W&F 1995/3

Sich an Auschwitz erinnern

Gedanken eines Überlebenden

von Yaacov Ben-Chanan

Was Auschwitz – der Name steht im folgenden für alle Vernichtungsstätten im Hitlerreich – so einzigartig und so furchtbar machte, war der dort angestellte Versuch, den Menschen im Juden zu zerstören. Der Mensch sollte zur Laus gemacht werden. Und mit einem Gas gegen Läuse tötete man ihn dann auch. Nicht Hunger, nicht Zwangsarbeit, nicht Angst vor dem Tod war typisch für Auschwitz – es war dieser systematische Seelenmord.

Was konnten wir so tief Beschädigten mit der Freiheit anfangen, die 1945 endlich kam? Viele, die keinerlei Lebenskraft mehr hatten, sind in den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung einfach erloschen. Wir anderen, die diese erste Gefahrenzone durchstehen konnten, haben versucht, aus dem neu geschenkten Leben etwas zu machen. Den einen gelang es, andere blieben auf der Strecke, noch andere – nicht wenige! – haben sich, Jahrzehnte nach der Befreiung aus dem Lager, noch das Leben genommen.

Aber auch wenn man, allmählich und mit Hilfe vieler anderer Menschen, das Leben in den Griff bekam: aus dem Bannkreis von Auschwitz kam man damit nicht heraus. Denn unter all der äußeren Normalität, hinter aller bürgerlichen Ordnung und wirtschaftlichen Sicherheit, die man erreichen konnte, wenn man es nur richtig hatte anpacken können, blieben die eigentlichen Beschädigungen unberührt. Eines hatte mit dem anderen nichts zu tun. Die meisten von uns verblieben, der eine mehr, der andere weniger, in einem Doppelleben: ein Teil war hier, der andere immer noch in Auschwitz.

Das heißt aber: eine Gesundung im vollen Sinn war nicht möglich. Wer Auschwitz in sich weiterträgt, muß sich immerzu anstrengen, um die beiden Teile, die sein Selbst ausmachen, den Alltagsteil und den Auschwitzteil, soweit zusammenzuhalten, daß er sich selbst nicht zerreißt, nicht verrückt wird. Viel Kraft fließt dabei nutzlos ab; sie muß zur Balance des bestehenden Zustands verwendet werden, ohne daß man sie produktiv einsetzen kann.

Die gestörte Integrität des Menschen, der zu diesem Doppelleben gezwungen ist, weil die Erinnerung an Auschwitz ihn nicht losläßt, zeigt sich in vielen Störungen der Gesundheit von Körper und Seele, die ja ein Ganzes sind. Vor allem anderen steht die Angst; durch ein Objekt, durch menschliche Gesichter, durch Stimmen oder Geräusche ausgelöste und spontane Angst, die aus dem eigenen Inneren kommt. Die Angst geht in die Träume ein, Bilder von real Erlebtem und auch ganz verzerrte Angstbilder stören den Schlaf. Am Tage löst die Angst Konzentrationsstörungen aus, rasche Ermüdbarkeit und anhaltende innere Unruhe. Andauernde Angst und schlechter Schlaf bewirken wiederum körperliche Erkrankungen: Herzgefäßverkrampfungen, Muskelverspannungen, Rückenschäden, chronische Kopfschmerzen.

Das ist, für sehr viele Juden und Jüdinnen, bis heute die nach außen unsichtbare Innenseite des Lebens nach der Befreiung. Im Alter wird das keineswegs immer besser, es „wächst sich nicht aus“. Im Gegenteil: so lange ein Mensch jung und vital ist, hat er die Kraft, die er zum Verdrängen von quälenden Gefühlen oder Erinnerungen braucht. Mit den biologisch bedingten Rückbildungsprozessen im höheren Lebensalter aber läßt diese Energie normalerweise nach. Dann kann die Auschwitzseite des jüdischen Doppellebens die Übermacht gewinnen, und ein neues, Krankheitsbild entsteht, mit gesteigerter Angst und vertiefter Depression, mit erhöhter Selbstmordgefahr.

Ein Ausbruch aus dem Doppelleben könnte nur gelingen, wenn der aus Auschwitz gekommene und doch immer noch dort festgehaltene Mensch darüber sprechen könnte. Doch dazu würde ein außerordentlich großes Maß an Vertrauen zu einem Gesprächspartner gehören. Gerade die Fähigkeit, zu vertrauen, sich gar einem anderen anzuvertrauen, wurde jedoch in Auschwitz tief beschädigt, wenn nicht zerstört. So bleibt, auch in jeder Liebe oder Freundschaft, eine unsichtbare, aber spürbare Wand. Sie hält den Auschwitz-Menschen in einer unaufhebbaren Einsamkeit. Die Partner können nicht deuten, warum der geliebte Mensch sich so verhält; sie sehen nur die Symptome, nicht die Ursachen. Die eigenen Kinder können nicht deuten, was mit dem Vater oder der Mutter oder mit beiden los ist, sie spüren nur, daß da eine tiefe Störung ist, und diese ver-stört auch sie. Mit solchen Eltern kann man sich nicht streiten, nicht aggressiv gegen sie sein, d.h. aber: wichtige Reifungsprozesse nicht durchmachen. So beschädigt das Doppelleben des Nach-Auschwitz-Menschen alle Beteiligten – mehr oder weniger, ich wiederhole es immer wieder! – aber immer in einem Maße, das volle Freiheit fast unmöglich macht und oft nur ein eher seltenes und kurzes Glück erlaubt.

Wir Juden müssen alles daran setzen, Auschwitz hinter uns zu lassen, Auschwitz zu vergessen. Wir müssen die Herrschaft von Auschwitz über unsere Seelen zumindest so weit eingrenzen, daß es unser Leben und Denken so wenig wie möglich bestimmt. Wir müssen Auschwitz seelisch und intellektuell in den Griff bekommen, anstatt daß es uns im Griff behält und fortfährt, uns zu zerstören. Seelisch bekommen wir Auschwitz – wenn überhaupt – nur in den Griff, indem wir therapeutisch bearbeiten, was wir erlebt haben. Intellektuell bekommen wir es in den Griff, indem wir Auschwitz relativieren, d.h. einordnen in den geschichtlichen Zusammenhang, in den es gehört, und ihm damit seine mythologische Gewalt nehmen. Dazu gehört vor allem, daß wir, wenn wir aus einer assimilierten Tradition kommen, wie die meisten von uns, hinter die Barriere von Auschwitz zurückgehen und uns unser gesamtes jüdisches Erbe, 3000 Jahre einer großartigen Kultur, wieder anzueignen beginnen. Geistig aufrecht gehen kann nur, wer sich von einer langen und großen geistigen Tradition gehalten weiß.

Sich von Auschwitz her als Jude zu definieren, bedeutet, sich vom Tode her, vom ganz und gar Sinnlosen her zu definieren. Alles, was wir denken, träumen und als Juden tun, steht dann unter dem einzigen Motto: „Nie wieder Auschwitz!“ Der Wunsch ist natürlich berechtigt, aber er darf uns nicht beherrschen.

Verharren wir vor dieser ungeheuren Barriere der Erinnerung, verstellen wir uns nicht nur den Blick auf das Ganze unserer jüdischen Geschichte und Kultur, auf Freude und Glück des Jüdischsein. Auch die psychischen Konsequenzen sind dann verheerend. Das Verharren bei der Erinnerung an Auschwitz macht uns nicht nur krank, es macht uns auch friedensunfähig. Wir können dann auch politisch keinen Frieden finden, vor allem in Israel mit den Menschen, die dort mit uns auf dem gleichen Mutterboden wohnen und ein Recht auf ihn haben, wie wir auch. Wenn wir nicht in diesem Sinne Auschwitz zu vergessen lernen, bleibt uns nur die Alternative zwischen der totalen Assimilierung an die Umwelt und damit dem Untergang als Juden und einer ständigen Instrumentalisierung von Auschwitz, mit der wir auf andere bedrohlich werden und unsere Isolierung verewigen.

Dr. Yaacov Ben-Chanan ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität/GHS Kassel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/3 Gewitter über Paris, Seite