W&F 2005/4

Sicherheitspolitische Praxis und Völkerrecht

von Norman Paech

Die über 40 Auslandseinsätze der Bundeswehr seit der Epochenwende von 1989/90 deuten darauf hin, dass sich auch Deutschland inzwischen von der einstmals viel gepriesenen »Kultur der Zurückhaltung« gegenüber dem Militär als Instrument der Außenpolitik weit gehend verabschiedet hat. Nicht zuletzt die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder hat die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Schröder über Schröder in der ZEIT vom 18.10.01) so effektiv betrieben, dass militärische »Machtprojektion« allenthalben (wieder) als »normal« qualifiziert wird. Damit wird aber tendenziell einerseits die normative Bindung der Außenpolitik verneint – als handele es sich um einen Naturprozess; andererseits werden die völkerrechtlichen Normen in Frage gestellt – als sei einfach das Verhalten bestimmter (mächtiger) Staaten maßgeblich. Im Gegensatz zu solchen Tendenzen problematisiert der folgende Beitrag die herrschende Sicherheitspolitik im Lichte des geltenden Völkerrechts. Der Aufsatz beinhaltet einen geringfügig überarbeiteten Vortrag über die »Vereinbarkeit von sicherheitspolitischer Praxis mit dem Völkerrecht«, den der Autor am 4. Juli auf Einladung der Führungsakademie der Bundeswehr in der Clausewitz-Kaserne in Hamburg aus Anlass des 50. Jahrestag der Bundeswehr gehalten hat.

Jüngst fasste Verteidigungsminister Struck in einem Interview in der Frankfurter Rundschau die zukünftige sicherheitspolitische Praxis in wenigen prägnanten Sätzen zusammen: „Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. Wer einer Nato-Response-Force zustimmt, wer dem Konzept der Battle-Groups zustimmt, muss wissen: Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Dabei gilt für uns aber immer: Wir treten nie allein auf, sondern machen alles mit unseren Partnern in der NATO oder der EU zusammen.“ (FR. 2. Juni 2005)

Nehmen wir also die Aufforderung ernst und diskutieren wir die beiden Sätze, die doch nicht so allgemein akzeptiert sind, wie Minister Struck es vermutet.

Verteidigung ohne Angriff

Bereits ein Blick in das Grundgesetz offenbart erhebliche Widersprüche zum geplanten weltweiten Einsatz der Bundeswehr, denn Art. 115 a definiert den »Verteidigungsfall« ganz eindeutig als Angriff auf das Bundesgebiet. Darüber hinaus nimmt Art. 26 GG das absolute Verbot des Angriffskrieges in der UNO-Charta auf und fordert sogar seine Bestrafung. Auch nach dem Nordatlantikvertrag von 1949 ist die NATO als klassisches Verteidigungsbündnis konzipiert; die Bündnisverpflichtung des Art. 5 wird ausdrücklich in den Verteidigungsrahmen des Art. 51 UN-Charta gestellt und eindeutig territorial begrenzt: Der Angriff muss auf das Gebiet eines Mitgliedstaates in Europa oder Nordamerika erfolgen, Inseln, Schiffe und Flugzeuge im nordatlantischen Raum „nördlich des Wendekreises des Krebses“ eingeschlossen (Art. 6).

Nun kann sich Minister Struck zweifellos auf die Neue Strategie der NATO berufen, die im April 1999 in Washington von allen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer beschlossen wurde. Sie erweiterte den Verteidigungsauftrag um einen Auftrag zur »Krisenbewältigung«, ohne dass allerdings ein solcher Auftrag im NATO-Vertrag selbst irgendwie zum Ausdruck kommt. Der Krisen-Begriff ist außerordentlich weit und variabel gefasst: „Ungewissheit und Instabilität im und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (…) Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten.“ (Z. 20) Zudem können die Sicherheitsinteressen auch von anderen nichtmilitärischen „Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen.“ (Z. 24)1

Das ist eine durchaus zutreffende Beschreibung drohender Risiken, aber in keinem Fall eine rechtswirksame Interventionsermächtigung. Der Beschluss der Minister ist völkerrechtlich vollkommen irrelevant und hebt das absolute Gewaltverbot der UN-Charta nicht auf. Erinnern wir uns des Zeitpunktes des Strategie-Beschlusses. Während die Minister in Washington tagten, war die Bombardierung Jugoslawiens noch in vollem Gange. Die mangelnde völkerrechtliche Grundlage dieses ersten der drei großen Kriege seit der Epochenwende ist hinlänglich bekannt und wird unter Juristen allgemein eingeräumt. Wo weder ein Fall der Selbstverteidigung gem. Art. 51 UNO-Charta noch eine Ermächtigung durch den UN-SR gem. Art. 42 UNO-Charta vorliegt, verbietet das absolute Gewaltverbot des Art. 2. Z. 4 UN-Charta jeden militärischen Angriff auf einen anderen Staat. Deswegen waren die Bombardierung Jugoslawiens und des Iraks eindeutig rechtswidrig, die Berufung auf ein Selbstverteidigungsrecht im Fall Afghanistans zumindest umstritten. Wenn Minister Struck beteuert: „Wir treten nie allein auf, sondern machen alles mit unseren Partnern in der NATO oder der EU zusammen“, so ist das politisch zweifellos klug, juristisch aber belanglos, wenn er nicht gleichzeitig die UN-Charta und das Völkerrecht als die alleinige Grundlage legaler militärischer Gewaltanwendung anerkennt. NATO und EU vermögen eine mangelnde völkerrechtliche Legitimation nicht zu ersetzen.

»Humanitäre Intervention«

Das Legitimationsdefizit im Fall des Kosovo-Kriegs war den NATO-Regierungen durchaus bewusst. Um jedoch nicht dem offenen Vorwurf des Völkerrechtsbruchs ausgeliefert zu sein, bemühten sie sich, neben moralischen Rechtfertigungen, neue juristische Begründungen zu entwickeln bzw. alte wieder zu beleben. So griffen sie auf eine alte Figur des Völkerrechts der Vor-Charta-Ära zurück: die sog. humanitäre Intervention. Zwar haben die USA bei ihren Interventionen in Lateinamerika (Grenada 1983, Nicaragua 1984, Panama 1989) immer wieder auf diese Rechtfertigung zurückzugreifen versucht, haben jedoch dabei nirgendwo Zustimmung oder Gefolgschaft finden können.

Hauptziel und zentrale Aufgabe der UNO sind die Friedenssicherung, worunter sich alle anderen Ziele einzureihen haben. Dies macht z. B. Art. 103 UN-Charta deutlich: „Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“ Tritt also das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einer der Menschenrechtspakte und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang. Eine Verknüpfung beider Prinzipien derart, dass die Sicherung der Menschenrechte eine Ausnahme vom Gewaltverbot zulasse oder gar erfordere, ist im System der UN-Charta also nicht angelegt.

Dies hat der Internationale Gerichtshof (IGH) 1986 in seinem Urteil im Rechtsstreit Nicaraguas gegen die USA noch einmal unterstrichen: „Die Vereinigten Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt keine geeignete Methode sein, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen oder zu sichern. Hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen (ist festzustellen), dass der Schutz der Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien, oder … mit der Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung von Contras. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Argument, das von der Wahrung der Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung für das Verhalten der USA liefern kann.“2

Noch im selben Jahr hat das Foreign Office Großbritanniens auf die zwingenden politischen Gründe für die Ablehnung der »humanitären Intervention« als dritte Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen: „Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, u. zw. aus drei Gründen: erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt – wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen… Der wesentliche Gesichtspunkt, der deshalb dagegen spricht, die humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip des Interventionsverbots zu machen, sind ihre zweifelhaften Vorteile, die bei weitem durch ihre Kosten in Form des vollen Respekts vor dem Völkerrecht aufgewogen werden.“3

Wenn sich die Regierung Blair auch nicht an diese Mahnung gehalten hat, so haben diese Argumente in den vergangenen Jahren doch nicht ihre Gültigkeit verloren.4 Sie sind auf einem Treffen der Außenminister der 133 Mitgliedstaaten der Gruppe 77 am 24. September 1999 noch einmal bestätigt worden: „Wir weisen das sog. Recht auf humanitäre Intervention zurück, welches keine Basis in der UNO-Charta noch im internationalen Recht hat.5 Und ein Report des Foreign Affairs Committee des Britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 hat das Vorgehen der eigenen Regierung eindeutig als rechtswidrig qualifiziert: „Wir kommen zu dem Schluss, dass die Operation Allied Force den spezifischen Vorschriften dessen widersprach, was als grundlegendes Recht der internationalen Gemeinschaft bezeichnet werden kann – die UNO-Charta… Wir fassen zusammen, dass letztlich die Doktrin der Humanitären Intervention eine sehr schwache Basis im derzeitigen Völkergewohnheitsrecht hat und dass dies die NATO-Aktion rechtlich fragwürdig macht.“6

War die völkerrechtliche Legalität der »humanitären Intervention« nicht mehr zu retten, so versuchte das Komitee die NATO-Bombardierung zumindest moralisch zu legitimieren. Ähnliche Rettungsversuche finden wir bei einigen Vertretern der sog. politikorientierten Rechtswissenschaft der New Haven School an der Yale-Universität wie z.B. Anne-Marie Slaughter, die den Jugoslawien-Krieg zwar ebenfalls als juristisch illegal einstuft, dennoch aber moralisch legitimiert.7 Wir haben erlebt, wie dankbar insbesondere der deutsche Außenminister diesen Ausweg aus seinem Legitimationsdilemma aufgenommen hat. Wo jedoch die Grenzen zwischen Recht, Theologie und Moralphilosophie verschwimmen, ist letztlich jeder Angriffskrieg zu begründen.

Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz: Alle Versuche, die militärischen Aktionsmöglichkeiten über die völkerrechtlichen Grenzen der reinen Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) auf Krisenbewältigung, Menschenrechtssicherung und Risikovorsorge auszudehnen, müssen derzeit noch an der klaren und eindeutigen Dogmatik der UNO-Charta scheitern. Ihre Relativierung aus Gründen menschenrechtlicher Nothilfe oder moralischer Verpflichtung wird zwar immer wieder versucht, hat aber keine namhafte und mehrheitliche Zustimmung bei den Staaten gefunden.

Präventivkrieg

Nach dem Terroranschlag auf Pentagon und World Trade Center im September 2001 bekam die sicherheitspolitische Debatte eine neue Wendung. Der Terrorismus und sein befürchteter Zugang zu Massenvernichtungsmitteln wurden zum Angelpunkt einer weiteren »Aufstockung« der Verteidigungsstrategie. War in der Neuen NATO-Strategie bereits der weltweite Kriseneinsatz, also die faktische Entterritorialisierung und Entgrenzung des Einsatzraums, enthalten, so sollte die Verteidigung gegen den Terrorismus nun auch die zeitliche Begrenzung des Art. 51 UN-Charta aufheben können. Der Einsatz militärischer Gewalt müsse räumlich wie zeitlich unbegrenzt möglich werden. Schon die bloße Vermutung, dass einer dieser sog. Schurkenstaaten über atomare, chemische oder biologische Massenvernichtungswaffen verfügen könne, soll einen präventiven Erstschlag mit Waffengewalt rechtfertigen.

Die US-Administration hat die Vorverlagerung militärischer Verteidigung auf drohende Gefahren bzw. Angriffe, die sog. Präventivverteidigung, zur zentralen strategischen Option ihrer neuen »National Security Strategy« gemacht, die sie genau ein Jahr nach dem Terroranschlag, am 17. September 2002, veröffentlichte. Erstmals hatte sie Präsident Bush in einer Rede vor der Militärakademie West Point im Juni 2002 verkündet; angewandt wurde sie erstmals gegen den Irak. Seitdem wird sie als Bush-Doktrin gehandelt. Die entscheidenden Passagen lauten: „Wir müssen das Konzept der unmittelbaren Bedrohung an die Fähigkeiten und Ziele der heutigen Gegner anpassen… Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option auf präemptive Handlungen offen gehalten, um einer hinreichenden Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko – und desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung (…). Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen.

Die Vereinigten Staaten werden nicht in allen Fällen Gewalt anwenden, um aufkeimenden Bedrohungen zuvorzukommen, und Staaten sollten Präemption auch nicht als Vorwand für Aggressionen benutzen. In einer Zeit aber, in der die Feinde der Zivilisation offen und aktiv nach den zerstörerischen Technologien streben, können die Vereinigten Staaten jedoch nicht untätig bleiben, während das Gefahrenpotential wächst.“8

Ein Jahr später übernahm auch die EU für ihre im Aufbau befindlichen Krisenreaktionstruppen, die sog. battle-groups, die Option zeitlich und räumlich unbegrenzter militärischer Interventionen. In dem sog. Solana-Papier, welches vom Europäischen Rat im Dezember 2003 als »Europäische Sicherheitsstrategie« verabschiedet wurde, heißt es: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art… Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“

An anderer Stelle heißt es: „Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert… Als eine Union von 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“9

Obwohl der Wortlaut von Art. 51 UNO-Charta die Selbstverteidigung eindeutig auf den Fall „eines bewaffneten Angriffs“ beschränkt, haben vor allem Israel und die USA immer wieder versucht, den Anwendungsbereich der Selbstverteidigung zu erweitern. So Israel 1956 in der Suezkrise, 1967 im Sechs-Tage-Krieg und 1981 beim Angriff auf den Osirik-Nuklearreaktor im Irak. Zwar hat die Staatengemeinschaft das nie als rechtmäßige Verteidigung akzeptiert und die Bombardierung des Nuklearreaktors mit einer einstimmigen Resolution des UN-Sicherheitsrats verurteilt. Dennoch griffen auch die USA bei ihren Invasionen auf Grenada 1983 und Panamas 1989 zur Ergreifung Noriegas, sowie der Bombardierung von Tripolis 1986 nach dem Anschlag auf die Disco La Belle und Bagdads 1993 als Antwort auf ein zwei Monate zuvor versuchtes Attentat auf Präsident Bush sen. immer wieder auf das Argument der Selbstverteidigung zurück. Letztlich musste sie auch für den Krieg gegen den Irak herhalten. Der Sicherheitsrat war zumeist durch das Veto der USA blockiert, so dass es nur im Fall Panamas zu einer eindeutigen Verurteilung der Invasion durch die UN-Generalversammlung kam. Insofern stellt die »National Security Strategy« zu Recht fest, dass die USA immer auf das Konzept vorbeugender Selbstverteidigung zurückgegriffen hat – doch gegen das eindeutige Verteidigungskonzept der UNO-Charta und die einhellige internationale Ablehnung.10

Selbst diejenigen, die eine Erweiterung der Selbstverteidigung auf unmittelbar bevorstehende Angriffe erstrecken wollen, verlangen den Nachweis eines unmittelbar bevorstehenden, überwältigenden Angriffs, der weder andere Mittel noch einen Moment der Beratung mehr zulässt.11 Diese Kriterien der vorbeugenden Selbstverteidigung wurden bereits im Jahre 1842 durch den US-Außenminister Webster entwickelt. Sie wurden auch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verabschiedung der UNO-Charter immer wieder zitiert, aber immer außerordentlich eng gefasst. So wollen einige sie nur für Fälle gelten lassen, „wo es einen überzeugenden Beweis nicht nur bloßer Drohungen und möglicher Gefahren gibt, sondern eines bereits vorbereiteten Angriffs, wenn davon gesprochen werden kann, dass ein Angriff schon begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenze überschritten hat.“12 Ein solcher Fall lag jedoch in allen zitierten Angriffen nicht vor und eine allgemeine abstrakte Terrorismusdrohung kann diesen Kriterien schon gar nicht entsprechen.

Bilanz und Ausblick

Die Bush-Doktrin der Präventivverteidigung stellt eine eindeutige Verletzung der UNO-Charta dar – ihr Ziel ist es, neues Völkerrecht zu schaffen. Dies ist nur durch staatliche Praxis auf dem Wege der gewohnheitsrechtlichen Ausweitung und der Veränderung des Art. 51 UNO-Charta möglich. Entscheidend sind also nicht irgendwelche Meinungen in der politischen oder juristischen Öffentlichkeit,13 sondern eine Staatenpraxis, die dieses neue Recht einführen und zu einem neuen Standard machen will. Bisher kann von einer solchen gewohnheitsrechtlichen Änderung des völkerrechtlichen Verteidigungsbegriffs keine Rede sein, selbst wenn USA und NATO sie durch ihre Interventionspraxis durchsetzen wollen. Denn die überwältigende Mehrheit der Staaten ist dagegen, wenn sie diese Praxis auch nicht verhindern kann.

Wirksamer scheint überraschenderweise derzeit eine Kritik zu sein, die aus offensichtlich unerwarteter Richtung kommt: aus der Truppe und von den Gerichten. Die Dienstverweigerung eines Offiziers der Bundeswehr aus Gewissensgründen konnte unlängst nur deswegen die Anerkennung des Bundesverwaltungsgerichts finden, weil die Gründe – die Völkerrechtswidrigkeit des Irak-Krieges – ernsthaft und für den erkennenden Senat nachvollziehbar waren. Das Urteil vom 21. Juni stellt zentral auf „gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht“ ab (Leitsatz 6).14 Insoweit kann man erwarten, dass in Zukunft insbesondere jeder Fall präventiver Verteidigung gegenüber einer Dienstverweigerung aus Gewissensgründen unterlegen sein wird. Eine Perspektive, die nicht nur den Juristen mit Genugtuung erfüllen muss, da Recht auch in diesem sensiblen Bereich der Politik wieder die Bedeutung erhält, die ihm in einer Demokratie zukommt.

Anmerkungen

1) Das strategische Konzept des Bündnisses. Bulletin Nr. 24, 3. Mai 1999, S. 221-231.

2) Military and Paramilitary Activities case, International Law Reports 468/469, para. 268. So auch die heute fast einhellige Meinung in der Völkerrechtswissenschaft, Alfred Verdross, Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, Berlin 1984, § 284; Albrecht Randelzhofer, Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 30. In: B. Simma (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen, München 1991, S. 49 ff.; Bruno Simma: NATO, the UN and the use of force: Legal aspects. European Journal of International Law, Vol. 10/1999, S. 1 ff.; Antonio Cassese: Ex iniuria ius oritur: Are we moving towards international legitimation of forcible humanitarian countermeasures in the world community? European Journal of International Law, Vol. 10/1999, S. 24 ff.; Hermann Weber: Rechtsverstoß, Fortentwicklung oder Neuinterpretation? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juli 1999, S. 8.

3) UK Foreign Office Policy Document No. 148, British Yearbook of International Law 57/1986, S. 614.

4) Vgl. neben den bereits weiter oben angegebenen Autoren O. Schachter: International law in theory and practice, Dordrecht 1991, S. 128; Antonio Cassese: Self-determination of peoples, Cambridge 1995, S. 199 f.; Michael Bothe: VII Rdnr. 19. In: Graf Vitzthum (Hrsg.): Völkerrecht, Berlin 1997; Reinhard Merkel: Das Elend der Beschützten, DIE ZEIT, 12. Mai 1999, S. 10; August Pradetto: Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/99, 12. März 1999, S.26 ff.

5) Vgl. Brad R. Roth: Bending the law, breaking it, or developing it? The United States and the humanitarian use of force in the post-Cold War era. In: Michael Byers, Georg Nolte (Eds.): United States hegemony and the foundations of international law, Cambridge 2003, S. 242.

6) Vgl. Marcello G. Kohen: US use of force after the Cold War. In: Michael Byers, Georg Nolte (Eds.): United States hegemony and the foundations of international law, Cambridge 2003, S. 219.

7) Vgl. Brad R. Roth: a.a.O. (s. Anm. 5), S.250 ff. So auch die Independent International Commission on Kosovo (Goldstone Commission), Kosovo Report 2000.

8) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, Sept. 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf, Kap. V, S. 15. Vgl. Dietrich Murswiek: Die amerikanische Präventivstrategie und das Völkerrecht. Neue Juristische Wochenschrift, Heft 14/2003, S. 1014 ff.

9) European Security Strategy, A secure Europe in a better world, Dez. 2003, http://europa.eu.int/geninfo/whatsnew.htm

10) Vgl. Albrecht Randelzhofer, Art. 51 Rdnr. 39. In: Bruno Simma (Ed.): The Charter of the United Nations, Oxford 2002; Antonio Cassese: International law, Oxford 2001, S. 310; Dietrich Murswiek: a.a.O. (s. Anm. 8), Anm. 15; Christine Gray: International law and the use of force, New York 2000; Mary Ellen O’Connell, Re-leashing the dogs of war. The American Journal of International Law, Vol. 97/2003.

11) Yoram Dinstein: War, agression and self-defence, Cambridge 1994, S. 190 ff.; Peter Malanczuk: Akehurst’s Modern introduction to international law, London 1997, S. 312 ff.

12) C. Humphrey M. Waldock: The regulation of the use of force by individual states in international law. Recueil des Cours, Vol. 81 (1952-II), S. 451 ff., 498.

13) Vgl. W. Michael Reisman: International legal responses to terrorism. Houston Journal of International Law, Vol. 22/1999; Armin A. Steinkamm: Der Irak-Krieg – auch völkerrechtlich eine neue Dimension. Unumgängliche Diskussion über das Recht der präventiven Verteidigung. Neue Züricher Zeitung, 16. Mai 2003; Karl Heinz Kamp: Die neue Sicherheitsstrategie der USA und das grundsätzlich andere Verständnis von Völkerrecht. In: Friedrich Ebert Stiftung, Zurück zum Faustrecht? Dokumentation einer Konferenz vom 22. September 2003, S. 49 ff; Karl Heinz Kamp: Die Bedrohung bekämpfen, bevor sie akut wird. Frankfurter Rundschau, 4. Febr. 2004. Vgl. auch die neue außenpolitische Doktrin der CDU, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. April 2003, S. 2.

14) Bundesverwaltungsgericht, Urteil 2WD 12.04 vom 21. Juni 2005, http://www.bundesverwaltungsgericht.de.

Dr. Norman Paech, Professor em. für Öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), seit September 2005 MdB »Die Linke«

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2005/4 60 Jahre Vereinte Nationen, Seite