W&F 1988/2

Statt „Modernisierung“ Entmilitarisierung

Aktionskonferenz der Friedensbewegung 7./8.5. in Tübingen

von Mechtild Jansen

Das INF-Abkommen markiert eine neue Etappe der Auseinandersetzung um die Sicherheits- und Friedenspolitik. Die große Kontroverse und so scharfe wie tiefe innergesellschaftliche Richtungsdebatte um die Nachrüstung ist vorläufig abgeschlossen. Die Situation in den USA und allemal in der UdSSR ist von einer veränderten Interessenslage und veränderten politischen Kräfteverhältnissen gekennzeichnet. Rüstungsreduzierung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und politische Konfliktlösungen sind mehr als bislang denkbar und möglich.

In der Bundesrepublik ist es der konservativ geführten Bundesregierung nicht gelungen, hinter den außenpolitischen Status quo der 70er Jahre, geprägt durch die „Ostpolitik“ Willy Brandts, zurückzugehen. Gegenwärtig modernisiert die CDU (in einem der letzten Politikbereiche) ihre Außen- und Sicherheitspolitik und paßt sie dem veränderten gesellschaftlichen Bewußtsein an. Die SPD hat ihr eigenes Abweichen von der einstigen „Entspannung“ korrigiert und dieses Konzept in seiner politischen wie abrüstungsmäßigen Dynamik weiterzuentwickeln versucht. Keine dieser Entwicklungen ist frei von Widersprüchlichkeiten.

Für die Friedensbewegung ist eine Etappe ihrer Arbeit abgeschlossen, in der sie gegen eine qualitativ neuartige akute militärische Bedrohung aufgestanden ist. Es war ein gesellschaftliches Aufbäumen und Reflektieren dessen, was die herrschende Politik über die Köpfe der Menschen hinweg vollzog. Die Friedensbewegung steht nun neu vor der Frage ihres eigenen Selbstverständnisses, verknüpft mit der Frage, ob sie eine politische Zeit- oder Dauererscheinung von eigenständigem Gewicht sein wird.

Vor uns liegt eine langandauernde Phase der Durchsetzung einer Tendenz zur Abrüstung. Sie gibt es bislang nur punktuell, ihre Ausgangsbedingungen sind jedoch deutlich positiver. In dieser Auseinandersetzung kann die Friedensbewegung Motor sein, wenn sie präsent, wendig, offen, argumentierend, eingreifend und herausfordernd gegenüber Öffentlichkeit, allen Parteien Parlament und Regierung ist. Die Bundesregierung hat sich in einigen Fragen differenzierter als bislang geäußert. Zu entsprechendem Handeln kommt sie erfahrungsgemäß nur unter dem Eindruck zwingender gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Konkret gefragt sind der Abbau der Kurzstreckenraketen, luft- und seegestützten Atomraketen und keine „Modernisierung“, der Verzicht auf Nuklearwaffen und die Zustimmung zu nuklearfreien Zonen, konventionelle Reduzierung, Kooperation in Europa anstatt des Aufbaus eines 2. NATO-Pfeilers im Rahmen „westeuropäischer Integration“.

Es reicht jedoch nicht aus, wenn die Friedensbewegung auf die herrschende Politik bloß reagiert oder sich allein gegen einzelne Waffensysteme wendet. Sie braucht eigene Gestaltungsmacht und eigene Maßstäbe, an denen sie ihr tagespolitisches Agieren mißt. Wenn es die Friedensbewegung in der Vergangenheit geschafft hat, den Konsens über die Abschreckungspolitik zu brechen und ihr die Zustimmung zu entziehen, dann geht es heute darum, eine positive Alternative an ihre Stelle zu setzen. Es wäre neuer politischer Vorlauf zu gewinnen, neues Holz ins Feuer zu legen, um dabei zugleich auf die wirksamste Weise allen Versuchen einer Modernisierung und Wiederverankerung des Abschreckungskonzeptes zu begegnen. Wie die Völker in ihrer Bewegung Politik gegen „Nachrüstung“ und Abschreckung gemacht haben, so wäre es heute für eine Alternative der Entmilitarisierung, Kooperation und des demokratischen Wettbewerbs zu tun. Wenn wir für eine positive Alternative eintreten wollen, so stellt sich auch die Frage nach unserer konkreten Utopie vom Frieden. Welchen Frieden wollen wir? Wer Gewalt aus den internationalen Beziehungen beseitigen will, muß nach ihren Ursachen fragen und wie ihnen zu begegnen ist. Unsere Kraft ist dort sinnvoll angebracht, wo es um die Schaffung von Verhältnissen geht, die allen Menschen umfassende Sicherheit erlauben. Die Utopie eines gerechten, gleichen und unteilbaren Friedens schließt ein, für gleiches Menschenrecht für alle, den Schutz der Natur, alternative Energien, das Recht auf Erwerbsarbeit und Kultur, Beseitigung von Hunger und Krankheit und für die Gleichheit der Geschlechter und Rassen einzutreten.

Die Friedensbewegung als Bewegung von unten – ohne unmittelbaren Einfluß auf Regierungshandeln – will dazu einen Prozeß des sozialen Lernens initiieren. Sie setzt auf langfristige Bewußtseins- und Verhaltensänderungen durch aktive Auseinandersetzung mit den Problemen, die die Menschen bedrücken. Wer das will, braucht mehr Bürgerrechte, Selbstbestimmung und Demokratie.

Die Menschen neu zu motivieren und zu bestärken, selbst zu handeln und einzugreifen, dazu kann die Friedensbewegung im Herbst neue Impulse geben. Neben Informations- und Aktionskampagnen zu den neuen militärischen und politischen Entwicklungen ist es an der Zeit, politisch gebündelt in einer bundesweiten Aktivität ein alternatives politisches Konzept zur Friedenssicherung einzufordern und allen „Modernisierungsbestrebungen“ eine Absage zu erteilen.

Das könnte zugleich Ausgangspunkt vielfältiger neuer Aktionsformen wie Zukunftswerkstätten, Städtepartnerschaften, Treffen der Völker zum Bau eines europäischen Hauses, Initiativen zur Schaffung von Freundschaftsbündnissen, Bau von Friedenshäusern u.ä.m. – sein, die ein Netzwerk gemeinsamer Arbeit an und für eine positive Friedensvorstellung in Verbindung mit dem tagespolitischen Eingreifen der Friedensbewegung erlauben.

Mechtild Jansen ist Sprecherin des Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1988/2 Einblicke: Ist SDI tot? Plant die NATO neue Aufrüstung?, Seite