W&F 2002/4

Siedlungspolitik verstößt gegen Menschenrechte

von Yehezkel Lein

Das Thema Siedlungen in der West Bank wird in Israel und der internationalen Öffentlichkeit fast ausschließlich als abstraktes politisches Problem wahrgenommen. Der Abbau von Siedlungen wird nur im Rahmen von »Zugeständnissen« gesehen, die Israel eventuell machen muss um einen endgültigen Friedensvertrag mit der palästinensischen Autonomiebehörde zu erreichen. Diese Herangehensweise hat einen der wichtigen Aspekte dieses Themas aus dem Blickfeld verschwinden lassen: Der fortgesetzte Verstoß gegen die Menschenrechte der Palästinenser, der seine Ursache hat in der Errichtung der Siedlungen, in deren Verteilung in der West Bank und in deren Eigenschaft als israelische Exklaven, die von der palästinensischen Bevölkerung getrennt und gegen sie abgeriegelt sind.
Internationales Menschenrecht verbietet es der Besatzungsmacht, Bürger aus ihrem eigenen Territorium in besetztes Gebiet zu transferieren (Vierte Genfer Konvention, Artikel 49). Die Hager Bestimmungen verbieten es der Besatzungsmacht dauerhafte Veränderungen im besetzten Gebiet vorzunehmen, wenn diese nicht im engeren Sinn durch militärische Notwendigkeiten bedingt sind oder zum Nutzen der lokalen Bevölkerung dienen. Dadurch führt die Errichtung der Siedlungen zur Verletzung von internationalen Menschenrechtsgrundsätzen. Darüber hinaus führen die Siedlungen zur Verletzung vieler weiterer Grundrechte der Palästinenser, wie dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Gleichheitsgrundsatz, dem Schutz des Eigentums, dem Anspruch auf einen angemessenen Lebensstandard und dem Recht auf Bewegungsfreiheit.

Obwohl die von Siedlungen überbauten Gebiete weniger als zwei Prozent der West Bank ausmachen (1,7%), sind die Gemeindegrenzen viermal so groß (6,8%), vieles davon ist für Erweiterungen vorgesehen. Zusätzlich kontrollieren die Regionalverwaltungen der Siedlungen weite Landstriche (35,1%). Insgesamt haben die verschiedenen israelischen Regierungen seit der israelischen Besetzung 1967 über 40% der West Bank enteignet und das Land der Kontrolle der Siedlungen unterstellt. Dennoch ist es nicht nur das große Ausmaß der Gebiete, die von den israelischen Siedlungen kontrolliert werden, sondern auch deren spezifische Lage, die zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen führt. Ein genauer Blick auf einige Gebiete der West Bank kann einen Einblick in die Art und das Ausmaß dieser Verstöße geben.

Mit Ausnahme der Enklave von Jericho wurde der gesamte Landstrich entlang der jordanischen Grenze, einschließlich Jordantal und Totes Meer, zum Hoheitsgebiet zweier jüdischer Regionalverwaltungen (Hayarden und Megillot) erklärt. Die weniger als 5.000 Siedler verbrauchen einen riesigen Anteil der Wasserressourcen der West Bank für landwirtschaftliche Zwecke. Die Menge entspricht 75% des privaten und kommunalen Verbrauchs der gesamten palästinensischen Bevölkerung. Die Verweigerung von Land- und Wasserressourcen verhindert jede mögliche Entwicklung der palästinensischen Landwirtschaft. Die Kontrolle der Siedlungen über das Ufer des Toten Meers verhindert außerdem die Realisierung von äußerst wertvollen ökonomischen Möglichkeiten auf industriellem oder touristischem Gebiet.

Die Siedlungen in dem Streifen, der sich entlang des Bergkamms in der Mitte der West Bank zieht, und in denen 34.000 Siedler leben, haben erhebliche Auswirkungen auf die Palästinenser in diesem dicht bevölkerten Gebiet. Die meisten Siedlungen wurden entlang der oder angrenzend an die Road No. 60 errichtet. Diese Straße ist die Hauptverkehrsader, die die sechs wichtigsten Städte in der West Bank miteinander verbindet. Die Orte der Siedlungen waren nicht zufällig gewählt, sondern hatten den expliziten Zweck, die Ausweitung palästinensischer Bebauung zur Straße hin und das Zusammenwachsen von auf gegenüberliegenden Straßenseiten liegenden Gemeinden zu verhindern. Die Anwesenheit von israelischen Bürgern in dicht besiedelten und manchmal feindseligen palästinensischen Gebieten hat zu einer starken Militärpräsenz geführt, um die Siedler zu beschützen. In Zeiten wachsender Gewalt antwortet Israel mit der Verhängung starker Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für die palästinensische Bevölkerung entlang dieser Verkehrsader. Diese Restriktionen betreffen beinahe jeden Aspekt des Alltags von ungefähr 2 Millionen Palästinensern und schränken ihren Anspruch auf medizinische Versorgung, ihr Recht auf Arbeit, Familienleben und Bildung erheblich ein.

Der Zusammenhang zwischen der Anwesenheit der Siedler und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird dort noch augenfälliger, wo die Road No. 60 durch bebaute Gebiete der palästinensischen Kommunen führt, wie z.B. in den Städten Hawara und Silat Ad-Dhaber (südlich bzw. nordwestlich von Nablus). Seit dem Beginn der Al-Aqsa-Intifada hat die israelische Armee wiederholt lange Ausgangssperren über diese Städte verhängt, um den Siedlern in den angrenzenden Siedlungen Bewegungsfreiheit zu ermöglichen.

In der Bergregion blockieren die Siedlungen die urbane Entwicklung der wichtigsten palästinensischen Städte. So sind z.B. die ungefähr 158.000 Einwohnern des Stadtgebietes von Nablus (mit acht Dörfern und zwei Flüchtlingslagern) auf beinahe allen Seiten von Siedlungen umgeben. Die Siedlungen Har Brakha und Yizhar liegen im Süden der Stadt, die Siedlungen Qedumim und Shave Shomron im Westen, im Osten grenzen Elon Moreh und Itamar direkt an die Flüchtlingslager Askar und Balata an und im Norden liegt eine Militärbasis. So wird die Entwicklung des Gebietes von allen Seiten blockiert.

Die strategische Positionierung der Siedlungen in den verschiedenen Teilen der West Bank verhindert die Entstehung größerer zusammenhängender palästinensischer Gebiete. Am auffälligsten ist dies im westlichen Teil der West Bank entlang der Grenze von 1967, wo Dutzende von Siedlungen (z.B. Alfei Menashe, Karnei Shomron, and Modi’in Illit) gebaut wurden als Reaktion auf die große israelische Nachfrage nach billigen Wohnungen in erreichbarer Nähe zum Großraum Tel Aviv. Durch das Bestehen von Siedlungen in diesem Gebiet behielt Israel die volle Kontrolle über die meisten Gebiete, die palästinensische Städte und Dörfer umgeben, auch nachdem durch die Oslo-Vereinbarungen die Amtsgewalt an die Palästinensische Autonomiebehörde überging. Das führte zur Entstehung von mehr als 50 autonomen palästinensischen Enklaven (»Area A« und »Area B«1), die vollständig von israelisch kontrolliertem Land (»Area C«) umgeben sind.

Eine der Hauptfolgen dieser Zerstückelung ist, dass Israel – obwohl die Planungs- und Baukompetenzen für Area A und B weitestgehend an die Palästinensische Autonomiebehörde übergeben wurden – nach wie vor die Bebauung von Freiland behindern kann, das den Kommunen und ihren Einwohnern gehört. Zusätzlich schränkt diese geographische Realität die Möglichkeit zur Errichtung eines unabhängigen und lebensfähigen Palästinenserstaates ein und verletzt so das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung.

Die Siedlungen, die im Großraum Jerusalem errichtet wurden (in einem Gebiet, das weit über die Stadtgrenzen hinaus geht) haben Auswirkungen sowohl auf die Bewegungsfreiheit als auch auf das Recht zur Selbstbestimmung. Das Gebiet von Ma’ale Adummim, der größten Siedlung in dieser Region, zusammen mit drei kleineren Siedlungen, schafft einen zusammenhängenden Block im Zentrum der West Bank, der sich über 17.500 Morgen Land erstreckt – von der östlichen Grenze Jerusalems bis zu den Außenbezirken von Jericho. Das Siedlungsgebiet ist ungefähr 15mal größer als das tatsächlich überbaute Gebiet.

Dieser Siedlungsblock trennt den nördlichen Teil der West Bank ab vom südlichen. Wenn Ma’ale Adumim wie geplant nach Westen erweitert wird, dann wird es die Hauptverkehrsroute zwischen Ramallah und Bethlehem blockieren (die Wadi An-Nar-Straße). Diese ist die einzige verbliebene Verbindung zwischen diesen Städten, seit es 1993 Palästinensern verboten wurde Jerusalem ohne Genehmigung zu betreten. Diese Entwicklung würde eine weitere Aufteilung der besetzten Gebiete in vier territoriale Einheiten bedeuten: der Gaza Streifen, Jerusalem, der südliche Teil der West Bank und der nördliche Teil. In gleicher Weise veranlasst die Siedlung Ari’el die israelische Regierung einen langen Korridor zu kontrollieren, der zu dieser Siedlung führt (der Trans-Samaria Highway). Dieser zieht sich von der Grenze von 1967 beinahe bis zur Road No. 60 und unterbricht so die territoriale Einheit im Norden der West Bank, einem Gebiet das dicht besiedelt ist.

Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern in den 90er Jahren versäumte es vollständig, das Thema Siedlungen zu bearbeiten. Während der Friedensprozess sich entwickelte, weiteten die Siedlungen eilig die unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete aus und keine einzige Siedlung wurde abgebaut. Zusätzlich vergrößerte sich auch die Bevölkerung in den Siedlungen. 1993 (als die Prinzipienerklärung von Oslo unterzeichnet wurde) lebten insgesamt 247.000 Menschen in den Siedlungen in der West Bank (einschließlich Ost-Jerusalem); Ende 2001 war diese Zahl auf 380.000 gestiegen.

Das Scheitern des Friedensprozesses und der Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada im September 2002 sind komplexe Phänomene, die viele Ursachen haben. Die israelischen Siedlungen sind jedoch zweifellos ein Hauptfaktor. Das Wissen um Wachstum und Ausdehnung der Siedlungen und deren Auswirkungen auf die Menschenrechte der Palästinenser ist unabdingbar für das Verständnis des Konfliktes und muss bei allen zukünftigen Friedensinitiativen berücksichtigt werden.

Anmerkungen

1) »Area A« bezeichnet Gebiete mit voller Autonomie; »Area B« bezeichnet Gebiete mit palästinensischer Zivil- und israelischer Militärverwaltung.

Yehezkel Lein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von B’Tselem, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Lein hat im Auftrag von B’Tselem einen 100 Seiten umfassenden Bericht über die israelische Siedlungspolitik erarbeitet. Einzusehen im Internet unter www.btselem.org/Download/Land_Grab_Eng.doc
Die deutsche Zusammenfassung liegt auf der IMI-Homepage www.imi-online.de
Übersetzung: Claudia Haydt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/4 Israel – kein Friede in Sicht, Seite