SPD und Abrüstung. „Heute bewegen wir eine Menge“
Ein Interview mit Horst Ehmke (SPD)
von Horst Ehmke und Redaktion
Zu grundsätzlichen Fragen sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik nahm der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Horst Ehmke, in einem Gespräch mit dem Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Stellung. Ehmke bejaht das langfristige Ziel einer atomwaffenfreien Welt, skizziert zugleich die Schritte, die dahin führen können. Detaillierter äußert er sich zur Europa-Konzeption der SPD und zum Problem der französischen Atomwaffen.
W&F: In einer Rede zur Europäischen Sicherheit, Horst Ehmke, haben Sie kürzlich gesagt, daß - ich zitiere - „Westeuropa heute mehr für seine eigene Sicherheit tun kann und damit weniger abhängig von Amerika werden kann“. Muß man Ihre Formel von der „Selbstbehauptung Europas“ folglich als ein „Ja“ zu verstärkten Rüstungsanstrengungen in Europa auslegen?
Ehmke: Nein, denn zunächst einmal hängt ja Sicherheit nicht primär von Rüstung ab, sondern davon, daß man eine stabile Friedensordnung Scham, von der dann militärische Vorkehrungen nur ein Teil sind. Ein Beispiel: Europa ist heute noch auf die amerikanische Satellitenaufklärung angewiesen. Ich bin der Meinung, wir sollten in Westeuropa eigene Aufklärungssatelliten haben, um uns auch ein eigenes Bild machen zu können und nicht in diesem wesentlichen Gebiet, das ja Voraussetzung für alle Planungen ist, in dieser Form abhängig zu sein von Amerika. Also, Europa kann mehr für seine eigene Verteidigung tun, ohne daß das mehr Aufrüstung heißt Die Selbstbehauptung Europas meint übrigens auch, daß wir das europäische Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen müssen für eine positive Antwort auf das „Neue Denken“ von Michail Gorbatschow.
W&F: In Peking haben Sie auch davon gesprochen, daß es nicht um eine Auflösung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten geht, wohl aber um eine neue Verteilung der Aufgaben, der Verantwortung, der Lasten und der Einflußchancen. Wenn man sich jetzt die Diskussionen in den USA und in der NATO anschaut, dann geht dies alles in Richtung Verstärkung der Rüstungslasten der Westeuropäer und Ausweitung d es Engagements d er europäischen NATO-Staaten, Stichwort: „out-of-area“.
Ehmke: Das ist altes Denken, damit kommen wir nicht weiter. Europa bleibt abhängig von Amerika in zweierlei Beziehung: Wir sind ja nur der westliche Wurstzipfel von diesem euroasiatischen Kontinent und wir brauchen daher Amerika als geostrategisches Gegengewicht gegen die Kontinentalmacht Sowjetunion. Westeuropa, wie immer es sich anstrengt, ist auch nicht in der Lage, die für seine Rohstoffversorgung entscheidenden Internationalen Verbindungswege allein zu sichern. Dafür bleiben wir auf Amerika angewiesen. Aber das heißt nicht, daß wir in dem Maße von Amerika abhängig bleiben sollten wie bisher. Im übrigen ist die amerikanische Diskussion etwa in bezug auf das Abziehen amerikanischer Truppen schon sehr abgeflaut. Man hat inzwischen gerechnet und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß das teuerste ist, was man machen kann: Truppen aus Europa nach Amerika zurückziehen. Billiger als sie hier stationiert sind, kann man sie dort nicht stationieren. Wenn man sie zurückziehen würde, würde man sie vermutlich demobilisieren müssen und eben nicht zu einer weltweiten „Rapid Deployment Force“ zusammenziehen können. Diese Diskussion wird in den USA daher eher abnehmen. Was wir uns in dieser Situation fragen müssen, ist, was wir selbst auf konventionellem Sektor machen können. Stichwort: Der notwendige Umbau der Bundeswehr. Es ist weiter die Frage, wie kann man konventionelle Ressourcen, vor allem in deutsch-französischer Kooperation; besser nutzen. Dann muß man zu einer Übereinstimmung mit der Sowjetunion über konventionelle Truppenstärken und Optionen in Europa kommen. Ich glaube, die Chancen sind gut, weil auch die Sowjetunion weiß, daß das teuerste an der Rüstung die konventionellen Truppen sind. Da liegt unsere reale Chance und da kann eine stärkere Einflußnahme und stärkere Verantwortung der Europäer erreicht werden. Es geht um die Reduzierung konventioneller Streitkräfte auf beiden Seiten und um die Übernahme größerer Verantwortung durch die Europäer innerhalb dieses reduzierten Rahmens.
W&F: Noch einmal zum Stichwort „Neues Denken“: Könnte nicht eigentlich ein spezifischer deutscher Beitrag zu dieser Debatte über die Zukunft der Allianz sein, die gegenwärtige Umbruchssituation in den Ost-West-Beziehungen für eine grundlegendere Umorientierung zu nutzen? Weniger Geld für die Rüstung und die Verwendung der eingesparten Mittel für die Entwicklung der südlichen Hemisphäre und die Lösung der globalen Probleme (...)
Ehmke: Das ist genau unsere Politik. Durch die Politik von Michail Gorbatschow ist jetzt eine neue Möglichkeit gegeben. Wir müssen auf diese Fragen eine konstruktive, gemeinsame Antwort geben. Schade, daß die Bundesregierung hier nicht aktiver ist. Wir sind der Meinung, man soll Gorbatschow testen und nicht neue Raketen.
W&F: Im neuen Entwurf ihrer außenpolitischen Leitlinien fordert die Union eine westeuropäische Sicherheitsunion, in die Frankreich und Großbritannien ihre Atomstreitkräfte einbringen. Auch dies unter dem Vorzeichen, Stärkung des westeuropäischen Pfeilers in der NATO. Steht uns da eine westeuropäische Atomstreitmacht ins Haus?
Ehmke: Ich halte von einer europäischen Streitmacht in dem Sinne, daß die Deutschen die Finger an die französischen oder englischen Atomdrücker kriegen, überhaupt nichts. Ich bin der Meinung, die Tatsache, daß wir keine Atomwaffen haben, daß wir schon unter Adenauer auf Atomwaffen, auf biologische und chemische Waffen verzichtet haben, stellt eine außenpolitische Stärke und keine Schwäche dar. Wir müssen an diesem Status festhalten, so wie er auch im internationalen Recht festgeschrieben ist.
W&F: Die Bundesregierung wird von Ihnen des öfteren gelobt wegen der intensiven Kooperation mit Frankreich. Die bisherigen Umrisse dieser Zusammenarbeit lassen sich unter eher unfriedlichen Stichworten subsumieren: Verteidigungsrat, deutsch-französische Brigade, Einbeziehung der Bundesrepublik in die nukleare Verteidigungsplanung Frankreichs und intensivere Rüstungskooperation. Entwickelt sich die deutsch-französische Freundschaft zu einer Waffenbrüderschaft?
Ehmke: Diese Gefahr ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber mit den Sozialisten an der Regierung in Paris werden wir auch in der Beziehung Fortschritte machen können. Wir brauchen eine deutsch-französische Übereinstimmung über den Rahmen einer militärischen Zusammenarbeit hinaus. Es geht um den Versuch der Herstellung struktureller Angriffsunfähigkeit beider Seiten in Europa. Das tritt bei den heutigen konservativen Positionen in Bonn eher in den Hintergrund. Dann muß man sehen, daß Frankreich, und zwar quer durch die Parteien, eine völlig andere Einstellung zu Atomwaffen hat als wir, und man kann sagen, daß es in zunehmendem Maße seine konventionellen Streitkräfte - schon von der finanziellen Seite her - zugunsten seiner atomaren vernachlässigt. Dabei spielen die Kurzstreckenraketen der Franzosen, die sie „prästrategische“ Waffen nennen, eine besondere Rolle. Wir halten nichts von französischen Waffen, die im Ernstfall auf deutschem Boden eingesetzt würden. Ein Angreifer wird ja nicht dadurch abgeschreckt, daß man das Land der eigenen Verbündeten zerstört. Wir sind für eine Abschaffung der „prästrategischen Waffen“. Ich halte die Idee eines nuklearen „Warnschusses“ um zu zeigen, daß man es ernst meint, auch militärisch für sinnlos. Das ist fast ein solches Sandkastenspiel wie die NATO-Theorie von der „Eskalationsdominanz“. In Wirklichkeit würde in einem Kriege in wenigen Minuten entschieden werden müssen, nach dem ersten Atomwaffeneinsatz, ob man versucht, die Atomwaffen der anderen Seite auszuschalten. Man würde vermutlich in einer Krise, in einer Panik, Entscheidungen in Minutenkürze erleben über Präemptionsschläge und Prä-Präemptionsschläge. Die Idee, nun schießen wir erst mal ein bißchen nuklear und dann werden sich die Russen das überlegen, und wenn nicht, dann legen wir noch ein bißchen zu, ist und bleibt ein Sandkastenspiel.
W&F: Sehen das die französischen Sozialisten genauso?
Ehmke: Wir reden unseren französischen Freunden sehr zu, nicht die Pluton-Raketen durch Hades zu ersetzen, sondern die Hades gar nicht mehr zu bauen. Ich glaube, dazu beginnt sich in Frankreich eine Diskussion zu entwickeln. Ich hoffe, wir kommen von den „prästrategischen“ Waffen der Franzosen weg. Das wäre ein großer Fortschritt.
Es gibt in Frankreich aber noch andere Diskussionen. Die einen sagen, wenn wir die prästrategischen Waffen wegnehmen, dann konzentrieren wir uns ganz auf die U-Boote. Von dem französischen (und britischen) Standpunkt: Solange nicht die beiden Großmächte wirklich massiv runtergehen mit ihren Arsenalen tun wir gar nichts, wir modernisieren sogar noch unsere Arsenale - von dem müssen wir notgedrungen zunächst ausgehen. Am Ende aber müssen auch diese Waffen in Rüstungskontrolle und Abrüstung einbezogen werden.
W&F: Im Moment stehen aber auch die Zeichen hier eher auf Modernisierung.
Ehmke: Richtig. Es gibt eine Strömung in Frankreich, die wie in Deutschland der Meinung ist, wenn man die prästrategischen Waffen wegtut, dann braucht man nukleare Abstandswaffen. Das würden flugzeuggetragene Marschflugkörper sein. Wir kämpfen hierzuhause gegen diese Richtung und wir sind auch dagegen, daß Frankreich das macht, weil das einen neuen Rüstungswettlauf auslösen würde. Die Sowjets würden dann entsprechende Flugzeuge so ausrüsten, und es würde gleichzeitig, das ist auch längst in der Planung der Hardthöhe, ein Wettlauf beginnen mit Anti-Raketen-Raketen: Ein europäisches EVI oder ATBM. Dies darf nicht geschehen. Es reicht, solange es Atomwaffen gibt, nicht nur aus, was im Westen danach noch an Atomwaffen da ist. Beide Seiten haben auch dann noch viel zu viel.
Statt in einem zusätzlichen Bereich einen neuen Rüstungswettlauf zu beginnen, soll man versuchen, im Abbau der noch vorhandenen Potentiale weiterzukommen.
Dann kommt die eigentliche Frage der deutsch-französischen Zusammenarbeit: die liegt im konventionellen Bereich. Alles das, was an Truppen, an Reserven in Frankreich und Deutschland steht, hat drei große Vorteile gegenüber den Amerikanern. Erstens: Wir entscheiden selbst darüber und nicht die Amerikaner. Zweitens: Sie stehen schon auf dem Kontinent und brauchen nicht erst herübergeflogen zu werden. Das ist nämlich eine verwundbare Riesenoperation. Drittens: Die Leute kennen sich auf dem Kontinent aus.
Wir müssen also in vier Punkten mit den Franzosen einig werden: Gemeinsame Entspannungs- und Abrüstungspolitik für Europa, Definition über die eurostrategische Rolle der französischen U-Boot-Raketen, solange diese noch nicht in die Abrüstungsverhandlungen einbezogen werden, Abschaffung der prästrategischen Waffen und kein Ersatz durch luftgestützte Marschflugkörper. Schließlich enge Kooperation im konventionellen Bereich, aber nicht in der Art der deutsch-französischen Brigade. Das ist eine bloße Symbolhandlung, ohne ausbaufähige praktische Bedeutung.
W&F: Noch einmal zur konventionellen Zusammenarbeit mit Frankreich. Da entstehen doch eine ganze Reihe von militärischen Vernetzungen, die zusätzlich zur Struktur der NATO hinzukommen. Ist das nicht ein Hemmschuh für die auch von der Sozialdemokratie vertretene Forderung nach der Überwindung der Blöcke?
Ehmke: Nein, das müßte es nicht sein. Es ist ja nicht so, daß Frankreich völlig neben der NATO steht, sondern ein großer Teil der französischen Verteidigung ist integriert, ein Teil der Versorgungsnetze. Und außerdem ist es so, daß es eine enge Zusammenarbeit zwischen dem französischen Generalstab und den NATO
Stäben gibt. Man könnte sich, wenn der europäische Pfeiler ausgebaut wird, ein anderes Bild vorstellen: Es gibt eine integrierte europäische Streitkraft mit einem europäischen Oberbefehlshaber an der Spitze, und die Koordinierung mit den amerikanischen Streitkräften erfolgt im Bereich des Bündnisses. Wir integrieren alle Europäer und machen dann eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern. Das wäre möglich, vielleicht sogar notwendig, wenn die Amerikaner reduzieren würden, was im Augenblick nicht zur Debatte steht, aber irgendwann kommen wird.
Schon heute hätten wir gerne eine klare Scheidung zwischen NATO-Oberbefehlshaber und dem Befehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa. Wir sehen das nicht gerne, wenn US-Bombenangriffe auf Libyen von europäischem Boden aus geflogen werden, unter dem Kommando desselben Mannes, der Oberbefehlshaber der NATO in Europa ist, der dann eben nur den nationalen amerikanischen Hut aufsetzt. Wir wollen nicht in Gefahr geraten, automatisch in amerikanische Dinge reingezogen zu werden, die wir gar nicht wollen, die wir vielleicht sogar, wie den Angriff auf Libyen, für falsch halten und über den auch im Bündnis keine gemeinsame Willensbildung stattgefunden hat. Also, man konnte das umbauen. Aber das wäre ein langwieriger Prozeß.
W&F: In der Friedensbewegung wird immer vehementer die Forderung nach der Denuklearisierung Europas erhoben. Es gibt ein erhebliches Mißtrauen gegenüber den ständigen Beteuerungen der Politik, die behauptet, daß sie keine nuklearen Ambitionen hege. Das ist inzwischen in die Forderung nach einer atomwaffenfreien Bundesrepublik und nach einem Atomwaffenverzicht ins Grundgesetz gemündet. Könnten Sie sich solchen Forderungen anschließen?
Ehmke: Mit Forderungen allein läßt sich keine Politik machen. Die SPD geht an diese Problematik anders heran: Wir wollen eine Entspannungspolitik, eine konventionelle Nichtangriffsfähigkeit und atomare Abrüstung in Europa und in der Folge gemeinsame Sicherheit für unseren Kontinent. Wir sind daher für eine Null-Lösung auch bei Kurzstreckenraketen und bei Gefechtsfeldwaffen und für eine Einigung über konventionelle Stabilität. Wenn das verwirklicht ist, dann hat man zunächst einmal ein Europa, in dem die Staaten, die selbst nicht Atommächte sind, keine Atomwaffen mehr auf ihrem Boden haben, und das wäre ein wirklicher Fortschritt.
Ich sehe einen Unterschied zwischen den Forderungen der Friedensbewegung und denen der SPD: Die Forderungen, alle Atomwaffen aus Europa abzuziehen, ohne zu sagen, in welchem Rahmen und unter welchen Bedingungen, ist mir zu fundamentalistisch. Wir sagen, daß dieser Zustand nur das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses zwischen Ost und West sein kann, in den eines Tages auch die französischen und britischen Nuklearwaffen einbezogen werden müssen. Bloß zu sagen, wir wollen eine nuklearwaffenfreie Welt, nützt leider gar nichts, wenn man nicht die nächsten Schritte aufzuzeigen in der Lage ist. Ich glaube, im gemeinsamen Ziel sind wir uns einig - der Nürnberger Parteitag der SPD hat das Ziel der nuklearwaffenfreien Welt bekräftigt. In dem Aufzeigen der Schritte zu diesem Ziel unterscheiden wir uns.
W&F: Wie war das mit dem „Atomwaffenverzicht ins Grundgesetz“? Halten Sie das für bloße Symbolik?
Ehmke: Nein. Ich hätte nichts dagegen, wenn das so wäre. Ich will keine deutschen Atomwaffen, auch keinen deutschen Finger an anderer Leute Atomwaffen. Nur bitte ich folgendes zu bedenken: Wir haben einen Zustand, in dem Deutschland durch Verträge, wie WEU-Vertrag und Nichtverbreitungsvertrag, sowie durch einseitige Erklärungen völkerrechtlich gebunden ist, damit auch nach Innerstaatlichem Recht. Wir sind ein Staat, der sich international verpflichtet hat, ABC-waffenfrei zu sein. Meine Sorge ist, daß das, was jetzt aus verständlichen Gründen erwogen wird, den Eindruck erweckt, wir seien gar nicht gebunden. Der Bundeskanzler hat einmal gesagt, die Mitgliedschaft, die Zugehörigkeit zum westlichen Bündnis sei unsere Staatsräson. Die Meinung teile ich nicht Ich stelle dagegen: Die Bundesrepublik als atom-, biologie- und chemiewaffenfreies Land - das ist unsere Staatsräson.
Was wird nun mit einem Antrag der von Ihnen erwähnten Art, wenn er ins Parlament kommt, passieren? Er wird im Bundestag und im Bundesrat nicht die notwendige Zweidrittel-Mehrheit finden, und dann wird man sagen: Na gut, wir sind ja gar nicht gebunden. Man erreicht also in einer Sache die ich teile, etwas politisch Bedenkliches. Wir sollten in dieser Auseinandersetzung stärker den Schwerpunkt darauf legen, den Nichtverbreitungsvertrag zu verlängern und zu verbessern. Wenn es dort irgendwelche Zweifel gäbe, daß neuere Entwicklungen nicht abgedeckt würden durch den WEU- und den Nichtverbreitungsvertrag etc., dann sollten wir die Lücke sofort schließen. Die Sozialdemokraten haben entsprechende Anfragen an die Bundesregierung gestellt. Sie soll erklären, wie sie die Bindung sieht. Das ist für mich ein interessanter Punkt in der Diskussion, weil ich im Endergebnis der Meinung bin, wenn wir nicht schon international gebunden wären, wenn das nicht zu meinem Selbstverständnis der Bundesrepublik gehören würde, würde ich es morgen unterschreiben. Ich fürchte nur, es ist eine Aktion, die sieht gut aus, es läßt sich auch ein bißchen mit ihr mobilisieren, hinterherkommt dann, wenn der Antrag abgelehnt wurde, der psychologische countdown. Zusammengefaßt: Die Intention ist richtig, aber in der Operation könnte es ein Bumerang werden.
W&F: Ein kritisches Resümee der Diskussion über sicherheitspolitische Fragen hat Anfang Februar der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Abrüstung und Rüstungskontrolle der SPD im Bundestag, Hermann Scheer, vorgelegt, und in einem internen Diskussionspapier hat er die Position der Partei zur atomaren Abschreckung massiver Kritik unterzogen. Scheer argumentiert, es sei bisher offen geblieben - Zitat -, „ob und in welcher Weise und wie lange wir noch am Abschreckungsprinzip festhalten sollten“, folglich habe die SPD Schwierigkeiten „bei der Formulierung einer Abrüstungsstrategie und in der Frage, ob ein Junktim zur Frage der konventionellen Abrüstung bestehen soll“.
Ehmke: Meines Erachtens stellen sich die Dinge anders dar. Zunächst einmal ist die Frage, will man als Endziel eine atomare Minimalabschreckung oder eine atomwaffenfreie Welt. Die SPD hat die Frage in Nürnberg klar beantwortet Wir wollen das letztere. Ronald Reagan und Michail Gorbatschow versichern uns jetzt, das man dazu auch kommen kann. Schön. Nun kommt aber die Frage, kann man die atomwaffenfreie Welt tatsächlich erreichen, und wie? Wir reden ja nicht über eigene Waffen, sondern über die der Großmächte und die anderer Länder. Die reale Entwicklung ist, daß wir heute nicht fünf Atommächte haben, sondern neun oder zehn, denn Israel, Pakistan, Indien und Südafrika dürften die Bombe auch haben, und die umstrittene Ikle-Kommission hat festgestellt, im Übergang zum nächsten Jahrtausend dürfte die Zahl der Länder, die Atomwaffen produzieren können, auf 40 steigen. Was übrigens unter anderem daran liegt, daß durch den Ausbau der zivilen Atomenergie große Mengen spaltbaren Materials „anfallen“, siehe ALKEM, NUKEM. Über unser Endziel, eine atomwaffenfreie Welt, entscheiden wir also nicht allein. Dazu brauchen wir Mehrheiten in unserem Land, dazu brauchen wir Mehrheiten in den USA, Mehrheiten im Bündnis, dazu brauchen wir Verständigung zwischen Ost und West. Wir müssen also nach dem nächstmöglichen Zwischenschritt auf dieses Ziel hin fragen. Der muß jetzt sein, herauszukommen aus der Rolle von Atomwaffen als Kriegsführungswaffen, weg mit den Gefechtsfeldwaffen, weg mit den nuklearen Bomben, weg mit Kurzstreckenraketen aus Europa.
Nicht nach diesem komischen Wort, „je kürzer die Raketen, desto toter die Deutschen“. Das halte ich für deutsche Larmoyanz. Die geht mir auf den Geist. Die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen, die Holländer, die Belgier, die hier mit ihren Familien stehen, die sind alle gleich bedroht. Nein: Es war ein grundsätzlicher Fehler des Westens (und dann des Ostens), unter dem Motto der flexible response sich in immer kleinere Atomwaffen zu flüchten. Die müssen zunächst mal weg. Eine weitere Gefahr sehe ich im Abbau des Nichtverbreitungsregimes. Das ist gefährdet, da darf man sich nichts vormachen. Die reale Entwicklung ist: während die Großen endlich anfangen, abzurüsten, rüsten die Kleinen auf. Je eher sich die Großen darüber einigen, die Atomwaffen aus ihrer Rolle als Kriegsführungswaffen herauszunehmen, um so eher wird es politisch wie moralisch möglich sein, den Nichtverbreitungsvertrag doch noch zu retten.
Es könnte, weil so viele Zwischenstufen notwendig sind, der Eindruck erweckt werden, als ob wir es mit dem Abrücken von den Atomwaffen und der auf sie gestützten Abschreckung nicht so ernst meinen, es nicht so eilig haben. Das ist nicht der Fall, wir müssen aber die verhandlungspsychologischen und politischen Realitäten in Rechnung stellen. Es hat wenig Sinn, stattdessen Grundsatzstreite zu fahren. Wir müssen einen mehrere Etappen umfassenden Prozeß organisieren, der von Mehrheiten getragen wird.
W&F: Haben Sie in Peking nicht das Ziel der Minimalabschreckung stärker gewichtet gegenüber dem Ziel der Atomwaffenfreiheit?
Ehmke: Ich habe es dort als „ehrgeiziges Zwischenziel“ bezeichnet
W&F: Das ist aber doch der Ausgangspunkt der Abschreckungsstrategie gewesen. Unabhängig davon, daß Minimalabschreckung ein etwas schwammiger Begriff ist; kommt man da nicht wieder in die Situation, die zum Zeitpunkt des Übergangs zur flexible response bestand, wo man geglaubt hat, das Atomwaffenarsenal immer weiter verfeinern zu müssen?
Ehmke: Das war der große Irrtum. Das war genauso falsch wie das MIRVen. Die Ausrüstung von Raketen mit mehr Sprengköpfen war damals der Weisheit letzter Schluß. Heute weiß man, daß das Quatsch war, weil man nämlich mit einem Sprengkopf eine Rakete mit zehn Sprengköpfen vernichten kann. Das MIRVen zielte auf den Erstschlag. Und so wie das falsch war, so war auch die ganze Miniaturisierung falsch. Ich will noch einmal sagen, warum ich so auf dieses Zwischenziel setze: Weil ich Angst habe - auch wieder ein Teil der Diskussion mit der Friedensbewegung -, daß, wenn wir uns jetzt verzetteln in der Frage, ob eine Null-Lösung für alle Atomwaffen heute in dieser Welt zu erreichen ist, wir die Kraft wegnehmen für die nächsten Schritte, die ich gerade skizziert habe. Die Forderung nach der atomwaffenfreien Welt ist richtig. Aber es ist - so sehe ich es - eine Frage, die wir heute gar nicht beantworten können. Zu meinen Lebzeiten wird das jedenfalls nicht mehr entschieden. Jetzt müssen wir zunächst raus aus der Rolle der Atomwaffen als atomaren Kriegsführungsmitteln.
W&F: Zu einem anderen Feld der SPD-Sicherheitspolitik. In dem Positionspapier Ihrer Fraktion zur Bundeswehrplanung von April 1988 wird auf den Beschluß des Nürnberger Parteitages verwiesen, der eine Begrenzung des Verteidigungshaushaltes auf 18 4 % des Gesamthaushaltes vorsieht. Es heißt dort auch weiter, daß auch bei einer Umrüstung, Umorientierung auf strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und Vereinbarungen im Rahmen der konventionellen Rüstungskontrolle Einsparungen ehestens langfristig zu erwarten sind. Ist es nicht ein etwas bescheidenes Programm, hier am Status quo festzuhalten?
Ehmke: Das Problem, wann sich bei einer Umstellung auf strukturelle Angriffsunfähigkeit und bei einer Reduzierung der Streitkräfte wesentliche Einsparungen ergeben würden, ist wirklich vorsichtig zu beantworten. Die Umstellung kostet einen Haufen Geld. Sie müssen folgendes überlegen: wenn wir nicht bei unserer 500.000-Mann-Armee bleiben, sondern auf etwa 400.000 gehen, werden wir in stärkerem Maße auf Reservisten zurückgreifen und die aus der Wirtschaft herausholen müssen. Das ist eine teure Geschichte. Auch bei Zeitsoldaten, deren Zahl angehoben werden soll, konkurrieren Sie mit der Wirtschaft. Das wirft also eine Menge Probleme auf Wir möchten nicht die Illusion erwecken, mit der Überführung der Entspannungspolitik in eine wirkliche Abrüstungspolitik würden wir auf der Stelle zusätzliche Mittel freikriegen und der Einzelplan 14 könnte als eine Art Steinbruch für andere Dinge benutzt werden. Realistischerweise muß man leider sagen, daß das erst nach der Umstellung zu Buche schlagen kann. Ich glaube, es ist ehrlich, dies zu sagen.
W&F: Die ganzen Entwicklungen, die Sie skizziert haben, die man auch in die Formel von der zweiten Phase der Entspannungspolitik gegossen hat, setzen doch den Bruch mit der Abschreckungslogik voraus. Und die hat die NATO gerade erst wieder in einer Reihe von Konferenzen als Essential westlicher Sicherheitspolitik bekräftigt. Der ganze Modernisierungsprozeß der taktischen Nuklearwaffen beinhaltet das Beharren auf der Abschreckung. Können Sie sich für die sozialdemokratische Konzeption überhaupt einen Konsens innerhalb des Bündnisses vorstellen. Die sozialistischen Staaten scheinen dazu ja bereit zu sein. Das zeigen die Ergebnisse der Arbeitsgruppen der SPD mit den kommunistischen Parteien. Aber die Amerikaner gehören ja auch dazu, oder?
Ehmke: Wir haben ja nicht nur Arbeitsgruppen mit Osteuropa. Wir arbeiten vor allem mit unseren Freunden im Westen zusammen und es ist z.B. erstaunlich, wie wir in den letzten Jahren dort innerhalb der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien auf gemeinsame Plattformen gekommen sind. Für die konservative Presse ist es natürlich immer schöner zu sagen, was wir mit den Kommunisten besprechen, als das, was wir im eigenen Lager besprechen. Es war ein harter Kampf, bis wir uns mit der Entspannungspolitik Willy Brandts durchgesetzt hatten. Ich kann Ihnen zuhause noch einen Schuhkarton mit „Femeurteilen“ zeigen, in denen ich wegen „Verrats“ und „Preisgabe deutschen Bodens“ zum Tode verdammt worden bin. Ich habe das nicht vergessen. Es gab damals drei Parteien, die gegen die Helsinki-Schlußakte waren, die albanischen Kommunisten, die italienischen Neofaschisten und die deutschen Christdemokraten. Mein Eindruck ist, daß wir mit unserem Konzept der Gemeinsamen Sicherheit, die so viel Vertrauen schafft, daß sich keiner vom anderen bedroht fühlt, schneller vorangekommen sind als seinerzeit mit unserem Konzept der Entspannungs- und Ostpolitik. Der Durchbruch war damals viel schwieriger. Heute bewegen wir eine Menge. Mit genügend Unterstützung, gerade auch von der Friedensbewegung, können wir es schaffen.
W&F: Wir danken für dieses Gespräch.