W&F 2000/1

Sich nicht vereinnahmen lassen

von Dieter Lünse

Im Zuge der vielen innergesellschaftlichen Gewaltvorfälle in den letzten 10 Jahren ist selten versäumt worden Zivilcourage einzufordern. Die öffentlichen Aufrufe für mehr Mut im zivilen Umgang miteinander kommen meist spät und als Appelle von Gewalt abzulassen und Toleranz zu üben – sie betonen nur die moralische Seite. Zur Zivilcourage gehört aber auch, dass Werte die der Zivilcourage entgegen stehen in Frage gestellt werden, kurz: den Widerspruch zur Konformität zu pflegen.

Zivilcourage wird eingefordert bei Gewalt mit einem rassistischen oder sexistischem Hintergrund, bei Gewalt unter Jugendlichen in der Schule oder in der Öffentlichkeit. Doch erst nach unterlassener Hilfeleistung, nachdem viele Menschen weggesehen haben, wird öffentlich der Mut für ziviles Verhalten proklamiert, nicht vorher – obwohl sich in der Rekonstruktion vieler Fälle zeigt, dass oft durch ein anderes Verhalten die Gewalt hätte abgewendet werden könne. Die Mechanismen für couragiertes Handeln werden in der Öffentlichkeit kaum erläutert. Doch damit droht Zivilcourage zu einem moralischen, abstrakten Wert zu werden ohne Wirkung zu entfalten und zur Handlung anzuleiten.

Zivilcourage heißt nicht nur Hilfe für das Opfer, sie steht auch für prosoziales Verhalten, Nonkonformität und Verweigerung gegen autoritäres Auftreten. Zivilcourage zeigt wer gegen den Strom schwimmt. Zivilcourage erfordert Mut, Positionsstärke und die Überwindung von Angst.

In einer Gesellschaft die nur Werte postuliert ohne sie umzusetzen rücken Eigensinn statt Gemeinsinn, Egoismus statt Solidarität und Misstrauen statt Vertrauensbildung in den Vordergrund. Den moralischen Appellen folgt Tatenlosigkeit, Wegsehen droht zum Leitbild zu werden. Zivilcourage muss in Beziehung gesetzt werden zur Tendenz des Konsumismus, des Ich-verankerten Weltbezugs und einem Selbstverwirklichungstrieb. Die ellenbogenbewehrte Durchsetzung eigener Interessen ist die andere Erfahrung, die nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in der Bildungspolitik mehr gefördert wird als Zivilcourage. Viele LehrerInnen können darüber Auskunft geben. Die Fähigkeit anderen zuzuhören, sich selber zurück zu nehmen und Frustration zu ertragen geht in manchen Klassen gegen Null. Das Ausagieren emotionaler Befindlichkeiten ohne Rücksicht auf die Situation und die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen gehören zur Schulwelt. Es fehlt den Schulen oft an Möglichkeiten gegenzusteuern und mit anderen Konzepten SchülerInnen wie auch LehrerInnen wieder aktiv zur Eigenverantwortung und Gestaltung der zivilen Formen an der Schule zu gewinnen.

In einer Welt, die stark auf individuelles Glück ausgerichtet ist, obsiegen die egoistischen Ziele. Das ellbogenbewehrte Verhalten bringt nicht nur VerliererInnen und mehr Gewalt hervor, es verschließt auch den Blick auf kooperative Lösungen.

Wenn statt Konkurrenz und GegnerInnenschaft kooperiert wird, steht meistens ein besseres Ergebnis am Ende. Die Kooperation steigert den sozialen Zusammenhalt, verbessert das Klima und gibt den Beteiligten mehr Sicherheit. Ganz anders verhält es sich, wenn Menschen für den eigenen Vorteil arbeiten und sich gegenseitig in ihren Leistungen messen. Sie versuchen nicht sich zu ergänzen, sondern setzen auf den Ausbau ihrer Stellung im sozialen System. Damit verändert sich nicht die Abhängigkeit von einander, nur die Stellung zueinander und der Kampf um Rangplätze. In der kooperativen Zusammenarbeit und Zusammenleben werden Aufgaben delegiert, so dass die oder der Beste sie erledigt ohne einen Bedeutungsverlust und Rangverlust für jemand anderes. In der Kooperation ist mehr Raum für die Arbeit an einer Sache. Dies setzt voraus, dass alle Beteiligten interessiert sind, Aufgaben und auch Verantwortung im Sinne eines gemeinsamen Zieles zu übernehmen.

Die Aufgaben, die Verantwortung und die Ziele auszuhandeln, aufeinander abzustimmen und in Handlungsschritte umzusetzen bedarf verschiedener Kompetenzen:

  • die Entwicklung einer stabilen Position;
  • ein hohes Maß an Phantasie und Kreativität die jemand befähigt sich in andere hinein zu versetzen;
  • der Mut zum Widerspruch auch gegen herrschende Tendenzen;
  • die Fähigkeit zur aktiven, gleichberechtigten Beziehung zu anderen Menschen;
  • das Einnehmen von Außenseiterpositionen um eine andere Sichtweise zur besseren und ausgeprägten Urteilsfähigkeit zu gewinnen;
  • die Fähigkeit den Witz sozial einzusetzen, eine Sache auf den Punkt zu bringen;
  • der Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen;
  • des Vertrauens in die Leistungen anderer;
  • in Fehlern eine Chance für Verbesserung und Lernen sehen, statt sie wertend einer Person anzulasten.

Menschen in diesen Kompetenzen auszubilden, ihnen die Möglichkeiten von Zivilcourage aufzuzeigen bedarf einer anderen Orientierung in der schulischen Bildung und in der Aus- und Fortbildung, es bedarf der kritischen Auseinandersetzung mit Werten, die Zivilcourage entgegen stehen: Von der einseitigen technologischen Perfektion hin zur Ausbildung in sozialen Kompetenzen ist der Blick zu wenden, damit Zivilcourage gezeigt werden kann und nicht einseitig als moralischer abstrakter Wert seiner Wirkung beraubt wird.

Dieter Lünse ist Dipl. Sozial-Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite