Soldat*in sein
von Fabian Virchow
Jährlich publizieren Einrichtungen wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI Zahlen zu Produktion von und Handel mit Waffen und legen Angaben über die weltweiten Militärausgaben vor. Vergleichbar verlässliche Gesamtaufstellungen über die Zahl der Männer, Frauen und Kinder, die rund um den Globus Teil von Armeen und bewaffneten Verbänden sind, lassen sich kaum finden. Dabei sind Menschen - trotz der insbesondere im Globalen Norden forcierten Bemühungen um die Entwicklung und den Einsatz unbemannter Fahrzeuge, Fluggeräte und Schiffe - auch weiterhin unverzichtbar für die Planung und die Ausübung von militärischer, von soldatischer Gewalt.
Die anhaltende Technisierung von Armeen und die vielfach komplexer gewordenen Aufgaben, die Soldat*innen übertragen werden, erfordern zweifellos einen zunehmend höheren Grad an selbsttätiger Beurteilungsfähigkeit. Allerdings folgt dem Eintritt in die »Welt des Militärs« mit den ihr eigenen Verhaltensregeln, Ritualen und Strukturen auch weiterhin die Unterwerfung unter die Regeln und die Rationalität der »totalen Institution«. Dass deren Angehörige diese Regeln und Rationalität schließlich überwiegend teilen, akzeptieren und inkorporieren und damit der Grad des Zwanges weniger augenfällig wird, widerspricht dem nicht.
In allen soldatischen Kulturen von Streitkräften wird Gehorsam trainiert und in erheblichem Umfang auch erzeugt. Zwar gibt es beispielsweise in der Bundeswehr für Soldat*innen das Recht und die Pflicht, rechtswidrige Befehle zu verweigern, allerdings werden solche Situationen nicht systematisch geübt und Soldat*innen demzufolge nicht ermutigt, sich der Ausführung solcher Befehle zu widersetzen.
Gleichwohl lassen sich Formen der Unbotmäßigkeit, Akte der Desertion sowie kollektives Zuwiderhandeln in der Geschichte aller Armeen und bewaffneten Formationen aufspüren. Es ist daher durchaus bemerkenswert, dass diese von der Friedensforschung bislang nicht systematisch untersucht worden sind. Es liegen weder verlässliche Informationen über das Ausmaß noch Studien über die Entstehungsbedingungen bzw. Folgen entsprechenden Handelns vor. Dabei wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, die Relevanz solcher Dynamiken erkennbar, als infolge der auch die US-Streitkräfte tangierenden Bewegung gegen den Vietnam-Krieg die Wehrpflicht in den USA ausgesetzt wurde.
Die Zusammensetzung von Streitkräften und bewaffneten Formationen und die dabei auftretenden Konflikte können Aufschluss über Stand, Entwicklung und Konfliktlinien der Gesellschaft geben, in der sie entstehen und sich fortentwickeln. Dies gilt etwa für das Ausmaß sexualisierter Gewalt im Militär, ebenso für den Umgang der politisch und militärisch Verantwortlichen mit entsprechenden Diskriminierungs- und Gewaltpraxen. Nicht einmal ein nennenswertes und transparentes Berichtswesen ist in vielen Armeen vorhanden, was dazu beiträgt, das Ausmaß sexualisierter Gewalt zu verschleiern.
Mit Blick auf die religiöse und ethnische Diversität in Streitkräften lassen sich zugleich ausschließende wie inkludierende Tendenzen erkennen. Und schließlich ist noch der Aspekt der Klassenzugehörigkeit von Soldat*innen zu nennen. Sie ist für ganz unterschiedliche Interessenlagen bedeutsam: wird etwa eine militärische Karriere mit Kommandogewalt angestrebt, die Absicherung vor den sozialen Risiken des real existierenden Kapitalismus gewünscht oder die Möglichkeit gesucht, individuell organisiert die Teilnahme am militärischen Zwangsdienst zu vermeiden.
Insbesondere Streitkräfte, die sich - aus welchen Gründen auch immer - für die Sicherung ihres Personalbestandes nicht (mehr) einer allgemeinen Wehrpflicht bedienen, sind darauf angewiesen, junge Menschen anzuwerben und von den Vorteilen des Eintritts in die Streitkräfte zu überzeugen. Der Zugang zur Zielgruppe und die Ausgestaltung der entsprechenden Werbemaßnahmen hängen dabei nicht zuletzt von der spezifischen politischen Kultur, den geschichtlichen Koordinaten sowie der aktuellen gesellschaftlichen Konstellation eines Landes ab. Die Rede vom »Dienst an der Nation« lässt sich mit dem Versprechen auf einen »attraktiven und anspruchsvollen Arbeitsplatz« durchaus verknüpfen. Nicht thematisiert wird im Rahmen der zahlreichen Werbekampagnen, die auch die Bundeswehr seit Jahren an Schulen und Hochschulen sowie bei Messen und Ausstellungen durchführt, hingegen die Frage des Tötens und des Sterbens. Dabei beinhaltet das Berufsbild und -verständnis von Soldat*innen grundsätzlich das Risiko, in Ausübung des Berufes gesundheitlich schweren Schaden zu nehmen oder getötet zu werden. Ebenso wenig wird verdeutlicht, dass zur soldatischen Berufstätigkeit zumindest die Vorbereitung auf das Töten anderer Menschen gehört. Die Überwindung der Tötungshemmung ist denn auch in allen Armeen der Welt integraler Teil der Ausbildung. Dem zu widersprechen, bleibt eine Aufgabe, die dringlich ist und einen langen Atem verlangt.
Ihr Fabian Virchow