Sie nennen sich Refuseniks
Israelische Reservisten verweigern den Dienst in den besetzen Gebieten
von Andreas Linder
Seit dem öffentlichen Aufruf von 50 Reservisten in israelischen Zeitungen Anfang Februar 2002, den Kriegsdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, haben sich dieser Initiative mehr als 1200 Reservisten der israelischen Armee angeschlossen. Die Reservisten sind zumeist keine Berufssoldaten. Nach dem abgeleisteten Grundwehrdienst muss in Israel jeder Wehrpflichtige jedes Jahr einen weiteren Monat Militärdienst ableisten. Ein Recht auf Verweigerung gibt es nicht, weder für Männer noch für Frauen, auch keinen Ersatzdienst. Doch es gibt Ausnahmen von der Regel, in denen augenscheinlich nach rassistischen und religiösen Kriterien sortiert wird. Orthodoxe Juden müssen meist nicht dienen, und wenn doch, dann nur in spezifischen nichtmilitärischen Bereichen. Araberinnen und Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft sind vom Kriegsdienst ausgeschlossen. Junge Frauen aus religiösen Familien können doch eine Art Ersatzdienst leisten. Uneingeschränkt wehr- und reservepflichtig sind also (nur) die nichtorthodoxen und nichtarabischen israelischen Staatsangehörigen. Zur Zeit sitzen etwa hundert Refuseniks – unter ihnen viele Reservisten – im Gefängnis.
Rabbi Shlomo Aviner ist einer der wichtigsten Rabbis in »Judäa und Samaria« (der West Bank). In der Zeitschrift »B’ahava u’bemuna« (In Liebe und Glauben), die in jüdischen Synagogen verteilt wird, veröffentlichte er im Frühjahr dieses Jahres einen Artikel mit einem unverhohlenen Mordaufruf: Es sei erlaubt, israelische Soldaten zu töten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern. Zur Begründung schrieb der Rabbi: „Wir befinden uns im Krieg und es ist verboten, die Armee zu kritisieren.“ Mit solchen harten Bandagen heizte der Rabbi die Stimmung gegen diejenigen Israelis an, die im eskalierenden Bürgerkrieg in Gewissensnöte geraten.
Omry Yeshurun ist einer dieser Kriegsdienstverweigerer. Der 26-jährige Reservist ist bzw. war Panzeroffizier in der israelischen Armee. Er ist bereit, sein Land gegen Angriffe von außen zu verteidigen, aber er ist gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete und den Bürgerkrieg im eigenen Land. Am Schlimmsten war für ihn das „alltägliche Jagen von Palästinensern“, das „Kontrollieren und Schikanieren“ von Personen, die nur zur Arbeit ins israelische Gebiet wollten. Weil er diese Einsätze mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte, verweigerte er den Dienst. Er wurde zum »Refusenik«. Jetzt engagiert er sich bei Yesh Gvul, einer der israelischen Friedensbewegung zugehörigen Organisation, die die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Er gehört zu den Menschen, die im israelisch-palästinensischen Konflikt nach Wegen suchen, dem Terror auf beiden Seiten durch die Ablehnung von Gewalt entgegenzutreten. Für seine Überzeugung nahm er Nachteile in Kauf. Neben den verbüßten vier Wochen Militärarrest muss er sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, ein Linksextremer und ein Vaterlandsverräter zu sein. Für einen Soldaten nicht einfach.
Im Juli 2002 bereiste Omry Yeshurun die Schweiz und Deutschland, um über seine Erfahrungen und die momentane Situation in Israel zu berichten. Bei seinem Vortrag in Tübingen gab er seiner Empörung Ausdruck über den Mordaufruf des Rabbi Shlomo Aviner gegen die verweigernden Reservisten, die als loyale Staatsbürger jetzt um ihr Leben fürchten müssten. Danach schilderte er die Situation der Menschen auf beiden Seiten der verhärteten Front. Bei den Israelis dominiere aufgrund der Erfahrung des Holocaust das Gefühl, nie wieder Opfer sein zu wollen: „Die Menschen gehen davon aus, dass Stärke eine absolute Notwendigkeit ist. Viele Israelis haben keine Hoffnung mehr, dass es einen Frieden mit der palästinensischen Seite geben kann. Sie sind auch nicht daran interessiert, was tatsächlich in Palästina passiert.“ Sie würden ihre Augen vor der Realität verschließen. Er verwies auf einen inhärenten Rassismus in der israelischen Gesellschaft, der möglicherweise ein Produkt der verschärften Umstände sei, aber auf jeden Fall eine „traurige Tatsache“.
Auf Seiten der Palästinenser seien zum einen die Lebensbedingungen härter, zum anderen führe der Druck durch die ständige militärische Präsenz der israelischen Armee wie auch der fortgesetzte Siedlungsbau dazu, dass sie nicht mehr an friedliche Lösungen glaubten. Dass neben dem Rassismus in Teilen der israelischen Gesellschaft auch die in der palästinensischen Gesellschaft vermehrt auftretende antijüdische Einstellung zur Eskalation der Situation beitragen, das sprach Yeshurun allerdings kaum an. Zu sehr fühlt er sich vielleicht als Bürger des Besatzerstaates im Unrecht und als Soldat in der Gewissensnot.
Die wesentlichen Gründe dafür, warum israelische Soldaten und Reservisten den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, sind: Sie sehen in der Besetzung der palästinensischen Gebieten eine Art Angriffskrieg und sie verurteilen die Politik der Regierung Sharon, die statt auf Friedens- auf Konfrontationskurs mit den Palästinensern ging. Sie müssen an Einsätzen teilnehmen, die sie als hart und moralisch verwerflich empfinden, wollen sich aber nicht zu Handlangern einer aggressiven Politik machen lassen. Yeshurun vertritt deshalb das von Yesh Gvul unterstützte Konzept des »selective refusal«, der selektiven Verweigerung: Wenn Israel von außen angegriffen wird, stehen die Reservisten ihren Mann zur Verteidigung des israelischen Staates; wenn dieser selbst zum Aggressor wird, vor allem gegenüber der palästinensischen Bevölkerung im eigenen Land, berufen sich die Refuseniks auf ihr Gewissen. Yeshurun: „Der Grund für mich, nicht in Palästina zu dienen, ist ein moralischer.“ (siehe auch nachfolgendes Interview)
Wer im aktuellen Bürgerkrieg den Kriegsdienst verweigert, muss Repressalien auf sich nehmen. Auf die Befehlsverweigerung erfolgt die Vorführung vor ein Militärgericht. Von einer gerichtlichen Verhandlung kann dabei keine Rede sein. Die Refuseniks können sich keinen Anwalt nehmen. Es gibt keinen Richter und keine Jury. Der Richter ist ein Offizier, der einen Sekretär zur Seite hat. Omry Yeshurun: „Du hast nichts zu sagen und du bist natürlich immer schuldig. Das Ende steht schon am Anfang fest: Man wird zu Gefängnis verurteilt.“
Im Militärgefängnis wird den Reservisten meist respektvoll begegnet. Die Militärs behandeln ihresgleichen anders als die (wenigen) Totalverweigerer. Weder verbale Aggressionen noch Schikanierungen oder gar körperliche Übergriffe kommen laut Yeshurun vor. Außer dem Verlust des Einkommens während der Haft haben die Betroffenen kaum materielle Nachteile zu befürchten. Anders sieht es jedoch mit den immateriellen Folgen aus. Die Refuseniks werden zwar (bis auf wenige linke Zeitungen) von den israelischen Medien überwiegend totgeschwiegen, aber wenn es doch mal um sie geht, dann hagelt es moralische Vorwürfe und Kritik. Dann heißt es, sie seien undemokratisch, weil sie sich aus zweifelhaften moralischen Gründen nicht an die geltenden Gesetze hielten, dann wird ihnen vorgeworfen, die eigenen Kameraden und den Staat als solchen im Stich zu lassen und damit Verrat zu üben. Es wird sogar angemahnt, dass gerade in Kriegssituationen die »Moralischen« als Korrektiv gegen Auswüchse in der Armee bleiben müssten oder es heißt, dass die Politik sich aus der Armee raus zu halten habe und das spezielle militärische Ethos in Israel hoch gehalten werden müsse.
Omry Yeshurun hält dem seinen moralischen Standpunkt und die politischen Überzeugungen der Bewegung Yesh Gvul entgegen: „Mit Demokratie hat das, was der Staat Israel in den besetzten Gebieten macht, nichts zu tun, es ist geradezu undemokratisch, repressiv gegen Minderheiten vorzugehen.“ Es sei eine politische Entscheidung des Staates, Krieg zu führen oder eine Friedenspolitik zu betreiben. Hinzu komme, dass die Politik und die Armee in Israel schon lange verzahnt seien. Die Armee fälle oft mehr politische Entscheidungen als die Exekutive. Als »Moralischer« in der Armee zu bleiben, um Schlimmeres zu verhindern, sei eine Illusion, denn die Eigendynamik der Situation sei oft stärker als der einzelne. Omry Yeshurun ist sicher, dass seine Freunde in der Armee wissen, dass er auch für sie verweigert.
Ob die Verweigerung des Kriegsdienstes ein Schritt in Richtung Frieden ist kann Omry Yeshurun nur hoffen. Die Refuseniks und Yesh Gvul versprechen sich von einer steigenden Zahl an Kriegsdienstverweigerern einen wachsenden Druck auf die israelische Regierung, deren momentanen Kurs zu ändern. Zu hoffen ist zudem, dass die Friedensbereitschaft von israelischen Soldaten und Reservisten auch die Extremisten unter den Palästinensern dazu bewegen kann, auf ihre verheerenden Selbstmordattentate zu verzichten. Das könnte dann auch militanten Rabbis den Wind aus den Segeln nehmen. Als Teil des »anderen Israel«, das sich für eine politische Lösung des Konflikts und ein Ende der unmenschlichen Besatzungspolitik ausspricht, sind die Refuseniks jedenfalls eine ernstzunehmende politische Kraft.
Weitere Informationen über die Refuseniks und ihre Organisation: www.yesh-gvul.org
Ich bin kein Besatzer, Punkt
von Uri Ya‘acobi
Uri Ya‘acobi hat zusammen mit anderen Oberstufenschülern in einem offenen Brief angekündigt, dass er an der von der israelischen Armee durchgeführten gewaltsamen Besetzung der palästinensischen Gebiete nicht teilnehmen werde, auch dann nicht, wenn er wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit langen Gefängnisstrafen rechnen muss. Der Text erschien in zwei israelischen Zeitungen, in Ha‘aretz am 18. August (gekürzt) und in Ma‘ariv, am 22. August 2002 (vollständig). Er hat folgenden Wortlaut:
In zwei Tagen werde ich nicht in die Armee eintreten. Ich werde zur Kaserne fahren, werde zusammen mit allen anderen Wehrpflichtigen den Bus besteigen und wenn wir bei der Einberufungsstelle in Tel Hashomer den Bus verlassen, dann werde ich, im Gegensatz zu den anderen, meine Einberufung verweigern, ich werde mit großer Sicherheit ins Gefängnis geschickt werden. Im Gefängnis werde ich zwei der Mitunterzeichner des »Briefs der Oberstufenschüler« treffen – Yoni Yechezkel und Dror Boimel. Diese zwei wurden schon in den letzten Wochen inhaftiert – wegen ihrer Verweigerung der Einberufung. Sie, wie ich – und wie sich herausstellte viele andere Israelis – verstehen, dass dieser Krieg, den der Staat Israel in den 1967 besetzten Gebieten führt, kein Krieg der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis ist (genauso wenig wie viele andere Kriege, die im Laufe der Geschichte geführt wurden).
Wenn wir in den ausländischen Medien Berichte über das Wüten der israelischen Panzer in den Straßen der palästinensischen Städte hören (aus irgendwelchen Gründen ist das sehr selten Teil der israelischen Nachrichten), dann hören wir dennoch nicht die volle Wahrheit. Die traurige Wahrheit ist, die militärischen Aktionen beschränken sich nicht auf Panzereinsätze und die Zerstörung ziviler Infrastruktur, es werden nicht nur Ambulanzen aufgehalten und schwangere Frauen an Straßensperren abgewiesen, es geht nicht nur einfach um Gleichgültigkeit gegenüber der palästinensischen Bevölkerung: Unsere Soldaten befinden sich in schwierigen Situationen, manchmal mag es auch aus Versehen geschehen, aber sie töten Kinder und alte Menschen, die sicher in keiner Weise etwas mit terroristischen Aktivitäten zu tun haben; sie zerstören die Häuser ganzer Familien und begehen andere Verbrechen, für die »Terrorismus« die treffendste Bezeichnung ist. All dies sind unverzeihliche Taten, an denen meine Freunde und ich unsere Teilnahme verweigern. Diese Taten sind ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Kein Grund auf der Welt, und sicher auch nicht der Wunsch ein weiteres Stück Land zu kolonisieren, verwandelt diese Verstöße in moralisch zu rechtfertigende Taten, genausowenig wie die terroristischen Anschläge gegen Israel richtig oder moralisch zu rechtfertigen sind.
Ich weiß nicht, ob die palästinensische Führung Frieden will, ich weiß nicht, ob die Palästinenser auf ewig arm und diskriminiert bleiben wollen (es ist schwer vorstellbar, dass sie das wollen könnten). Eines weiß ich aber, die Palästinenser wollen nicht, dass wir ihre Besatzer sind. Ich weiß, sie wollen den Kriegszustand nicht, sie wollen kein ständiges Blutvergießen erleben. Ich weiß, nicht sie sind es, die uns zwingen, sie zu besetzen, es sind nicht sie, die uns in Besatzer verwandeln. Das machen wir recht gut alleine, ohne ihre Hilfe. Ich bin nicht stolz auf mein Volk. Ich bin nicht stolz auf mein Land. Ich bin nicht stolz auf die Taten, die im Namen meiner Sicherheit verübt werden. Ich bin nicht stolz darauf, wegen meiner Weigerung in einer Besatzungsarmee Dienst zu tun, ins Gefängnis zu müssen (und ich bin auch überhaupt nicht froh darüber, nun eine Chance zu haben für meine Überzeugung zu leiden). Stolz bin ich, auf die Stimme meines Gewissens zu hören, und ich werde froh sein, wenn mehr Menschen auf das ihre hören werden, und nicht auf ihre Kommandanten.
Übersetzung: Claudia Haydt
Andreas Linder ist Kulturwissenschaftler und arbeitet als Freier Journalist