W&F 2007/1

War on Terror:

Stimmen aus der arabischen Öffentlichkeit

von Carmen Becker

Die arabische Medienlandschaft ist genauso verwirrend und vielfältig, wie die in anderen Ländern. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die arabischsprachigen Angebote zum »war on terror« im Internet, in den audio-visuellen und den Printmedien. Die Autorin beschränkt sich bei ihrer Darstellung des Umgangs mit dem Kampf gegen den Terrorismus in der arabischen Öffentlichkeit auf die arabischen Nachrichtensender, allen voran al-Jazeera als beliebtester Sender mit den insgesamt höchsten Einschaltquoten. Diese Sender bilden den Kern einer politisierten arabischen Öffentlichkeit, in der Argumente ausgetauscht und um Definitionen sowie Interpretationen gerungen wird. Um die Darstellung des Themas »war on terror« und die Diskussionen um dieses Thema in der arabischen politischen Öffentlichkeit besser einordnen zu können, befasst sie sich zunächst mit dem Selbstverständnis dieser Öffentlichkeit. Anschließend geht sie auf die Wortwahl der Berichterstattung über Terrorismus ein und wirft einen Blick in die diskursiven Felder, die in den Fernsehdebatten zum Thema dominieren.

Das Selbstverständnis arabischer Zuschauer und auch vieler Produzenten arabischsprachiger Satellitenprogramme – jenseits des Unterhaltungssegements – wird in einer Aussage im Hizbullah-Sender al-Manar1 deutlich: Die USA bekämpfen jedes freie Medium, das nicht ihre Politik in der Region propagiert. Al-Manar vertritt die arabische Straße und ist ein Echo der Sorgen arabischer Bürger. Das stört die Amerikaner und die zionistische Lobby.“2

Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung ist überzeugt, dass sie al-Jazeera und Co brauchen um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und dem »amerikanischen bzw. westlichen Projekt« etwas entgegen zusetzen. Auch diejenigen, die wenig für Verschwörungstheorien übrig haben, konzidieren, dass eine unabhängige arabische Stimme als Alternative sowohl zu den westlichen als auch zu den arabischen staatlich zensierten Medien unbedingt geboten ist.

Arabische Gegenöffentlichkeit zur westlichen Dominanz?

Das Misstrauen gegenüber westlichen Medien, obwohl diese fleißig konsumiert werden, ist groß. Sie werden in weiten Kreisen der arabischen Öffentlichkeit als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit – oder weniger taktvoll als Propagandainstrument – des »Westens« wahrgenommen. Dieser Subtext untermalt sämtliche Diskussionen in der arabischen politischen Öffentlichkeit und ist die gängigste Schablone, vor deren Hintergrund internationale und regionale Ereignisse wahrgenommen werden, auch der »war on terror«.

Dabei schien sich mit dem Aufkommen der transnationalen arabischen Satellitensender Anfang der 1990er Jahre zunächst aus der Sicht des so genannten Westens ein neuer Verbündeter für Demokratisierung aufzutun. Man versprach sich dadurch eine Befreiung von Regierungskontrolle, ein Aufbrechen staatlicher Medienmonopole und in der Folge einen Demokratisierungsschub in den arabischen Gesellschaften. 1996 trat al-Jazeera als erster arabischsprachiger reiner Nachrichtensender mit der berühmten Prämisse auf die Bühne: „Die Meinung und die andere Meinung“. Al-Jazeera beanspruchte für sich, professionell auf Arabisch und mit einem arabischen Blick aus der Region sowie über außerregionale Ereignisse zu berichten und dabei alle Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Der Sender transformierte die arabische Medienlandschaft durch seinen dezidiert politischen Fokus im Gegensatz zu den herrschenden Entertainmentsendern und trat zu einer Zeit auf, als die staatliche Kontrolle über die meisten nationalen Medien wieder zunahm. Mittlerweile sind zahlreiche Nachrichtensender bzw. Sender mit gemischten Unterhaltungs- und Nachrichtenanteilen entstanden. Al-Jazeera hat inzwischen scharfe Konkurrenz von al-Arabiya bekommen und auch das religiöse Segment erfreut sich großer Beliebtheit. Zu letzterem zählen neben dem bereits eingangs erwähnten Nachrichtensender al-Manar mit Standort in Beirut, auch Sender wie Iqraa3 aus Ägypten.

Die Entwicklung des arabischen Satellitenfernsehens zog eine Restrukturierung des kommunikativen Raums nach sich. Stil und Struktur der öffentlichen Diskussionen veränderten sich rapide. Es ist fast unmöglich, den Talkshows im arabischen Fernsehen zu entkommen. Die Debatten sind offen, überwiegend nicht aufgezeichnet, enthalten die unterschiedlichsten Positionen und sind im Verlauf nicht vorhersagbar. Es ist für Teilnehmer (oder Moderatoren) an Talkshows, Live-Interviews und Fernsehdebatten unmöglich, Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig finden sich die Kommunikationsformen in einem neuen Verhältnis zur politischen Organisation sowie Artikulation wieder. Die arabischen Zuschauer erfahren oft zum ersten Mal, was politische Partizipation in Form von Meinungsäußerung bedeuten kann. Nicht umsonst sind gerade Talkshows mit der Möglichkeit, ungefiltert über Telefon seine Meinung zu äußern oder über bestimmte Fragen abzustimmen, besonders beliebt.

Allgegenwärtig – vor allem auf al-Jazeera – sind die »polarization entrepreneurs«, diejenigen, die jede Talkshow mit diametral entgegengesetzten Meinungen versorgen. Nicht zufällig heißt die beliebteste Diskussionssendung auf al-Jazeera »Entgegengesetzte Richtung«. Hier findet der Kampf zwischen zwei unversöhnlichen Lagern statt, der sich aus der Sicht der Teilnehmer oft zum Kampf zwischen Gut und Böse entwickelt, z. B. bei Themen wie »Die Araber und der Besitz von Atomwaffen«, »Die Krise in Libanon« und »Amerika und die Klassifizierung der Araber in Moderate und Extremisten«. Solche Sendungen stellen nicht nur den ständigen Nachschub an extremen Ansichten sicher, sie bieten auch einen gewissen Unterhaltungswert.

Transnationale arabische Medien erreichen Gemeinschaften, die durch Migration und Vertreibung in alle Winde zerstreut wurden, und können sie über Grenzen hinweg vereinen. Soziale und nationale Identitäten (Stadt und Land; Tunesier, Ägypter oder Kuwaiti etc.) verlieren an Bedeutung gegenüber dem Gefühl, an einem gemeinsamen politischen Projekt teilzunehmen und zu arbeiten. Wie dieses Projekt genau aussieht, ist umstritten, aber es ist arabisch und beschäftigt sich mit »arabischen« Problemen. In den arabischen Ländern und Diasporagemeinden betrachten sich die Zuschauer als Teilnehmer an einer permanenten politischen Debatte.

Die transnationale arabische Öffentlichkeit ist somit keine kosmopolitische Öffentlichkeit. Sie ermutigt sogar die Politik der Identitäten, da sie sich bewusst auf eine bereits existierende transnationale politische Gemeinschaft – die Araber – bezieht. Teilnehmer an Debatten sprechen die arabische politische Öffentlichkeit eben als arabische Öffentlichkeit an.

Dies zieht im Umkehrschluss nach sich, dass man sich als Gegenöffentlichkeit zur westlichen Hegemonie versteht. Bis zu den Ereignissen des 11. September wurden die Debatten in der arabischen Öffentlichkeit so geführt, als ob der so genannte Westen weder teilnimmt noch zuhört. Erst nach dem 11. September interagierte die »westliche« Öffentlichkeit mit dem arabischen Counterpart. Jedoch entwickelte sich daraus kein Dialog, sondern vielmehr eine Beziehung basierend auf Dominanz und Widerstand. Der Krieg gegen den Terror traf auch arabische Satellitensender und führte zum tiefgreifenden Vertrauensbruch zwischen dem Großteil der arabischen Medien und allen voran der US-Regierung. Nicht zuletzt angebliche US-Pläne zur Bombardierung des Sitzes von al-Jazeera in Katar vertieften den Bruch. Die arabischen Medien sahen und sehen sich immer noch den Vorwürfen ausgesetzt, Hass gegen die USA und dem »Westen« zu verbreiten, Terroristen sowie Islamisten eine Plattform zu bieten und für den Antiamerikanismus, der die arabische Welt nach 9/11 überschwemmte, verantwortlich zu sein. Vor allem al-Jazeera hält dagegen: Man müsse die Stimmung auf der Straße einfangen und wiedergeben. Alles, was politisch relevant sei, müsse zu Wort kommen, ob es den USA passe oder nicht. Der Antiamerikanismus ist in den letzten Jahren auch außerhalb der arabischsprachigen Region (auch in Europa!) gestiegen. Die Schuld einseitig arabischsprachigen Medien zuzuschreiben, würde die Existenz des Phänomens in anderen Sprachregionen nicht erklären. Allein aus diesem Grund können al-Jazeera und Co. kaum als Verursacher von Antiamerikanismus, als Verantwortliche für steigenden Hass und Extremismus, ausgemacht werden.

War on Terror vor Ort

Vor dem geschilderten Hintergrund debattiert eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure in der politischen arabischen Öffentlichkeit über den »war on terror«. Die Betroffenheit der Diskussionsteilnehmer als Araber oder Muslim sowie die gewaltsamen Veränderungen, die sich aus dem »Krieg gegen den Terrorismus« in ihrem Lebensumfeld ergeben, sind naturgemäß der Ausgangspunkt dieser Diskussionen. Im Unterschied zu den Menschen außerhalb der Region, hat der »Krieg gegen den Terrorismus« die regionalen Herrschaftsstrukturen im Nahen und Mittleren Osten nachhaltig verändert (Irak, Afghanistan, Aufstieg Irans zur Regionalmacht), lokale Konflikte überlagert (israelisch-palästinensischer Konflikt, Libanon) und die Einteilung politischer Akteure, sowohl innerhalb der politischen Systeme als auch auf der internationalen Bühne, neu konfiguriert (Extremisten vs. Moderate, Terroristen vs. Staat, Achse des Bösen etc.). Aufgrund dieser Betroffenheit der Diskutanten erscheinen die Diskussionen oft emotional, überhitzt und extrem.

Vier diskursive Zusammenhänge dominieren die Diskussionen um Terrorismus und Terrorismusbekämpfung in der arabischen Öffentlichkeit:

  • Arabische Medien berichten ausführlich über die neue Gesetzgebung im Rahmen der Terrorimusbekämpfung in Europa und den USA. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht der Umgang mit den jeweiligen muslimischen Minderheiten. Besonders dann, wenn Bürgerrechte zu Gunsten von Sicherheitserwägungen eingeschränkt werden und in der westlichen Öffentlichkeit wieder einmal ein »Generalverdacht« gegenüber Muslimen geschürt wird, ist die mediale Aufmerksamkeit sehr hoch. Während einer Folge der Sendung »Mehr als eine Meinung« auf al-Jazeera bedauerte ein islamischer Flüchtling in Großbritannien diese Entwicklung: „Das britische Rechtswesen war die Wirbelsäule Großbritanniens und hat das System und den Erfolg der Väter und Großväter des Vereinigten Königreichs getragen. Dafür haben wir die Briten respektiert und ihre Gesetze studiert. Es tut mir um die Entwicklung in Großbritannien leid.?
  • Sowohl arabische Regime als auch der »Westen« werden zunehmend als Kräfte wahrgenommen, die Terrorismusbekämpfung als Vorwand nutzen, um Demokratieförderung und Reformen auszusetzen. Demokratisierung, so die weit verbreitete Wahrnehmung, werde vom Westen nur dann verfolgt, wenn es den eigenen Interessen diene. Ist dem nicht der Fall, lasse der Westen hehre Ziele wie Demokratie und Menschenrechte im Namen des Kampfes gegen angebliche Terroristen fallen. Als Beispiel wird prominent die Blockade der von Hamas gebildeten Regierung oder auch aktuell das Gerichtsverfahren gegen Sadam Hussain angeführt. Ebenso müssen sich arabische Regime den Vorwurf gefallen lassen, unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Repressionen gegen Opposition und Zivilgesellschaft zu verschärfen, vor allem wenn sie islamistischer Prägung sind und eine Herausforderung für die eigene Herrschaft darstellen. Auch hier wird Terrorismusbekämpfung von weiten Teilen der politischen arabischen Öffentlichkeit als Instrument zur Festigung von autoritärer Herrschaft und Unterdrückung von Opposition interpretiert.
  • Die Beziehung zwischen Islam und Terrorismus hat ebenfalls ihren Platz in den öffentlichen politischen Diskussionen. Terrorismus wird allgemein verurteilt. Jedoch ist die große Frage, was eigentlich Terrorismus ist, der Punkt, an dem sich auch in der arabischen Öffentlichkeit die Geister scheiden. Sind palästinensische Selbstmordattentäter, Hizbullahkämpfer und irakische Rebellen Terroristen oder Widerstandskämpfer gegen Besatzung und ausländische Bedrohungen? Während in den westlichen Öffentlichkeiten das Wort »Islamist« überwiegend als eine Bezeichnung für einen Terroristen muslimischen Glaubens verstanden wird – oft verdeutlicht durch Adjektive wie extremistisch oder radikal, so wird in der arabischen Öffentlichkeit weiter differenziert und zunehmend nach den Wurzeln von Terrorismus, z.B. sozio-ökonomische und psychologische Faktoren oder äußere Einflüsse wie Imperialismus, gefragt.
  • Der »Krieg gegen den Terror« hat sich unbemerkt aber mit aller Wucht in lokale Konflikte in der Region übertragen oder ist, wie im Irak, selbst zum Auslöser eines neuen Krisenherdes geworden. Anders als das nicht-arabische Publikum ist die arabische Öffentlichkeit direkt im täglichen Leben vom »Krieg gegen den Terror« betroffen bzw. fühlt sich als »Araber« oder »Muslim« als Teil der betroffenen Gemeinschaft. In lokalen gewalttätigen Auseinandersetzungen, wie dem israelisch-palästinensischen Konflikt, oder in Irak, wird die Legitmität des eigenen Handelns aus der jeweils als terroristisch oder illigitim wahrgenommenen Gewalt der Gegenseite abgeleitet. Die israelische Politik – mit den gezielten Tötungen, der Zerstörung von Häusern und der Enteignung von Ländereien – wird in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit als Staatsterrorismus bezeichnet. Hamas oder auch Hizbullah gelten demgegenüber überwiegend als gewählte politische Akteure. Selbst ihre arabischen politischen Gegner begegnen ihnen zumindest in der Öffentlichkeit nicht mit dem Terrorismusvorwurf. Dass sie in der Matrix des »war on terror« im »Westen« auf der Seite terroristischer Kräfte verbucht werden, stößt in der arabischen Öffentlichkeit auf Unverständnis.

Ausgestrahlte Videos mit Botschaften von Terroristen, mit verängstigten, flehenden Geiseln und Aufnahmen von Morden an unschuldigen Zivilisten haben heftige Reaktionen im »Westen« ausgelöst. Der Vorwurf wendet sich vor allem an al-Jazeera. Der Sender strahlt trotzdem weiterhin Videos von al-Qa’ida und anderen jihadistischen Gruppen aus, wenn auch selektiver als zuvor; Tötungen und Leichen, die auf solchen Videos zu sehen sind, werden nicht gezeigt. Al-Jazeera zufolge wird sogar die große Mehrheit der Videos, die beim Sender ankommen, nicht gesendet. In der arabischen Öffentlichkeit wird die Veröffentlichung der Videos im Gegensatz zu den westlichen Öffentlichkeiten kaum kontrovers diskutiert. Al-Qa’ida beeinflusst aus arabischer Sicht die Geschicke der Region. Daher haben z.B. Videonachrichten vom zweiten Mann al-Qa’idas, Aiman al-Zawahiri, einen eigenen Nachrichtenwert. Während der Inhalt der Nachrichten durchaus sehr kontrovers diskutiert und kritisch kommentiert wird, befürwortet nur eine Minderheit ein Verbot der Ausstrahlung solcher Nachrichten.

Von Rebellen, Märtyrern oder Terroristen

Die Wortwahl entscheidet in den Medien über die Legitimität einer politischen Aktion, auch wenn dazu der Einsatz von Gewalt gehört. In der Berichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt bezeichnet al-Jazeera fast ausnahmslos alle getöteten Palästinenser, sowohl Kämpfer als auch Zivilisten, als »Märtyrer« (arab. shahid). Entsprechende Nachrichten werden in der Regel mit „x Palästinenser starben heute den Märtyrertod (arab. ustushhida)“ eingeleitet. Der Begriff wird ebenso, wenn auch weniger konsequent, für palästinensische Selbstmordattentäter verwendet. Der Ausdruck »den Märtyrertod erleiden« bleibt auf al-Jazeera im irakischen oder afghanischen Kontext Zivilisten vorbehalten. Kämpfer werden als Kämpfer oder Rebellen, seltener als Mitglieder des Widerstands bezeichnet.

Der größte Konkurrent al-Jazeeras, der Nachrichtensender al-Arabiya, versucht, Begriffe wie Märtyrer und Terrorist weitgehend zu vermeiden. Al-Arabiya definiert sich im Kampf um Marktanteile als moderate Alternative zu al-Jazeera, die mehr als der Konkurrent der Objektivität verpflichtet sei. Viele leiten daraus eine größere Nähe zum »Westen« ab. So benutzt al-Arabiya z.B. oft ohne Hinterfragung den Begriff Terrorismus. Demgegenüber hört man auf al-Jazeera grundsätzlich nur „der so genannte Terrorismus“ oder „so genannte Terroristen“.

Für das westliche Publikum erscheinen Diskussionsrunden absurd, in denen Islamisten und Nicht-Islamisten über Themen wie Reform, Demokratie und Terrorismus streiten. Was soll ein Islamist, der per se als potenzieller Terrorist gilt, zu Demokratie und Terrorismus schon zu sagen haben? Ein Beispiel aus der Diskussionssendung »Offener Dialog« auf al-Jazeera vom Februar 2005 zeigt exemplarisch und in fast idealtypischer Weise, wie auch in der arabischen Öffentlichkeit Akteure dem Zwang ausgesetzt sind, sich als wahre Muslime darzustellen und sich gleichzeitig von Gewalt und Terrorismus abzugrenzen. An der Diskussion nahmen Abdullah al-Nibari, ehemaliger Abgeordneter im kuwaitischen Parlament, und Abd al-Mun’im Abu Fatuh, Mitglied des Leitungsbüros der ägyptischen Muslimbrüder, teil.

Im Laufe der Diskussion argumentierte al-Nibari, dass der moderate politische Islam, also auch die Muslimbrüder, zwar nicht mit den radikalen islamischen Fundamentalisten gleichgesetzt werden könne, er habe aber indirekt den Nährboden für den islamischen Fundamentalismus bereitet. In einigen Staaten wie Ägypten und Kuwait seien quasi Bündnisse zwischen moderaten Islamisten und den Regierungen entstanden. Die moderaten Islamisten erhielten Zugang zu Parlamenten und priviligierten Positionen in der Verwaltung. Diese Bündnisse erleichterten dadurch die Verbreitung islamisch-politischen Gedankenguts, vor dessen Hintergrund fundamentalistische Bewegungen – als Abspaltungen von den moderaten Bewegungen – ihre radikalen Agenden entwickelten.

Abu Fatuh entgegnete, dass Korruption und der Mangel an Freiheit sowie Demokratie die wahren Gründe für Gewalt sind. Die wachsende Armut führe angesichts einer sich selbst bereichernden privilegierten Schicht zu Gewalt. Laizisten sähten das Gerücht, dass die Muslimbrüder fundamentalistische Strömungen hervor gebracht hätten. Extremismus und Fundamentalismus seien aber keine religiösen Prinzipien. Die Muslimbrüder seien ein durch die Bevölkerung legitimierter Teil der politischen Szene in vielen arabischen Ländern. Auf Irak bezogen betonen beide, dass „Köpfe abschlagen, Zivilisten nieder metzeln und lebensnotwendige wirtschaftliche Organisationen zu zerschlagen kein Widerstand ist.“ Wenn diese Aktionen auf das amerikanische Militär beschränkt wären, dann könne man dies Widerstand nennen.

Obwohl das Thema der Sendung explizit der Kampf gegen den Terrorismus war, tat sich während der Diskussion ein wahres Bouquet an Themen auf: Reformen, Demokratie, Islam, Korruption, Armut, Widerstand gegen Besatzungen, Gewalt, Laizismus und die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit.

Jede Diskussion zum »war on terror« zieht, wie die von mir skizzierten vier diskursiven Felder zeigen, eine Fülle von grundlegenden Fragen des Zusammenlebens, des Allgemeinwohls und des zu erstrebenden politischen Systems nach sich. Dies ist ein Indiz, dass sich die arabische Öffentlichkeit in einem tiefgreifenden Prozess des Wandels in allen Lebensbereichen wähnt, wovon der Krieg gegen den Terrorismus ein zentraler Teilaspekt ist. Da alle bereits durchlebten Experimente wie etwa Panarabismus, Monarchien und sozialistische Republiken als gescheitert gelten, dominieren Fragen nach der erstrebenswerten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verfasstheit der Gemeinwesen und die Abrechnung mit der gegenwärtigen Lage auch die Diskussionen über Terrorismus und den »war on terror«.

Anmerkungen

1) Al-Manar: Libanesischer Satellitensender der Hizbullah, der in Europa durch die Diskussion um eine Fernsehserie auf der Grundlage des antisemitischen Buchs »Die Protokolle der Weisen von Zion« bekannt wurde.

2) Aussage eines Teilnehmers an der Sendung »Kulissen« auf al-Jazeera im April 2006 zum Thema »Verbot von al-Manar«.

3) Iqraa bedeutet übersetzt „Lies!“ oder „Rezitiere!“. „Iqraa“ ist Aufforderung Gottes an den Propheten Muhammad, der damit aufgefordert wird, die göttliche Offenbarung zu verbreiten. Neben religiösen Programmen mit Koranauslegungen sowie Lebensberatung dominieren vor allem Familiensendungen und Dokumentationen das Programm des Senders.

Carmen Becker ist Politologin mit Schwerpunkt auf dem arabischsprachigen Raum. Bis vor kurzem war sie im Auswärtigen Amt für die Analyse arabischsprachiger Medien zuständig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/1 Terrorismus - Ursachen und Folgen, Seite