W&F 2022/3

Sicherheit in unsicheren Zeiten

von Thomas Würdinger

Unsicherheit und Verunsicherung mögen subjektive Empfindungen sein, oftmals relativ zum sozialen Status. Sie sind aber auch kollektive Perzeption. Als solche können sie enorme Sprengkraft für das soziale Gefüge und das demokratische Miteinander entfalten. Vor allem in unsicheren Zeiten von sozial-ökologischer Transformation, Klimawandel, Corona und Ukraine-Krieg. Dieses Stakkato deutet darauf hin, worauf Sicherheit – oder genauer: die »Herstellung« von Sicherheit – in globalen Zusammenhängen nicht reduziert werden kann: militärische Schlagkraft.

Der Krieg Russlands gegen die Ukra­ine unterminiert die ohnehin fragile Ernährungssicherheit im Globalen Süden. Hierzulande hängen soziale Sicherheit und Energieversorgungssicherheit eng zusammen. Stufe 3 des »Notfallplan Gas« dräut über den Köpfen von Verbraucher*innen und Industriebetrieben. Bange Blicke richten sich auf die Wartung der Nord-Stream-1-Pipeline. Zahlreiche Branchen sorgen sich um unsichere Lieferketten, ausbleibende Energielieferungen und fehlende Rohstoffe. Die Inflation steigt rasant, das dicke Ende droht vielen Menschen mit der noch ausstehenden Nebenkostenabrechnung. Bereits heute können sich zu viele Menschen elementare Dinge des täglichen Bedarfs nicht leisten. Unausgegorene Tankrabatte helfen da nicht weiter. Die IG Metall fordert deshalb eine Übergewinnsteuer für Krisengewinne, einen Gaspreisdeckel und eine sozial gerechte Entlastung aller Haushalte.

Deutlich wird daran zugleich die Notwendigkeit, politischem Handeln ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zugrunde zu legen. Sicherheits- und Friedenspolitik muss die komplexen Wechselverhältnisse verschiedener Risiken adressieren können. Herausforderungen in der Energie- und Rohstoffversorgung müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie globale Handelsbeziehungen und Lieferketten, die Auswirkungen des Klimawandels ebenso wie das Diktum sozialer Sicherheit. Das wirft mehr Fragen als Antworten auf. Welches Verhältnis zu Russland, aber auch zu China und anderen nicht gerade lupenreinen Demokraten wollen und können wir künftig pflegen? Auf welchen internationalen Institutionen, Organisationen und Normen kann eine wiederzubelebende Architektur für kooperativen Frieden und Sicherheit ruhen? Wie positionieren sich Deutschland und die Europäische Union im Gefüge geopolitischer Spannungen? Das zu erfragen und miteinander auszuhandeln mag denjenigen zuwider sein, die in unsicheren Zeiten auf Eindeutigkeit und den durchgreifenden Mut der Eliten setzen oder Führung bestellen.

Die friedenspolitische Debatte und ihre Protagonist*innen täten mit Blick auf die skizzierten Wechselverhältnisse jedoch gut daran, Selbstvergewisserung statt Besserwisserei zu üben. So sehr diese Einsicht wie ein wohlfeiles Mantra anmuten mag: Es braucht Diskurs – wider simplifizierenden Populismus, angebliche Alternativlosigkeit und spaltende Rhetorik. Es geht um mehr als um die unsägliche Frage nach »Sieg« oder »Niederlage«, es gibt zahlreiche Schattierungen zwischen einer Beschränkung auf zivilen Ungehorsam und der Lieferung schwerer Waffen. Unsicherheit, Unschärfe, Widersprüche, sie werden die politische Debatte weiter prägen. Umso wichtiger ist der produktive und wertschätzende Austausch unterschiedlicher Positionen und Argumente. Diese kommunikative Auseinandersetzung um Sicherheit sollte zur Entscheidung(-sfindung) gehören, gerade in unsicheren Zeiten. Entscheidungsunsicherheit sollte opportun sein. Sie ist nachvollziehbar – muss allerdings auch kommuniziert werden. Es ist ein Plädoyer für eine diskursive Zeitenwende.

Klar sind für den schreibenden Gewerkschafter hingegen die Haltung und wesentliche Leitplanken in der sicherheits- und friedenspolitischen Debatte: Grundsätze wie die Achtung von Menschenrechten, das Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenschutz, die Wahrung demokratischer Grundrechte und das Ziel sozialer Gerechtigkeit sind nicht verhandelbar. Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes Zwei-Prozent-Ziel lehnen die Gewerkschaften ab. Zudem gilt: Wer ein Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg bringen kann, der sollte vor einem Sondervermögen für den sozialen Frieden nicht zurückschrecken. Wer in der aktuellen Gemengelage weiteren Entlastungen vorschnell eine Absage erteilt oder über 600 Mio. Euro für den sozialen Arbeitsmarkt kürzt, um weiterhin dem goldenen Kalb der Schuldenbremse zu frönen, braucht sich über Gegenwind nicht beschweren. So wird in unsicheren Zeiten jedenfalls keine Sicherheit vermittelt.

Thomas Würdinger ist Ressortleiter Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall. In dieser Funktion ist er Mitglied des Arbeitsausschusses »Abrüsten statt Aufrüsten«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/3 Krieg gegen die Ukraine, Seite 5