W&F 2024/4

Soziale Verteidigung auf dem Prüfstand

Internationale Fachkonferenz, Kampagne »Wehrhaft ohne Waffen« u.a., online, 06.-07.09.2024

Soziale Verteidigung (SV) ist ein Ansatz der aktueller nicht sein könnte – und gleichzeitig heute eines der unbekanntesten Konzepte zur gewaltfreien Konfliktintervention überhaupt. Entwickelt im Nachklang der zwei Weltkriege und vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs sowie der eskalierenden atomaren Gefahren, ist er in den letzten 20 Jahren relativer innenpolitischer und europäischer »Stabilität« zunehmend in der Versenkung verschwunden. Wie kann ein solches Konzept reich an Potential für gesellschaftliche Konfliktintervention in die Aktualität zurückgeholt und an Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden?

Um sich mit dieser Frage intensiv zu beschäftigen und das wissenschaftliche Fundament der SV zu stärken, wurde im September 2024 die Online-Konferenz »Civilian-based defence put to the Test – Current Issues and practical Challenges« vom Bund für Soziale Verteidigung (BSV), der Kampagne »Wehrhaft ohne Waffen« (WoW) und dem Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung (IFgK) ausgerichtet.

Rund 70 Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen von allen Kontinenten und aus vielen Fachbereichen – von den Religionswissenschaften über Internationale Beziehungen bis zur Informatik – stellten zwei Tage lang Stärken und Schwächen des Konzepts der Sozialen Verteidigung zur Debatte und stellten sie so »auf den Prüfstand«. Der Fokus der Konferenz auf Formate, die Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen in Austausch brachten, verdeutlicht, dass Soziale Verteidigung als Konzept an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis zu verorten ist.

Dr. Mary Wallace setzte mit ihrer Keynote »Relationship-Building as Defense« eine anregende Hintergrundfolie für die Konferenz. Ihre zentrale These lautete, dass der Aufbau von Beziehungen sowohl für den langfristigen Erfolg gewaltfreier als auch bewaffneter Verteidigung von entscheidender Bedeutung sei. Leider schade die für bewaffnete Verteidigung erforderliche Gewalt ebendiesen für ihren Erfolg notwendigen Beziehungen, während die für die gewaltfreie Verteidigung erforderliche Gewaltlosigkeit die Pflege dieser Beziehungen erleichtere.

Alle Panels boten Raum für die Auseinandersetzung mit einer breiten Auswahl an Fragen. Insbesondere die Betrachtung aus wissenschaftlicher ebenso wie aktivistischer Perspektive erleichterte den Wissenschafts-Praxis -Transfer, der ein zentrales Anliegen der Konferenz war. Neben diesem inhaltlichen und personellen Netzwerk-Moment sollte ebenso die (inter-)disziplinäre Annäherung an das Thema vorangebracht werden. Der Erfolg an dieser Stelle ist insbesondere der mit viel Fingerspitzengefühl erfolgten Zusammensetzung von Themen und Beitragenden zu verdanken.

Ausgehend von einem Überblick zum aktuellen Wissensstand und biografischen Bezügen zur Entwicklungsgeschichte des Konzeptes, wurde in weiteren Beiträgen die Wirkungsentfaltung von Gewaltfreiheit untersucht. „Welche gesellschaftlichen und persönlichen Voraussetzungen müssen gegeben sein und wie, wo und warum wirkt Gewaltfreiheit?“ waren Fragen die hierbei ebenso verhandelt wurden, wie militärkritische und sicherheitspolitische Perspektiven, die insbesondere eine breite Debatte sicherstellten.

Im sehr gut besuchten Panel »Recent Experiences with Civilian-based defence« stellten Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen ihre Erfahrungen und Forschungsergebnisse zu kollektiven Schutz- und Verteidigungskonzepten aus der Ukraine, dem Sudan und Kolumbien vor und zeigten die Bandbreite an aktuell praktizierten zivilen Möglichkeiten und deren jeweiligen Herausforderungen auf. Während Felipe Daza zentrale Forschungsergebnisse seiner Studie zu zivilem Widerstand in der Ukraine seit März 2022 vorstellte, erläuterte María Cárdenas anschaulich die autonomen Schutzsysteme der Guardias in Kolumbien. Durch die Bildung unabhängiger, integraler Sicherheitssysteme praktizieren indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden kollektiven Selbstschutz, um das Leben und Überleben ihrer Gemeinden und Weltauffassung zu sichern.

Am Beispiel Sudans wiederum beleuchtete Julia Kramer, wie für die populäre Revolution 2018-2019 durch Nachbarschaftsräte (»revolutionary neighbourhood committees«) Netzwerke für gegenseitige Hilfe und andere Formen der organisierten kollektiven Fürsorge aufgebaut wurden – die nun angesichts der erneuten militärischen Eskalation im Land seit April 2023 einen wichtigen Beitrag zum autonomen Schutz der Bürger*innen leisten.

Spannend wird es nun an dieser Stelle sein, diese Impulse aufzugreifen und für hiesige Herausforderungen zu »übersetzen« bzw. von diesen zu lernen. Den Blick für nicht-eurozentrische Perspektiven und Erfahrungen zu öffnen, kann für die Aktualisierung der SV nur stärkend wirken.

In weiteren interdisziplinären Panels debattierten die anwesenden Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen unter anderem Fragestellungen zur Kopplung von SV mit Gewaltfreiheit oder einer Öffnung für einen im besten Sinne so verstandenen »vernetzten Ansatz« mit militärischer Gewalt, zur Auswirkung neuer IT- und Technikdimensionen (Künstliche Intelligenz, autonome oder »smarte« Waffen, usw.) auf mögliche zivile Widerstandsformen oder auch zu Lehren aus historischen Beispielen gewaltfreier Verteidigung.

Wenn Soziale Verteidigung sowohl als Denk- als auch als Handlungsrahmen ein angemessenes Angebot für aktuelle Herausforderungen wie z.B. Klimakrise und rechtspopulistische Regierungsverantwortung sein will, ist die Auseinandersetzung mit dem Umstand zentral, dass Theorie und Praxis unterschiedliche Aufgaben haben. Während die wissenschaftlich-theoretische Ebene darum ringt, angesichts neuer Herausforderungen für das Konzept der Sozialen Verteidigung deren Kern nicht zu verwässern, kann die Umsetzung in der Praxis nur erfolgen, indem Soziale Verteidigung methodisch breit gedacht wird. Dafür muss sie sich aktuellen Debatten stellen, nach ihrer Anschlussfähigkeit suchen und praxisorientierte Lösungen anbieten, statt immer gleiche Ideen zu wiederholen und so im Bereich des Idealismus zu verharren. Für eine solche neue Perspektive ist es notwendig, die eigene Lebenserfahrung (gesellschaftliche Positionierung) zu reflektieren, die als Ausgangsbasis für die Entwicklung von Ideen und Konzepten dient und kritisch zu prüfen, welche sozialen Gruppen dadurch berücksichtigt oder übersehen werden. Organising-Ansätze heranzuziehen, sowie Netzwerkbildung und den Aufbau von Fürsorgestrukturen voranzutreiben ist unabdingbar als Basis für eine Zivilgesellschaft, die zusammenhalten und gemeinsam widerständig sein kann – und machen sie zentral für eine zeitgemäße Definition Sozialer Verteidigung die nicht bspw. als »Prepping« missverstanden werden möchte.

Die Konferenz »Civilian-based defence put to the Test – Current Issues and practical Challenges« hat sich in diesem Sinne auch als ein Auftakt dazu verstanden, weitere Forschung zu Gewaltfreiheit, gewaltfreiem Widerstand und Aktion sowie zivilen Revolutionen interdisziplinär und international miteinander zu vernetzen, zu schauen, welche Themen und Begrifflichkeiten heutzutage anschlussfähig sind und in welchen Bereichen die Perspektive von SV einen Mehrwert zu gewaltfreier Konfliktbewältigung bieten kann.

Nele Anslinger

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/4 Eskalationen im Nahen Osten, Seite 67–68