W&F 1997/3

Solidarität mit Gewissenstätern

Zur Arbeit der Ethikschutz-Initiative

von Günter Emde

Angesichts der Risiken, die von technischen Errungenschaften ausgehen, stellt sich immer wieder die Frage: Warum ist es nicht möglich, sich auf kommende technische Neuerungen besser vorzubereiten, sie sorgfältig zu diskutieren und abzuwägen hinsichtlich ihrer Folgewirkungen auf die Gesundheit der Benutzer, auf die Natur, auf die geistige Entwicklung unserer Kinder, auf die Lebensbedingungen künftiger Generationen usw. usw. Die Rechtsgrundsätze unseres Wirtschaftssytems begünstigen es stattdessen, daß neue Produkte unter dem Gesichtspunkt hoher Gewinnerwartung konzipiert und entwickelt werden, ohne daß die betroffenen Bürger in die Diskussion einbezogen werden. Kein Wunder, daß sich Mißtrauen und Verdrossenheit gegen alle Obrigkeit ausbreitet.

In den Betrieben, in denen die Neuerungen entworfen werden, sieht es anders aus. Der Brotgeber hat das Sagen, er erwartet Treue und Verschwiegenheit, um den Geschäftserfolg der eigenen Firma zu sichern. Abweichler haben es in dieser Atmosphäre schwer. Sie müssen mit Repressalien rechnen, wenn sie eine bedenkliche Neuentwicklung oder einen Mißstand an die Öffentlichkeit bringen oder die Mitarbeit an einem Projekt verweigern, daß sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können.

Dabei ist die Rechtslage in Deutschland besser als gemeinhin angenommen wird. Das Grundgesetz gibt Rückendeckung zur Verweigerung aus Gewissensgründen, nicht nur im militärischen Dienst, sondern auch für Angestellte in der Industrie. Jedoch muß ein Verweigerer dann mit Kündigung rechnen, wenn sich ein anderer geeigneter Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens nicht finden läßt. Nicht so klar ist die Situation, wenn Betriebsgeheimnisse, Gesetzesverstöße oder Mißstände angezeigt oder sonstwie »unerlaubt« an die Öffentlichkeit gebracht werden. Die Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber ist hier gegen das berechtigte Interesse der Allgemeinheit abzuwägen. Über diese Problematik ist kürzlich ein knappgefaßtes Büchlein herausgekommen: U. Wendeling-Schröder/G. Emde/U. Laufs: „Wenn das Gewissen NEIN sagt. Ethisch handeln in der abhängigen Arbeit. Ein Ratgeber in Konfliktfällen“ [Emde Verlag, Pittenhart, 1996, DM 8,80]. Die Broschüre gibt anhand von Beispielen einen Überblick über die Rechtssituation auf diesem Gebiet in Deutschland, ergänzt um Empfehlungen für Betroffene.

Wie ist die Situation in anderen Ländern?

Die Schicksale von einigen herausragenden Gewissenstätern sind bekannt: Mirzayanow, der die international geächtete Entwicklung höchstgiftiger Waffengase in Rußland an die Öffentlichkeit brachte, und Nikitin, der auf die Gefahren der atomaren Verseuchung des Nordmeers durch militärische Altlasten hinwies. Diese Männer wurden von den Sicherheitskräften ihres Staates ins Gefängnis gebracht, ja mit dem Todesurteil bedroht. Solche Verfahrensweisen können aber nicht einfach als Überbleibsel aus einer Zeit staatlicher Willkür angesehen werden. Das Schicksal von Vanunu, der die geheime Entwicklung einer israelischen Atombombe verriet, belehrt uns, daß Ausschreitungen gegen ethisch motivierte Dissidenten auch in demokratisch regierten Ländern vorkommen.

Auch aus den USA und aus Deutschland gibt es Beispiele, nachzulesen in den beiden folgenden Büchern: Stephen H. Unger: „Controlling Technology, Ethics and the Responsible Engineer“ [John Wiley & Sons, New York, 1994]; Antje Bultmann/Naturwissenschaftler-Initiative / DGB-Angestelltensekretariat: „Auf der Abschußliste – Wie kritische Wissenschaftler mundtot gemacht werden“ [Knaur, München 1997, i. V.]

In den USA ist die Problematik immerhin seit den siebziger Jahren als Aufgabenstellung erkannt, und zwar nicht nur bei ethisch orientierten Vereinigungen und berufsständischen Institutionen, sondern auch beim Gesetzgeber. Man spricht hier von einem »Whistleblower«, wenn jemand aus Verantwortung für das Gemeinwohl einen Mißstand bei der zuständigen Behörde oder sonstwie öffentlich bekannt macht. Inzwischen gibt es »Whistleblower Protection Clauses« in den grundlegenden Umweltschutzgesetzen; damit kann der Arbeitgeber bei Verstößen zum Schadensersatz und zur Rehabilitierung des Whistleblowers gezwungen werden. 1988 wurde der erste »Whistleblower Protection Act« für den militärischen Bereich erlassen, der sich jedoch in der Folgezeit als verbesserungsbedürftig erwies.

Besonders nachhaltig haben sich in den USA die berufsständischen Vereinigungen der Whistleblower-Problematik angenommen. Die bekannte Ingenieurvereinigung IEEE (der weltweit größte Ingenieurverein überhaupt mit 350.000 Mitgliedern) hat einen »Methodenkasten« zur Unterstützung von Whistleblowern entwickelt. Er umfaßt: einen vorbildlichen Ethikkodex als Richtschnur und als Hilfe in Rechtsstreiten, ein Ethikkomitee als Ansprechstelle für ethische Fragen, ein erprobtes Verfahren zur Aussonderung von Querulanten und zur fachlichen Beurteilung von echten Whistleblowerfällen, Verwendung der Ergebnisse in Gerichtsverfahren oder Veröffentlichungen, Verleihung von Preisen für herausragenden Einsatz zum Wohle der Allgemeinheit, Veröffentlichung von Firmenbeurteilungen (in Bezug auf ihre Offenheit für interne Kritik !), eine Ethik-Hotline für Mitglieder und Nichtmitglieder (!) und schließlich einen Hilfsfonds zur materiellen Unterstützung von Whistleblowern, die in schwere Not geraten sind. Diese Verfahren sind in den oben genannten Büchern genauer beschrieben.

Erwähnenswert und vorbildhaft sind auch ethisch orientierte gemeinnützige Vereine wie z. B. PEER (Public Employees for Environmental Protection). Diese Interessenvereinigung öffentlicher Angestellter wendet sich gegen umweltschädliche Maßnahmen und Duldungen durch Behörden und prangert sie öffentlichkeitswirksam an. Ihre Erfolge beruhen auf starkem persönlichen Engagement und auf einem umfangreichen Spendenzufluß.

Wie weit sind wir in Deutschland?

Wir sprechen hier von »Ethikschutz« und meinen damit den Schutz und die Unterstützung von ethisch motivierten Dissidenten sowohl im Falle der Arbeitsverweigerung bei ungesetzlichen, sittenwidrigen oder gewissenswidrigen Vorhaben als auch im Falle der Veröffentlichung oder Anzeige von Mißständen oder bedenklichen Plänen der eigenen Firma.

Der Ethikschutz für Angehörige des militärischen Dienstes wird durch das Wehrbeauftragtengesetz geregelt. Jeder Soldat hat das Recht einen erkannten Mißstand direkt dem Wehrbeauftragten beim Bundestag anzuzeigen, und er darf wegen der Anzeige keinerlei Benachteiligungen erfahren.

Dagegen gibt es weder ein allgemeines Ethikschutzgesetz noch Ethikschutzklauseln in der Umweltschutzgesetzgebung oder gar generell auf den für Zukunftsfähigkeit relevanten Gebieten. Wer innerhalb seiner Firma einen Mißstand erkennt, genießt keinen besonderen staatlichen Schutz, er handelt auf eigenes Risiko, wenn er Anzeige erstattet.

Und leider haben sich die großen berufsständischen Vereine in Deutschland dieses Themas noch nicht mit dem Engagement angenommen, wie dies in den USA der Fall ist. Sie könnten auf diesem Gebiet auch hierzulande etwa nach dem Vorbild des IEEE eine wichtige Rolle übernehmen.

Vor einigen Jahren hat sich darum in Deutschland die »Ethikschutz-Initiative« gebildet. Ihr Anliegen kommt in den beiden Grundsätzen zum Ausdruck:

  • Das Individuum mit seinem Gewissen ist in unserer Gesellschaft zu schwach gegenüber der Macht der Institutionen.
  • Verantwortungsbewußte uneigennützige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen brauchen mehr Schutz und mehr solidarische Stärkung durch Gleichgesinnte.

Institutionen – das können sein: Wirtschaftsunternehmen, Parteien, Vereine, aber auch Religionsgemeinschaften, Behörden, Institute – entwickeln in der Regel einen »natürlichen« Egoismus. Sie haben vor allem ihr eigenes Wachstum zum Ziel, Mehrung ihres öffentlichen Einflusses bzw. ihres Kapitals, Überwindung der Konkurrenz, Erlangung der Führungsrolle bis hin zur Beherrschung ihres »Marktes«. Die Probleme der Zukunft können aber nur durch eine große gemeinsame Anstrengung der Menschheit bewältigt werden. Jede Tendenz zum Egoismus und Eigennutz ist dabei kontraproduktiv.

Das wird von vielen einzelnen Menschen erkannt, aber nur wenige wagen es, im Ernstfall gegen die Interessen ihrer Institution zu handeln. Allgemeine Appelle zum »Mut zum verantwortlichen Handeln« haben nur geringe Wirkung, denn das Risiko für den Einzelnen ist derzeit zu hoch. Angesichts unzureichender rechtlicher Bedingungen und zumal in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit schrecken auch verantwortungsbewußt Denkende davor zurück, sich gegen eine Anordnung zu wehren, die dem Gewissen widerspricht. Sie fürchten den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Sollte das Risiko nicht eher bei denen liegen, die einen Mißstand verursachen, als bei denen, die ihn abwenden wollen?

Hinzu kommt als Erschwernis für den ethisch motivierten Abweichler, daß die bestehenden Strukturen unserer Gesellschaft sich auf eingefahrenen Geleisen bewegen, die in der Vergangenheit einen nie erlebten Aufschwung an Wohlstand und Annehmlichkeit des Lebens gebracht haben – für einen kleinen Teil der Menschheit zu Lasten des größeren Teils. Die Mehrheit der so begünstigten Menschen klammert sich darum an die erfolgreichen Ordnungen der Vergangenheit, in der trügerischen Hoffnung, es könne so weitergehen wie bisher. Um so schwerer ist es für die Einsichtigen, sich Gehör zu verschaffen, wenn sie ihre warnende Stimme erheben. Der Betroffene wird dann von seinen »angepaßten« Kollegen isoliert, er fühlt sich weitgehend allein gelassen ohne solidarische Unterstützung.

Hier setzt die Ethikschutz-Initiative ein. Sie bemüht sich, eine Bewegung in Gang zu bringen, um einen Ethikschutz aufzubauen und eine solidarische Haltung in der Kollegenschaft zu fördern. Dazu bietet sich eine Vielzahl von Wegen an. Die Initiative arbeitet auf einen »Methodenkasten« hin, ähnlich wie ihn das IEEE entwickelt hat. Sie bemüht sich in diesem Sinne um Unterstützung durch Berufsverbände, Ingenieurvereine, Ingenieurkammern, Unternehmensverbände, Gewerkschaften und Verbraucherorganisationen.

An eigenen Aktivitäten sind bisher angelaufen: der Aufbau eines Ethikschutz-Rechtsinformationssystems (Verfolgung der einschlägigen Rechtsprechung) und eines Ethikschutz-Rechtsberatungsnetzes, Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Herausgabe der obengenannten Broschüre »Wenn das Gewissen NEIN sagt«) und die Mitwirkung bei entsprechenden öffentlichen Tagungen.

Die nächste Tagung unter dem Titel »Wenn das Gewissen NEIN sagt« findet in Zusammenarbeit mit der Evangelischen und der Katholischen Akademie Mülheim/Ruhr mit Unterstützung weiterer Vereinigungen vom 31.10. bis 2.11. 1997 in Mülheim statt (Nähere Informationen bei der Katholischen Akademie »Die Wolfsburg«, Falkenweg 6, 45478 Mülheim/Ruhr).

Die Ethikschutz-Initiative (Seeoner Str. 17, 83132 Pittenhart) ist ein Projekt von INES (INESPE=INES Project to Protect and Promote Ethical Engagement). Es gibt einen Arbeitskreis Ethikschutz, der die Aktionen der Initiative plant und lenkt. Im Ausland (Ungarn, Schweden, Großbritannien) haben sich weitere Projektgruppen bzw. Kontaktstellen gebildet. Im Rahmen von INES wurde der »INES Whistleblower Fund« gegründet zur finanziellen Unterstützung von Gewissenstätern in besonders gravierenden Fällen.

Leider sind die Möglichkeiten der Initiative derzeit noch sehr begrenzt. Das Anliegen »Ethikschutz« muß sich erst noch in das öffentliche Bewußtsein einprägen und von dieser breiten Basis aus die Gesetzgebung beeinflussen, und zwar weltweit. Nur so können wirkliche Verbesserungen erzielt werden.

Dr. Günter Emde ist Sprecher der Ethikschutz-Initiative

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/3 Wahnsinn ohne Ende, Seite