Siedlungen handelt es sich um ca. 8 Meter hohe Betonwände und 150 Meter breite komplexe Sicherungsanlagen. Hier wurde der vom Autor benutzte Begriff »Zaun« übernommen, da die Anlage in den israelischen Medien unter diesem Begriff behandelt wird.
2) Naim und Ayid Murar mussten nach einigen Wochen wieder freigelassen werden, da sich keinerlei Verdachtspunkte für die Anschuldigungen finden ließen.
Aviv Lavie, Journalist und Medienkritiker bei der israelischen Zeitschrift Ha‘aretz Der vorliegende Text ist die aktualisierte und gekürzte Fassung einer Reportage, die A.L. am 16.04.04 im Ha‘aretz-Magazin veröffentlich. Sie wurde von Claudia Haydt übersetzt.